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GEWERKSCHAFT/771: Interview mit Dr. Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied der IG Metall (spw)


spw - Ausgabe 1/2013 - Heft 194
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Das politische Mandat der Gewerkschaften muss ein europapolitisches werden
Interview mit Hans-Jürgen Urban

Die Fragen stellte Kai Burmeister



SPW: Der Boom nach der Krise 2008 nähert sich seinem Ende. Die Wachstumsprognosen für 2013 liegen in der Regel unter einem Prozent. Ein guter Zeitpunkt für eine Zwischenbilanz. Wie siehst du die Krisenpolitik der Gewerkschaften in Europa?

Urban: Meine Zwischenbilanz fällt widersprüchlich aus. In vielen Ländern hatte der Wachstumseinbruch einen entsprechenden Beschäftigungseinbruch zur Folge. Das hat die Defensive der Gewerkschaften, die bereits vor der Krise begonnen hatte, weiter verschärft. In der Folge sanken die Reallöhne und Sozialeinkommen, viele Gewerkschaften wurden weiter geschwächt.


SPW: Und welche Bilanz würdest du mit Blick auf die deutschen Gewerkschaften ziehen?

Urban: Ausgerechnet in der tiefsten Krise seit Ende der 1920er Jahre häuften sich die Schlagzeilen über ein Comeback der Gewerkschaften. Dafür gab es durchaus Anhaltspunkte. Die Krisenantwort der deutschen Gewerkschaften kann ansehnliche Erfolge vorweisen. Der tripartistische Sozialpakt in Deutschland gilt als besonders erfolgreich. Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, konnten durch ihr Engagement für eine "Abwrackprämie" und bessere Kurzarbeitsregeln maßgeblich zur Stabilisierung von Branchen und Beschäftigung und damit zum "deutschen Arbeitsmarktwunder" beitragen. Das waren ansehnliche und keineswegs selbstverständliche Defensiverfolge.


SPW: Und wer hat davon profitiert?

Urban: Als Folge stieg das Ansehen der Gewerkschaften bei den politischen und medialen Eliten, und nicht zuletzt stieg das Selbstbewusstsein von Betriebsräten und gewerkschaftlichen Vertrauensleuten. Vor allem die Betriebsräte haben sich als effektive Krisenmanager erwiesen. Oftmals reagierten sie schneller und erfolgreicher als die Vorstände. Das war schon beeindruckend.


SPW: Das klingt doch sehr positiv. Sind Beschäftigte, Betriebsräte und Gewerkschaften in Deutschland also als Gewinner aus der Krise hervorgegangen?

Urban: Langsam. Neben den Erfolgen sind auch die Kosten in die Krisenbilanz einzubeziehen. Die Gefahr einer großdimensionierten Beschäftigungskatastrophe konnte abgewehrt werden, aber auch in Deutschland sind tausende Arbeitsplätze verloren gegangen. Zwischen 2007 und 2010 ging die Beschäftigung in der Metall- und Elektroindustrie um etwa 250.000 zurück. Dieser Arbeitsplatzabbau fand auch in den Stammbelegschaften, vor allem aber im Segment prekärer Beschäftigung statt. Vielfach zählten Leiharbeiter und befristet Beschäftigte zu den ersten Opfern der Krise.

Zugleich haben alle Gewerkschaften in der Akutphase der Krise verteilungspolitische Zugeständnisse machen müssen. Bei anstehenden Tarifrunden, aber oftmals auch bei der betrieblichen Beschäftigungssicherung. Die Kurzarbeit etwa wurde nicht nur durch Arbeitgeber und Bundesagentur für Arbeit, sondern vor allem auch von den Betroffenen durch Einkommenseinbußen finanziert - das wird oftmals vergessen.


SPW: Du hast im Zusammenhang mit der Politik der Gewerkschaften von einem Krisenkorporatismus gesprochen. Verbirgt sich dahinter die Kritik, dass die Sicherung der Arbeitsplätze im Bündnis und nicht im Konflikt mit Regierung und Kapital vollzogen wurde?

Urban: Der Begriff des Krisenkorporatismus ist erst einmal ein analytischer und kein normativer. Er versucht das tripartistische Krisenbündnis zwischen Arbeit, Kapital und Staat in die korporatistische Tradition in Deutschland und die wissenschaftliche Korporatismus-Debatte einzuordnen. Dabei will er Gemeinsamkeiten, vor allem aber Unterschiede zum Sozial-Korporatismus der sozialdemokratischen Ära und zum Wettbewerbs-Korporatismus in Folge von Europäisierung und Globalisierung herausarbeiten.


SPW: Und welche Unterschiede siehst du?

Urban: Wichtig ist: Die neuen Sozialpakte konnten an Traditionen und Restbestände sozialpartnerschaftlicher Politik in Deutschland anknüpfen, sind aber vor allem Kinder der Krise des Finanzmarktkapitalismus. Sie sind unter den Bedingungen einer gigantischen Schockkrise entstanden. In vielen Betrieben sind Aufträge, Produktion und Umsätze binnen kürzester Zeit in bisher unbekanntem Maße eingebrochen. In diesen Betrieben hat die Wucht des Krisenschocks Vorstände wie Interessenvertretungen an die Wand gedrückt. Und auch der Staat reagierte aufgrund der Dimension der Krise aus einer eklatanten Defensive. Vielfach überforderten die Krisenbekämpfung, also vor allem die Rettung der Finanzmarktakteure und die Stabilisierung der Konjunktur, die Kapazitäten der Staaten. In dieser Überforderung liegt ja die Ursache der sprunghaft angestiegenen Staatsschulden.

Da Realkapital, Staat und Gewerkschaften in der Akutphase der Krise geschwächt und gleichermaßen in eine Defensivposition abgedrängt wurden, habe ich im Anschluss an internationale Forschungsergebnisse auch von einem "Korporatismus der Schwachen" gesprochen.


SPW: Hat sich denn an der renditegetriebenen Unternehmenssteuerung nach der Krise etwas verändert, schließlich war der Finanzmarktkapitalismus doch zumindest ideologisch in die Defensive geraten?

Urban: Sicherlich gab es in der öffentlichen Debatte eine zunehmende Kritik an der Shareholder-Value-Orientierung. Am Grundsatz einer Marksteuerung oder indirekten Unternehmenssteuerung anhand von vorgegebenen Kennziffern, die den Druck direkt an die Beschäftigten weiter gibt, hat sich hingegen nichts geändert. Eine Verabschiedung von der Kurzfristökonomie in Richtung einer nachhaltigen Unternehmenspolitik ist immer noch nicht sichtbar.


SPW: Hätten sich die Gewerkschaften denn verweigern sollen, wie mitunter aus dem Kreis linker Gewerkschaftskritiker gefordert wurde?

Urban: Ob eine Korporatismusverweigerung bessere Resultate gebracht hätte, kann nicht zuletzt mit Blick auf Entwicklungen in anderen Ländern bezweifelt werden. Mitunter waren und sind Konfrontationsstrategien und Militanz eher Ausdruck gewerkschaftlicher Schwäche als von Kraft. Auch unter den Bedingungen einer kapitalistischen Schockkrise setzt die Einbindung von Gewerkschaften in korporatistische Bündnisse ein Mindestmaß an Mobilisierungs- und Verhandlungsmacht voraus. Geschwächte Gewerkschaften ohne Vetomacht werden nicht integriert, sondern marginalisiert. Und gerade das fand ja in vielen Ländern Europas statt. Also: Nur auf der Grundlage ausgebauter Organisationsmacht haben die Gewerkschaften eine reale strategische Wahl zwischen Kooperation oder Konfrontation; und diese Wahl muss nicht ideologisch, sondern verhandlungstaktisch entschieden werden.


SPW: Und was bedeutet es für die Zukunft, dass der Krisen-Korporatismus durchaus Erfolge vorzuweisen hat? Würdest du empfehlen, die Sozialpakte fortzuführen, sie eventuell sogar durch eine neu "Konzertierte Aktion" zu institutionalisieren?

Urban: Die Erfahrungen zeigen, dass über die Dauer von Sozialpakten letztlich meist Regierungen und Arbeitgeberverbände entscheiden. Ich bin eher skeptisch, ob die Arbeitgeber in der vermutlich anstehenden Stagnationsphase zu sozialpartnerschaftlichen Abmachungen und die Regierung nach der Bundestagswahl 2013 zu entsprechenden Zugeständnissen bereit sein werden. Ob sich die verteilungs- und arbeitspolitischen Projekte, denen sich die Gewerkschaften zuwenden müssen, als korporatismuskompatibel erweisen oder ob ihre Konfliktpotenziale zu groß sind, wird sich zeigen.


SPW: Und welche Projekte sind das?

Urban: Wenn eine hinreichende Organisationsmacht notwendig ist, um den Gewerkschaften in konkreten Situationen eine strategische Wahl zwischen Kooperation und Konfrontation zu eröffnen, dann müssen sie ihre Hausaufgaben machen. Das heißt: Organisationsgrade in ihren Stammsektoren erhöhen, die neuen Schlüsselsektoren der Dienstleistungs- und Kommunikationswirtschaft organisieren und ihre Organisationen professionalisieren. Ohne eine Stärkung der Mitgliederbasis und zeitgemäße Organisationsstrukturen werden Erfolge in der Beschäftigungs-, Betriebs- und Verteilungspolitik ausbleiben.


SPW: Und welche Aufgaben sollten in diesen Politikfeldern mit Priorität angepackt werden?

Urban: Kommt es erneut zur massenhaften Gefährdung von Beschäftigung, wird die Sicherung von Arbeitsplätzen Priorität erhalten. Gegenwärtig machen wir Druck auf die Bundesregierung, um rechtzeitig die notwendigen arbeitsmarktpolitischen Instrumente zu erhalten. Immer dringlicher wird allerdings auch die Korrektur der Einkommensumverteilung der letzten Jahre zulasten der Löhne. Das erfordert entsprechende Tarifabschlüsse, aber vor allem die Stabilisierung des Tarifsystems und die Bekämpfung von Niedriglöhnen und prekärer Beschäftigung. Hier geht es um gesetzliche Mindestlöhne und die Ausweitung der Tarifverträge auf bisher ungeschützte Arbeit. Das wäre gut für die Binnenkonjunktur in Deutschland, aber es würde auch den wirtschaftlichen Ungleichgewichten zwischen den Euro-Staaten entgegenwirken, die ja zweifelsohne eine Ursache für die Euro-Krise sind.

Schließlich geht es um die soziale Regulierung der Arbeitsbedingungen Älterer und des Übergangs in die Rente. Hier hat die IG Metall mit ihrer Kampagne "Gute Arbeit - Gut in Rente" konkrete Vorschläge vorgelegt.


SPW: Existiert beim Thema Arbeitsgestaltung nicht überhaupt ein erheblicher Problemdruck?

Urban: Völlig richtig. Der unerbittliche Wettbewerbsdruck und neue Strategien systemischer Rationalisierung haben Leistungsdruck und Arbeitshetze enorm erhöht. Ein Stichwort lautet: Ganzheitliche Produktionssysteme. Mitunter wurde auch die Krise missbraucht, um Leistungsstandards anzuheben. In vielen Unternehmen ist das Maß des Zumutbaren längst überschritten. Der Anstieg von psychischen Erkrankungen ist ja nur ein Indikator dafür.

Die IG Metall setzt mit ihrer Initiative für eine "Anti-Stress-Verordnung" und gesundheitsverträgliche Arbeitsgestaltung genau hier an. Denn: Die permanente, wettbewerbsgetriebene Produktivitätssteigerung zu Lasten der Beschäftigten kann so nicht weitergehen! Hier existieren im Grunde zwei strategische Optionen: entweder eine produktivitätspolitische Mäßigung oder die Umwidmung von Produktivitätszuwächsen in gesundheitsverträgliche Arbeitsgestaltung. Hier geht's ans Eingemachte, an den Kern des deutschen Wettbewerbsmodells. Dennoch: die Gewerkschaften dürfen sich hier nicht drücken.


SPW: Zum Schluss: Du hast viele Zukunftsaufgaben benannt, aber bisher kein Wort zu Europa gesagt? Für dich eine nachrangiges Thema?

Urban: Das Gegenteil ist der Fall. Hier klafft eine kilometerweite Lücke zwischen den Anforderungen und der bisherigen Gewerkschaftspolitik. Europa befindet sich auf einem Irrweg. Mit der neoliberalen Austeritätspolitik würgt es europaweit die Wertschöpfung ab und untergräbt damit die Grundlage eines nachhaltigen Schuldenabbaus. Und die "Troika" aus EU-Kommission, EuropäischerZentralbank und Internationalem Währungsfonds zwingt die Schuldenstaaten zu schwachsinnigen Privatisierungen, armutstreibendem Sozialabbau und Einschränkung von Arbeits- und Gewerkschaftsrechten - ohne die notwendige demokratische Legitimation! Die Folge: Wohlfahrtsstaaten und Demokratie geraten unter die Räder und die Finanzmarktakteure werden geschützt und zocken weiter.


SPW: Und was wären solidarische Alternativen?

Urban: Europa braucht einen Pfadwechsel - um 180 Grad! In einem Aufruf von Gewerkschaftern und Wissenschaftlern unter dem Titel "Europa neu begründen" sind Eckpunkte eines solchen Fahrplans skizziert worden.(1) Vor allem aber darf das finanzkapitalistische Besitz- und Machtmodell nicht weiter zur Tabuzone verklärt werden. Ohne die Entmachtung der Finanzmärkte verendet die Demokratie in Europa. Dazu muss die Abhängigkeit der Politik von den amerikanischen Ratingagenturen gebrochen werden; und zumindest die systemrelevanten Banken, die mit öffentlichen Mitteln gerettet wurden, müssen dauerhaft in öffentliches Eigentum überführt werden. Und eine solidarische Finanzierung der Krisenpolitik erzwingt den umfassenden steuerlichen Zugriff auf hohe Einkommen und große Vermögensbestände und damit auf die Verteilungsinteressen der Finanzeliten. Das mag nicht marktkonform sein, aber als neoliberaler Finanzmarkt-Kapitalismus fährt Europa vor die Wand. Die gewerkschaftliche Mobilisierung für einen solchen Pfadwechsel ist bisher eher kläglich. Ihr politisches Mandat muss ein europapolitisches Mandat werden. Ohne Kapitalismuskritik kein solidarisches Europa. Und ohne ein solidarisches Europa keine gute Zukunft für die Gewerkschaften!

(1) Siehe dazu http://www.europa-neu-begruenden.de/


Dr. Hans-Jürgen Urban ist geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 1/2013, Heft 194, Seite 10-13
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. März 2013