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INTERNATIONAL/074: Brasilien - Bauwirtschaft boomt, Industrie in der Flaute (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 13. Januar 2012

Brasilien: Bauwirtschaft boomt - Industrie in der Flaute

von Mario Osava

Lkw-Stau in Mato Grosso offenbart den Infrastrukturbedarf - Bild: © Mario Osava/IPS

Lkw-Stau in Mato Grosso offenbart den Infrastrukturbedarf
Bild: © Mario Osava/IPS

Rio de Janeiro, 12. Januar (IPS) - In Brasilien schießen Infrastrukturprojekte derzeit wie Pilze aus dem Boden, schaffen Millionen Arbeitsplätze und haben 2011 Auslandsinvestitionen in Höhe von mehr als 60 Milliarden US-Dollar angezogen. Doch der Bauboom konnte dem größten Land Südamerikas bislang nicht zu einem nachhaltigen Wirtschaftswachstum verhelfen.

Das bescheidene Wachstum von drei Prozent - Argentinien konnte einen dreimal und Peru einen doppelt so hohen Zuwachs verbuchen - ist nach Angaben des Brasilianischen Instituts für Geographie und Statistik (IBGE) vor allem der Stagnation im Industriebereich zu verdanken. So legte das industrielle Wachstum zwischen Januar und November 2011 um lediglich 0,4 Prozent zu.

Die Zahlen stehen jedoch in einem krassen Gegensatz zur Dynamik der Bauindustrie. Ganz Brasilien gleicht einer riesigen Baustelle. Die Eigenheimpreise haben sich in den letzten drei Jahren in Städten wie Rio de Janeiro und Recife verdoppelt wenn nicht gar verdreifacht. Diese Entwicklung hat den Bauboom nur noch verstärkt, aber zugleich Ängste vor einer Immobilienblase geschürt.

Die Regierung hatte 2009 das öffentliche Wohnbauprogramm 'Mein Haus, mein Leben' aufgelegt, das bis 2014 drei Millionen bezahlbare Wohneinheiten schaffen und das städtische Wohnungsdefizit von derzeit 5,5 Millionen Einheiten verringern soll.


Mehr als 12.000 Infrastrukturprojekte bis 2016

Auch der Ausbau der Logistik- und Energieinfrastrukturen läuft auf Hochtouren. Vorgesehen ist, bis 2016 landesweit 12.265 Infrastrukturprojekte zu Investitionen in Höhe von rund 800 Milliarden US-Dollar fertigzustellen, wie aus einer Untersuchung der Brasilianischen Technologievereinigung für Maschinen und Instandhaltung (SOBRATEMA) hervorgeht.

Doch der Bauboom verlangt nach einer besseren Planung. Das gilt vor allem für den Logistikbereich, wie der Ingenieur- und Logistikexperte Renato Pavan erläutert. Das staatliche Programm für Wachstumsbeschleunigung (PAC), das für mehr Investitionen in Infrastruktur und Wachstum sorgen soll, beinhalte seiner Meinung nach einige Schwächen. So sei der Ausbau der Wasserwege im Amazonasgebiet nicht vorgesehen, so der Partner der Beratungsfirma 'Macrologística', die Logistikoptionen für die brasilianische Wirtschaft aufzeigen.

Allerdings tragen die vielen Bauprojekte dazu bei, die Folgen der Wirtschaftskrise in den Industriestaaten abzumildern. Zudem ermöglichen sie ein halbwegs moderates Wirtschaftswachstum und eine geringe Arbeitslosigkeit. Zwischen Januar und November 2011 konnten trotz der industriellen Stagnation 2,32 Millionen neue Jobs geschaffen werden.

Die steigenden Getreide- und Mineralienexporte machten den Bau neuer Häfen erforderlich. Alte wurden vergrößert beziehungsweise modernisiert. Geplant ist, die Kapazitäten des Hafens von Santos, des größten Lateinamerikas, bis 2013 zu verdoppeln.

Das Hafenlogistikunternehmen LLX, das einem prosperierenden Bergbau- und Energiekonzern gehört, baut derzeit zwei 'Superhäfen' in der Nähe von Rio de Janeiro. Einer ist für den Export von Mineralien, der andere für die Ausfuhr der Stahl-, Mechanik-, Öl- und Energieindustrie zuständig. Zwei weitere Projekte, ebenfalls als Hafen- und Industriekomplexe konzipiert, sind bereits im brasilianischen Nordosten in Betrieb. Die dort vom staatlichen Erdölgiganten 'Petrobras' gebauten Raffinerien sollen weitere Unternehmen anlocken.


Häfen und Raffinerien

Das Projekt mit den bisher größten Fortschritten wird in Suape in der Nähe von Recife, der Hauptstadt des nordöstlichen Bundesstaates Pernambuco, hochgezogen. Hier sind 80.000 Arbeiter unter anderem mit dem Bau einer Raffinerie sowie drei Petrochemie- und anderen Fabriken beschäftigt. Viele arbeiten bereits in den mehr als 100 neuen Unternehmen. Darunter befinden sich eine mondäne Schiffswerft und Lateinamerikas größte Weizenmehlmühle.

Zusätzlich zu den Raffinerien in Suape und einem weiteren Hafen in Pecém wird im Nordosten, im Bundesstaat Maranhão, Brasiliens größte Erdölraffinerie mit einer täglichen Förderkapazität von 600.000 Barrel gebaut. Die bis 2015 vorgesehenen Investitionen belaufen sich auf 224,7 Milliarden Dollar. Sie sollen der brasilianischen Schiffsbauindustrie auf die Beine helfen und die Hafeninfrastruktur und Offshore-Anlagen voranbringen. Hintergrund sind Pläne von Petrobrás, die 2006 entdeckten Erdöllager in der sogenannten Vor-Salz-Schicht in den Tiefen des Atlantiks 250 Kilometer vor der brasilianischen Küste auszubeuten.


Energieprojekte

Die Stromgewinnung ist ein weiterer Faktor, der die Bauwirtschaft beflügelt. Die Regierung hat die Arbeiten an den Wasserkraftwerken an den großen Flüssen des Amazonasgebiets trotz Protesten von Umweltschützern wieder aufgenommen. Auch die Windenergie erhielt im letzten Jahr aufgrund gesunkener Anlagenpreise einen mächtigen Schub. Mit Diesel und Gas angetriebene Wärmestromanlagen sind ebenfalls im Entstehen. Darüber hinaus hat die Regierung beschlossen, den Bau des drittgrößten Atomreaktors abzuschließen.

Neue Eisenbahnnetze und erneuerte Straßen, Pipelines für den Transport von Öl, Gas und Ethanol aus Zuckerrohr, Flughäfen und andere Transportmittel sowie die für die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele in Rio de Janeiro 2016 benötigten städtischen Infrastrukturen sind weitere Projekte, die den Bauboom Aufwind geben. Hinzu kommt die Entwicklung der Landwirtschaft und des Dienstleistungssektors.

Alle diese Vorhaben können die schwache Performance des Industriebereichs, dem die weltweite Wirtschaftskrise erheblich zugesetzt hat, zumindest ausgleichen. Der von dem Finanzdebakel in den USA heftig getroffene Sektor erlebte 2009 einen Wachstumsrückgang von 7,4 Prozent. Nach einer Erholung 2010 und einem Zuwachs von 10,5 Prozent 2010 verlangsamte sich das Wachstum der Industrieproduktion dann erneut.

Rezession und Stagnation in den Industriestaaten hatten einem Rückgang der Nachfrage verursacht, was wiederum den Wettbewerbsdruck auf die ohnehin schon durch die Aufwertung der Landeswährung Real gegenüber dem Dollar benachteiligte brasilianische Industrie erhöhte. Dadurch verschärfte sich Brasiliens "verfrühte De-Industrialisierung", vor der Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer mit Blick auf den starken Real gewarnt hatten.

Im letzten Jahr konnte Brasilien dennoch einen Handelsüberschuss von 29,8 Milliarden Dollar vorweisen. Das Plus verdankt das südamerikanische Land seinen Agrar- und Rohstoffexporten. Sie machten das Handelsdefizit bei den weiterverarbeiteten Produkten wett. (Ende/IPS/kb/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. Januar 2012