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GEWERKSCHAFT/990: Konformismus, Korporatismus und / oder Systemkritik (spw)


spw - Ausgabe 2/2014 - Heft 201
Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft

Konformismus, Korporatismus und / oder Systemkritik - Perspektiven von Beschäftigten

von Ingo Matuschek



Bereits vor Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise galten Kontinuität hinsichtlich der den Gewerkschaften eigenen Werte (grundlegend die Trias Freiheit, soziale Gerechtigkeit und Solidarität) bei Flexibilität der mittelfristigen wie tagesaktuellen Ziele und der zu wählenden Instrumente als geeignete Strategie, um gewerkschaftliche Arbeit unter den Bedingungen zunehmender Teilzeit- und Leiharbeit, prekären wie pluralisierten Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen und veränderter Tariflandschaft etc. auszurichten (vgl. Arlt et al. 2007). Zu jener Zeit wurde eine Defensivlage der Gewerkschaften konstatiert (für den Bereich der IGM vgl. Ehlscheid / Urban 2007), die sich zu einer veritablen Schwächung der industriellen Beziehungen insgesamt ausgeweitet hatte, weil auch auf Seiten der Arbeitgeber gleichlaufende Entwicklungen und institutionelle Veränderungen zu verzeichnen waren. Die Gewerkschaften hatten an Einfluss verloren (vgl. Lim 2003), was ihrer Zielsetzung auf mitgliederbezogene Interessenpolitik wie universellem arbeitspolitischem Anspruch zuwiderlief. Mit der Krise eröffnete sich die Gelegenheit, den eigenen Einfluss zu stärken - in einer tripartistisch angelegten Interventionspolitik, zu der Abwrackprämie wie Kurzarbeiterregelung gehörten, war gewerkschaftliche Zustimmung unverzichtbar und die Instrumente entsprachen den Vorstellungen von gesicherten Arbeitsplätzen und Einkommen (Eichhorst / Weishaupt 2013). Den Stammbelegschaften, insbesondere aber den prekär Beschäftigten wurde Einiges abverlangt. Erstere verzeichneten Lohneinbußen, Letztere wurden freigesetzt.(1) Der Krisen-Korporatismus wird dennoch als Erfolg der Sozialpartner verbucht (Eichhorst / Weishaupt). Systemkritik am offenkundigen Versagen des Finanzmarktkapitalismus hatte darin allerdings keinen Platz (Urban 2013). Das ist zugleich der Kern der Auseinandersetzungen um eine Renaissance des Korporatismus und die Rolle der Gewerkschaften: wirkmächtige Alternative zum System oder Steigbügelhalter des Finanzmarktkapitalismus zu sein. In diesem Zusammenhang verspricht der Blick auf die Orientierungen der Beschäftigten empirische Einsichten in die von ihnen gestellten Anforderungen an die Gewerkschaftsarbeit im Spannungsfeld von Wertegebundenheit und Flexibilität. Im Folgenden werden dazu Daten aus einer Befragung vorgestellt, die Mitte 2010 bzw. im Frühjahr 2011 unter den Beschäftigten eines Automobilunternehmens durchgeführt wurde.(2) Dabei werden Einstellungen von Produktions- und Verwaltungsmitarbeitern präsentiert, die auf die Kriseninterventionen fokussieren, Perspektiven auf die Gesellschaft thematisieren und den Stellenwert der Gewerkschaften in diesen Handlungsfeldern verdeutlichen.

Zur Einschätzung der Kriseninterventionen

Generell besteht eine hohe Einsicht in die Notwendigkeit flexibler Arbeit - nur muss sie sich auszahlen und nicht die Substanz von Unternehmen und Beschäftigten gefährden. So stimmen bei allgemein hoher persönlicher Flexibilitätsbereitschaft 70 Prozent der Produktionsmitarbeiter und 80 Prozent der Verwaltungsmitarbeiter der Einschätzung zu, dass "jeder Betrieb ohne Flexibilität schnell am Ende wäre"; dass Flexibilität "ein Geben und Nehmen sein sollte" (Produktion: 84 Prozent, Sachbearbeiter 92 Prozent) und dass "hohe Flexibilität auch eine bessere Bezahlung" nach sich ziehen sollte (88 Prozent bzw. 74 Prozent bei jeweils 4 Prozent Ablehnung der Aussage). Allerdings wird von jeweils etwa drei Vierteln beklagt, dass schon vor der Krise bis zur Belastungsgrenze gearbeitet wurde. Vor diesem Hintergrund akzeptieren die Beschäftigten Maßnahmen der Krisenintervention und nehmen dabei den Anteil der beteiligten Akteure differenziert wahr (vgl. Tab. 1):

Tabelle 1: (Betriebliche) Akteure der Krisenbewältigung



Dass auf jeder Ebene des betrieblichen Entscheidungsprozesses gut gearbeitet wurde, konstatiert fast die Hälfte der Produktionsmitarbeiter, weitere 30 Prozent stimmen teilweise zu. Auch von den Sachbearbeitern zeigen sich nur 14 Prozent ablehnend. Der lokale Betriebsrat wird in seinem Bemühen, Arbeitsplätze zu erhalten, überwiegend gut benotet und selbst dem Management wird mehrheitlich bescheinigt, sicher durch die Krise geführt zu haben - wenn auch von den Produktionsmitarbeitern deutlich zurückhaltender. In der Wahrnehmung des Wissensvorsprungs der Vertrauensleute steckt eine deutliche Kritik an der (betrieblichen) Informationspolitik der Gewerkschaft. Und die Fundamentalkritik des "sich über den Tisch ziehen lassen" wird von 28 Prozent der Produktionsbeschäftigten geteilt (teils-teils von weiteren 35 Prozent) bzw. wenigen 12 Prozent (plus teils-teils 22 Prozent) der Verwaltung. Dennoch wird von der Hälfte der Produktionsmitarbeiter und von drei Fünfteln der Verwaltungsmitarbeiter bilanziert, dass die Zusammenarbeit von IG Metall und Gewerkschaft in der Krise sehr geholfen hat.

Mit dem Krisenhandeln von Gewerkschaft und Betriebsrat zeigen sich die Befragten überwiegend zufrieden. Begutachtet werden dabei das konkrete Ergebnis (z.B. der sichere Arbeitsplatz für die Stammbelegschaft) sowie die Prozesse der Krisenintervention und das Handeln der Akteure selbst. Dabei changiert das Urteil zwischen der Anerkennung der Risikoabwehr und dem Wunsch nach einem offensiveren Auftreten mit mutmaßlichem Gestaltungspotenzial. Das verweist auf eine Lücke zwischen den bewertbaren Einsichten in Ergebnisse des Handelns und den Umständen des Handelns der Interessenvertreter selbst. Daran - und weniger am korporatistischen Handeln selbst - entzündet sich die geäußerte Kritik. Krisenkorporatismus braucht demzufolge prozessbezogen offene (betriebliche wie politische) Arenen.

Zur Gesellschaftsperspektive und zur Bedeutung von Gewerkschaften

Die Einstellung zum Korporatismus dürfte u.a. auf dem allgemeinen Gesellschaftsbild der Befragten gründen (vgl. Tab. 2):

Tabelle 2: Statement zu Gesellschaft und Wirtschaftsentwicklung



Anhand der aufgeführten und weiterer Kriterien lassen sich die Beschäftigten in vier Gruppen wirtschafts- und gesellschaftspolitischer Kritik ausdifferenzieren: Demzufolge bilden "Affirmative" 30 Prozent (bei Abweichungen im Konstrukt Sachbearbeiter: 36 Prozent) "Wettbewerbskorporatisten" 27 Prozent (Sachbearbeiter: 20 Prozent), "Wettbewerbsindividualisten" 25 Prozent (Sachbearbeiter: 22 Prozent) und "Systemkritiker" 18 Prozent (Sachbearbeiter: 26 Prozent) u.a. differente Gesellschaftskritiken, unterschiedliche Lösungsansätze sowie verschiedene Solidaritätsnormen aus und stehen Gewerkschaften unterschiedlich nah. Bereits die oben abgebildeten Grunddaten zeigen: Die Beschäftigten hegen kein großes Vertrauen in den Bestand der heutigen Wirtschaftsweise. Nur ein gutes Zehntel der Produktionsmitarbeiter blickt diesbezüglich positiv in die Zukunft, unter den Sachbearbeitern ist es ein Viertel. Eindeutig ist auch das Gespür dafür, dass die Interessen der Arbeitnehmer immer weniger berücksichtigt werden: Für neun Zehntel ist dies die gängige oder gelegentliche Erfahrung. Dafür wird zu einem guten Teil die internationale Standortkonkurrenz verantwortlich gemacht. Nahezu alle sehen sich dadurch zumindest teilweise unter wachsenden Druck gestellt. Gleichzeitig gilt: Den Wohlstand nur durch eine Spitzenstellung des Wirtschaftsstandortes sichern zu können, ist den in der Produktion beschäftigten Befragten ebenso klares Wissen wie den Sachbearbeitern, die sich darin noch sicherer sind. Fast drei Viertel der Produktionsmitarbeiter sind eher oder voll und ganz der Ansicht, dass Wohlstand in Deutschland gerechter verteilt werden könnte, hinzu kommen 22 Prozent, die das teilweise als gegeben ansehen. Sachbearbeiter stimmen dem Statement weniger deutlich zu, aber nur ein Zehntel lehnt die Aussage rundum ab. Dass Kritik am kapitalistischen System wenig zielführend sei, da die Spielregeln zu akzeptieren sind, ist als Aussage umstritten und wird von den Sachbearbeitern noch kritischer gesehen als von den Produktionsmitarbeitern.

Es finden sich verbreitete Befürchtungen um die Folgen eines forcierten Wettbewerbs, der Arbeitnehmer in Standortkonkurrenzen drückt und sie zugleich zwingt, daran teilzunehmen, um den erreichten Wohlstand zu halten. Dabei ist die Ahnung virulent, dass sich das System so schnell nicht verabschieden wird und grundlegende Kritik wenig bewirke. Das zeugt von politischer Lähmung - allerdings wird die Sinnhaftigkeit von Systemkritik von rund einem Viertel bzw. einem Drittel der Befragten betont, worin mögliche Mobilisierungspotenziale schlummern. Immerhin werden - so konkrete wie gleichzeitig grundsätzliche - Probleme der Verteilungsgerechtigkeit von vielen kritisch bilanziert. Im Hinblick auf korporatistische Politik spricht dies dafür, sowohl interessengeleitete Politik abzusichern als auch systemkritische Perspektiven zu thematisieren, oder kurz: das Eine zu tun, ohne das andere zu lassen.

Der Erfolg dürfte auch durch die Bedeutung moderiert werden, die die Beschäftigten den Gewerkschaften zuweisen und wie sie ihr Handeln bewerten (vgl. Tab. 3):

Tabelle 3: Blick auf Gewerkschaft



Gewerkschaften sind in der Perspektive fast aller Befragten eine (partiell) wichtige gesellschaftliche Einrichtung und notwendige Gegenmacht gegenüber Kapital- und Finanzmarktinteressen. Ihr Einblick in betriebliche Probleme wird dagegen ambivalent beurteilt. Die Mitarbeiter in der Verwaltung sind weniger skeptisch als die Produktionsmitarbeiter. Konstatiert wird allgemein, dass die IG Metall vorausschauend handelt; nur jeweils rund 10 Prozent vertreten die gegenteilige Meinung. Ähnlich urteilen Produktionsmitarbeiter auch im Hinblick auf die Repräsentation der Belegschaft durch die IG Metall, während das Urteil bei den Sachbearbeitern verhaltener und ambivalenter ausfällt. Der Zusammenarbeit von Gewerkschaft und Betriebsrat werden gute Noten bescheinigt. Sachbearbeiter urteilen hier noch deutlich positiver als die Beschäftigten in der Produktion. Durch die richtigen Leute vertreten sieht sich eine jeweils große Gruppe, eine je noch etwas größere sieht das in Teilen gegeben. Das dürfte nicht zuletzt an der im Betrieb sichtbaren engen Kooperation zwischen Betriebsrat und IG Metall liegen. Insgesamt werden Gewerkschaften als bedeutende gesellschaftliche Vertreterinnen der Interessen der Arbeitenden in Zeiten finanzkapitalistisch dominierter Gesellschaften wahrgenommen, deren (lokaler) Auftritt im Wesentlichen in der Regel mehr als befriedigend ist.

Die Präferenzen für unmittelbare Strategien der Arbeitsplatz- und Einkommenssicherung wie die mittelbaren Orientierungen auf grundlegende Alternativen erzeugen ein (altbekanntes) korporatistisches Dilemma. Dabei ist im Kern keiner Position ihre Berechtigung abzusprechen. Gewerkschaftsarbeit muss damit als zwischen diesen Positionen vermittelnd konzipiert sein, was eine Integrationsleistung eigener Art darstellt. Zwischen möglicher Funktionalisierung organisierter Interessen im Korporatismus und dem systemoppositionellen Aufzeigen alternativer Wege dürfte eine ganze Bandbreite sich überschneidender Vorstellungen liegen. Letztendlich wägen auch Affirmative, Wettbewerbskorporatisten und -individualisten wie Systemkritiker diesen Spagat in einer offensichtlichen Kontinuität gewerkschaftlicher Werte tagtäglich angesichts ihrer konkreten Bedingungen ab und entwickeln daran zwischen Konformismus, Korporatismus und Systemkritik ihre individuellen - je weder kritiklosen noch realitätsfernen - situativen Strategien wie ihre Erwartungen an das gewerkschaftliche Handeln.


Dr. Ingo Matuschek ist Lehrbeauftragter am Institut für Soziologie der Universität Jena.



Anmerkungen

(1) Was sich wie eine dem Universalitätsanspruch entgegenstehende Orientierung auf die Interessen der Mitglieder liest, war eher ein zähneknirschendes Zugeständnis - schon vor 2008 gab es Kampagnen zur Leiharbeit oder wurde prekäre Beschäftigung thematisiert. Allerdings bediente das Vorgehen zuvorderst die Erwartungen der Stammbeschäftigten - und beförderte Momente einer 'exklusiven Solidarität' (vgl. Dörre et al. 2013).

(2) Zum Sample vgl. Dörre et al. (2013).

(3) Vgl. genauer Holst/Matuschek 2013; Dörre et al. 2013. Die Vielfalt macht deutlich, welchen Spagat Interessenvertretung nicht nur im Zuge des Korporatismus bewältigen muss.



Literatur

Arlt, H.-J. / Schneider, W. / West, K.-W. (2007): Interessenpolitik und Werteorientierung- Perspektiven der Gewerkschaftsarbeit. In WSI-Mitteilungen 7/2007, S. 394- 398.

Dörre, K. / Happ, A. / Matuschek, I. (Hg.) (2013): Das Gesellschaftsbild der LohnarbeiterInnen. Soziologische Untersuchungen in ost- und westdeutschen Industriebetrieben. Hamburg: VSA.

Ehlscheid, Ch. / Urban, H.-J. (2007): Ein Schritt auf dem Weg aus der Defensive? WSI-Mitteilungen 7/2007, 398-403.

Eichhorst, W. / Weishaupt, T. (2013): Mit Neo-Korporatismus durch die Krise? Die Rolle des Sozialen Dialogs in Deutschland, Österreich und der Schweiz. In: Zeitschrift für Sozialreform, 59 (3), S. 313-33.

Holst, H. / Matuschek, I. (2013): Krise, Kritik und blockierte Allianzen - pragmatische Alltagstheorien zu Arbeit und Gesellschaft. In: Nickel, Hildegard M. / Heilmann, Andreas (Hg.): Krise, Kritik, Allianzen. Arbeits- und geschlechtersoziologische Perspektiven. Weinheim: Beltz, S. 152 - 169.

Lim, W. (2003): Zur Transformation der industriellen Beziehungen in den europäischen WohIfahrtsstaaten. Von der sozialgerechten Produktivitätspolitik zur wettbewerbs-orientierten Ungleichheit. Studien der Forschungsgruppe Europäische Gemeinschaften (FEG) Nr. 19, Institut für Politikwissenschaft der Philipps-Universität Marburg.

Urban, H.-J. (2013): Der Tiger und seine Dompteure. Wohlfahrtsstaat und Gewerkschaften im Gegenwartskapitalismus. Hamburg: VSA.

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Quelle:
spw - Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft
Ausgabe 2/2014, Heft 201, Seite 21-25
mit freundlicher Genehmigung der HerausgeberInnen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2014