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INTERNATIONAL/281: Indien - Beschäftigungsloses Wachstum verschärft Jugendarbeitslosigkeit (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 6. Oktober 2015

Indien: Beschäftigungsloses Wachstum verschärft Jugendarbeitslosigkeit

ein Gastbeitrag von N. Chandra Mohan *



Bild: © Neeta Lal/IPS

Die Wirtschaft floriert in Indien, klassisches Handwerk wird zunehmend mechanisiert. Jobs werden immer seltener
Bild: © Neeta Lal/IPS

NEU-DELHI (IPS) - Immer mehr junge Menschen in Indien sind arbeitslos, obwohl das Land statistisch gesehen die weltweit am schnellsten wachsende Volkswirtschaft ist. Davon sind insbesondere gut ausgebildete junge Inder betroffen, die vergeblich einen Einstieg in das Berufsleben suchen.

Laut der aktuellsten offiziellen Statistik lag die Arbeitslosenrate im Zeitraum 2013 bis 2014 zwar bei lediglich 4,9 Prozent. Erfasst wird hier allerdings nur die Dauerarbeitslosigkeit, über die kaum öffentlich diskutiert wird, weil sie sich stabil auf einem relativ niedrigen Niveau hält. Doch obwohl sich das Wirtschaftswachstum in dem Zeitraum auf 6,9 Prozent gesteigert hat, sind vor allem Gelegenheitsjobs im informellen Sektor, aber nicht genügend Stellen für hoch qualifizierte Bewerber geschaffen worden.

Die Regierung des Bundesstaates Uttar Pradesh hat kürzlich 2,3 Millionen Bewerbungen für 368 einfache Tagelöhner-Jobs erhalten. Unter den Bewerbern waren 250 Doktoranden, 25.000 Graduierte und 125.000 Examenskandidaten. In Chhattisgarh bewarben sich 75.000 Personen um 30 Jobs, die keine Vorbildung erforderten. Einige von ihnen waren Graduierte oder Ingenieure. In anderen indischen Bundesstaaten ist die Lage auf dem Arbeitsmarkt ähnlich desolat.


Lage für gebildete Berufseinsteiger immer schwieriger

Aus den im Fünf-Jahres-Rhythmus veröffentlichten Berichten der indischen 'National Sample Survey Organisation' (NSSO) geht hervor, dass viele gut ausgebildete Jugendliche über längere Zeit keine Beschäftigung finden. Drei Viertel der Langzeitarbeitslosen sind demnach Berufsanfänger im Alter von 15 bis 29 Jahren. Im Laufe der Jahre haben sich ihre Aussichten weiter verschlechtert. Laut dem Report für 2011/2012 waren in dem Zeitraum sogar vier Fünftel der Langzeitarbeitslosen Berufseinsteiger.

Warum ist gerade diese Gruppe so stark von Erwerbslosigkeit betroffen? Gut ausgebildete Jugendliche ziehen es vor, auf bessere Chancen zu warten, während schlecht ausgebildete und arme Menschen alle Arbeitsangebote annehmen. Das Bevölkerungswachstum trägt zudem dazu bei, dass eine große Zahl Berufsanfänger bereitsteht. Angesichts der steigenden Zahl von Studenten bringen die meisten Bewerber, die einen Jobeinstieg suchen, gute Qualifikationen mit. Zunehmende Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen und gut Ausgebildeten sind also zwei Seiten ein- und derselben Medaille.

Die wachsende Zahl erwerbsloser Jugendlicher setzt die Sozialsysteme des Landes erheblich unter Druck. Da es sich bei den Wählern, die der von Premierminister Narendra Modi angeführten Partei 'Bharatiya Janata' (BJP) im Mai 2014 einen Erdrutschsieg bescherten, vor allem um junge Inder aus Dörfern und Kleinstädten handelte, muss sich die Regierung des Problems des beschäftigungslosen Wachstums rasch annehmen. Nachdem die junge Bevölkerung bisher als 'demografische Dividende' des Subkontinents galt, droht sich dieser Segen bald in einen Fluch zu verwandeln. Diese Wähler erwarten nämlich, dass rasch neue Beschäftigungsmöglichkeiten geschaffen werden. Zurzeit entstehen jährlich aber nur etwa zwei Millionen Stellen - viel zu wenige für die rund zwölf Millionen Jugendlichen, die sich jährlich auf Arbeitssuche begeben.


Arbeitskräfteüberschuss und zugleich Fachkräftemangel

Das beschäftigungslose Wachstum kann nicht auf die Schnelle behoben werden. Es geht nicht nur um eine Arbeitsmarktreform, sondern auch um eine gezielte Ausbildung von Arbeitskräften, die die Industrie tatsächlich benötigt. Paradoxerweise gibt es in Indien einen Überschuss an Arbeitskräften und zugleich einen Fachkräftemangel. Etwa 15 Prozent der LKW in Indien stehen still, weil nicht genug Fahrer zur Verfügung stehen. Die Stahlindustrie sucht Facharbeiter und das Gesundheitswesen Sanitäter und Techniker. Der Bausektor braucht weitere Ingenieure. Diese Engpässe müssen durch eine gezielte Ausbildung beseitigt werden.

Die regierende Koalition der Nationalen Demokratischen Allianz (NDA) steht vor der politischen Herausforderung, kurzfristig mehr produktive Jobs zu schaffen. Da die Erwartungen hoch sind, muss die Koalition vor allem ihre den jungen Wählern gegebenen Versprechen rasch einlösen. Man sollte sich vor Augen führen, was passieren könnte, wenn immer mehr Inder den Agrarsektor verlassen und das beschäftigungslose Wachstum in der Fertigungsindustrie anhält. Wenn weniger Arbeitsplätze außerhalb der Landwirtschaft entstehen, werden mehr Menschen gezwungen sein, weiter in diesem Bereich zu arbeiten. Damit verstärkt sich der Druck auf den Agrarsektor, und die Einkünfte sinken. In der Folge wird sich die Einkommensschere weiter vergrößern, während das anwachsende Heer der Arbeitslosen unruhig wird.

Die zunehmende Frustration ist bereits jetzt auf den Straßen von Gujarat spürbar. Die recht gut situierte Gemeinschaft der Patel verlangt von Mitgliedern niederer Kasten, dass sie ihr in Bildungseinrichtungen und auf dem Arbeitsmarkt den Vortritt lassen. Die Berufsanfänger, die sich in Städten um Jobs bemühen, werden mit dem Angebot jedoch wahrscheinlich nicht zufrieden sein.

Die meisten neuen Stellen entstehen im Bausektor, wo Arbeitsgesetze und Forderungen von Gewerkschaften keine Geltung haben. Doch die Arbeit in großen Fabriken, die die Rechte von Beschäftigten besser schützen, oder Jobs im informellen Sektor sind für die meisten Langzeitarbeitslosen keine befriedigenden Alternativen. Um ihnen neue Chancen zu bieten, muss die Regierung Leuchtturm-Projekte wie die Kampagne 'Make in India' vorantreiben, mit der Premier Modi ausländische Investoren anzuziehen versprach.


Regierung muss neue Beschäftigungsanreize geben

In absoluten Zahlen wird die Arbeitslosigkeit unter den immer zahlreicheren gut ausgebildeten Jugendlichen weiter zunehmen. Um neue Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen, muss die Regierung arbeitskräfteintensiven Branchen wie der Textilindustrie einen neuen Anschub geben. Zudem müssen so genannte 'Greenfield Investments', also die Errichtung von Arbeitsstätten im Ausland mittels internationaler Direktinvestitionen, in Zweigen wie der Automobilindustrie stärker gefördert werden.

Die offizielle Arbeitslosenrate von 4,9 Prozent zu senken, mag auf den ersten Blick nicht als vordringlich erscheinen. In Spanien oder in Griechenland ist der Anteil der Erwerbslosen in der Bevölkerung weitaus höher. In Brasilien und Russland, zwei Ländern, die tief in der Rezession stecken, ist die Arbeitslosenrate auf 7,5 beziehungsweise 5,3 Prozent geklettert. In Südafrika beträgt sie sogar 25 Prozent. Dennoch wäre es ein schwerwiegender Fehler, das Problem des beschäftigungslosen Wachstums in Indien zu unterschätzen. (Ende/IPS/ck/06.10.2015)


Bild: © privat

N. Chandra Mohan
Bild: © privat


* N. Chandra Mohan ist ein indischer Unternehmens- und Wirtschaftskommentator


Link:

http://www.ipsnews.net/2015/10/the-spectre-of-jobless-growth-in-india/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 6. Oktober 2015
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. Oktober 2015

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