Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → WIRTSCHAFT


MEINUNG/116: Schäden im Wirtschaftskrieg (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 18. August 2022
german-foreign-policy.com

Schäden im Wirtschaftskrieg

Mit Blick auf die schädlichen Folgen der Russland-Sanktionen für Deutschland warnen Experten vor womöglich dramatischen Konsequenzen eines Wirtschaftskriegs gegen China.


BERLIN/MOSKAU/BEIJING - Zunehmende schädliche Folgen des Sanktionskriegs gegen Russland für Deutschland lösen Warnungen vor weiteren Verlusten bei einer Eskalation des Machtkampfs gegen China aus. Aktuelle Quartalsbilanzen zeigen, dass deutsche Konzerne wegen ihres Rückzugs aus Russland Milliardensummen verlieren; zudem schädigen exzessive Energiepreise und der drohende Erdgasmangel auch Privatpersonen in wachsendem Maß. Sollte es zu einem Wirtschaftskrieg auch gegen China kommen, dann müsse mit tiefen Einbrüchen in der deutschen Wirtschaftsleistung gerechnet werden, heißt es in einer aktuellen Studie des Münchener ifo-Instituts. Experten warnen zusätzlich vor Risiken, die sich daraus ergeben, dass Deutschland bei unverzichtbaren Rohstoffen wie Lithium oder auch bei Batterien noch stärker von China abhängig ist als bei Erdgas von Russland. Die European Chamber of Commerce in China weist zudem darauf hin, dass zahlreiche deutsche Konzerne auch bei Forschung und Entwicklung kaum noch ohne schwere Einbußen auf die Volksrepublik verzichten können. Ökonomen warnen vor Wohlstandsverlust - und urteilen, der Westen könne Wirtschaftskriege auch verlieren.

Folgen der Sanktionen

Neue Quartalsbilanzen deutscher Konzerne, anhaltend exzessive Energiepreise und die Aussicht auf gravierenden Erdgasmangel im Winter belegen die schädlichen Auswirkungen des westlichen Sanktionskriegs gegen Russland für die Bundesrepublik. Zuletzt gaben etwa Siemens und der Anlagenbauer Linde massive Einbußen wegen des Rückzugs aus Russland bekannt; Siemens musste dafür bislang 1,1 Milliarden Euro aufwenden, Linde allein im zweiten Quartal 2022 fast eine Milliarde US-Dollar. Bei Linde sind zudem mehrere hundert Arbeitsplätze in Gefahr.[1] Vor allem die Erdgaspreise steigen zur Zeit ungebrochen - mit gravierenden Folgen nicht nur für die Industrie, sondern besonders auch für Privatpersonen: Experten rechnen damit, dass die Erdgaskosten für ein durchschnittliches Einfamilienhaus mit einem Verbrauch von rund 20.000 KWh von bislang rund 1.000 auf etwa 5.000 Euro im Jahr steigen könnten.[2] Die sozialen Folgen liegen auf der Hand. Hinzu kommt, dass die Erdgasversorgung für den Winter immer noch völlig ungesichert ist. Zwar sind die Speicher in der Bundesrepublik inzwischen zu 75 Prozent gefüllt. Allerdings ist ungewiss, ob sie in den kommenden Wochen und Monaten ausreichend gesättigt werden können, um in der Heizsaison nicht leerzulaufen. Geschieht Letzteres, dann stünden herbe industrielle Verluste und vor allem schwere gesellschaftliche Spannungen bevor.

Teure Handelskämpfe

Angesichts der Schädigungen, die der Sanktionskrieg gegen Russland der Bundesrepublik einzubrocken beginnt, werden in wachsendem Maß Stimmen laut, die vor noch viel gravierenderen Folgen einer weiteren Eskalation des Machtkampfs gegen China warnen. So hat unlängst das Münchner ifo-Institut eine Studie vorgelegt, die unterschiedliche Szenarien eines eskalierenden Wirtschaftskriegs durchrechnet. Das Institut weist darauf hin, dass die Analyse auf einem statischen Modell beruht und allerlei Unwägbarkeiten nicht berücksichtigen kann; die Prognosen über die zu erwartenden Verluste müssten daher "als Untergrenze" für die realen Schäden gelten. Bei einem umfassenden Handelskrieg zwischen den westlichen Staaten und China müsste die Bundesrepublik demnach mit dem Einbruch ihrer Wirtschaftsleistung um mindestens 0,76 Prozent rechnen. Dehnt sich der Handelskrieg auf andere "autoritäre" Staaten aus, dann würde die deutsche Wirtschaftsleistung um 1,69 Prozent oder mehr kollabieren. Müsse die Produktion wegen des Machtkampfs aus China in die EU und in deren nähere Umgebung (Türkei, Nordafrika) zurückverlagert werden ("Nearshoring"), sei mit einem Einbruch der deutschen Wirtschaftsleistung um mindestens 4,17 Prozent zu rechnen. Bei einer Rückverlagerung in die Bundesrepublik ("Reshoring") müsse man sogar von einem Minus von 9,68 Prozent ausgehen.[3]

Klumpenrisiken

Rät das ifo-Institut dringend dazu, derlei Einbrüche zu verhindern und deshalb auf einen offenen Wirtschaftskrieg zwischen dem Westen und China zu verzichten, so weist der neue Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Guntram Wolff, darauf hin, dass in der realen Wirtschaftsentwicklung die vom ifo-Institut berechneten, durchaus gravierenden "Makroeffekte eines Handelskriegs mit China" gar nicht "entscheidend" seien: "Viel relevanter" sei "das Klumpenrisiko in gewissen kritischen Bereichen".[4] Wolff nennt Halbleiter, Batterien sowie spezielle Rohstoffe. Tatsächlich sind zur Zeit große Teile der globalen Lithiumproduktion in China konzentriert; die Volksrepublik kontrolliert zumindest zwei Drittel des Weltmarkts (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Die deutsche Abhängigkeit bei dem Rohstoff, ohne den die Energiewende unmöglich ist, ist demnach größer als die Abhängigkeit der Bundesrepublik von russischem Erdgas. Ähnlich verhält es sich bei der Produktion von Elektroautobatterien: Sechs der zehn weltgrößten Hersteller haben ihren Hauptsitz in der Volksrepublik, darunter der Konzern CATL, der zur Zeit einen Weltmarktanteil von 34,8 Prozent hält.[6] Fiele bei einer Eskalation des Konflikts zwischen Beijing und Taipeh der taiwanische Chiphersteller TSMC - Nummer eins weltweit - aus, dann kollabierte auch die Halbleiterversorgung im Westen.

"Wissens-Pipeline" aus China

Schließlich kommt noch hinzu, dass der chinesische Markt für bedeutende Konzerne und Branchen unverzichtbar ist - und dies nicht nur wegen seiner Größe. Volkswagen etwa setzt schon heute mehr als 40 Prozent seiner Autos in der Volksrepublik ab; auch Daimler und BMW verkaufen dort rund ein Drittel ihrer Neuwagen.[7] Davon abgesehen nimmt auch die Bedeutung des Landes in Forschung und Entwicklung rasant zu. Dies liegt daran, wie eine unlängst publizierte Untersuchung der European Chamber of Commerce in China sowie des Berliner Think-Tanks MERICS zeigt, dass es in der Volksrepublik nicht nur qualifiziertes Personal in großer Zahl sowie viele High-Tech-Kooperationspartner gibt, sondern dass auch Forschungs- und Entwicklungsergebnisse in hohem Tempo angewandt und neue High-Tech-Produkte von einem äußerst innovationsfreudigen Publikum mit starkem Interesse aufgenommen werden.[8] Die Untersuchung belegt, dass 45 Prozent aller befragten Firmen ihre in China erzielten Forschungs- und Entwicklungsergebnisse in gewissem Maße für ihre globale Tätigkeit nutzen, 55 Prozent sogar in starkem Maß. Sei Deutschland mit Russland quasi durch "eine Energie-Pipeline" verbunden, so hänge es an China mittlerweile mit einer "Wissens-Pipeline", erläutert der Präsident der European Chamber of Commerce in China, Jörg Wuttke: "Wer sich aus dem chinesischen Markt herauszieht, schadet sich selbst."[9]

Wohlstandsverluste

Dass der Versuch, Deutschland wirtschaftlich von China abzukoppeln, kaum möglich ist und zu erheblichen Wohlstandsverlusten führen wird, hat jüngst auch der beim Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) für internationale Konjunkturprognose zuständige Ökonom Klaus-Jürgen Gern erläutert. Gern weist darauf hin, dass sogar Maßnahmen wie die Ansiedlung von Halbleiterfabriken in der Bundesrepublik keine Abhilfe schaffen: "Am Ende stellt Intel dort womöglich Chips mit Teilen aus Taiwan her."[10] Dabei sei der Verzicht auf Kooperation mit der Volksrepublik mit klaren ökonomischen Einbußen verbunden: "Wir müssen einsehen, dass wir nicht mehr so viel für unsere Einkommen bekommen wie früher." Die Abkehr von China mache alle ärmer. Ähnlich äußert sich - auch, aber nicht nur mit Blick auf die Kfz-Produktion - der Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer vom Center Automotive Research, einem Think-Tank mit Standorten in Duisburg und Beijing. Eskaliere der Konflikt mit der Volksrepublik, dann "brechen die Absatzmärkte weg", warnt Dudenhöffer; der Technologie-Import bleibe ebenfalls auf der Strecke: "Auch noch so gute Hilfspakete der Bundesregierung könnten das nicht reparieren." "Die Welt wird gespalten, und es gibt kein Zurück", sagt der Branchenexperte voraus; dabei sei nicht zuletzt das Risiko "hoch, dass die westliche Welt in die schwächere Position gerät".[11] Ein harter Abstieg wäre nicht mehr zu vermeiden.


Anmerkungen:

[1] Rückzug aus Russland kostet Linde fast eine Milliarde - doch die Prognose steigt. handelsblatt.com 28.07.2022. Erster Verlust für Siemens seit 2010. tagesschau.de 11.08.2022.

[2] Familien könnten bald 5.000 Euro für Gas im Jahr zahlen. ndr.de 16.08.2022.

[3] Geopolitische Herausforderungen und ihre Folgen für das deutsche Wirtschaftsmodell. Eine vbw Studie, erstellt vom ifo-Institut. München, August 2022.

[4] Guntram Wolff: China-Taiwan-Konflikt: Zeit, Risiken zu reduzieren. DGAP Newsletter. Berlin, 17.08.2022.

[5] S. dazu Die Lithium-Lücke.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8970

[6] 34,8 Prozent aller EV-Batterien kommen von CATL. electrive.net 08.08.2022.

[7] S. dazu Das asiatische Jahrhundert
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8547/

[8] Jeroen Groenewegen-Lau, Jacob Gunter: China's innovation ecosystem: Right for many, but not for all. merics.org 08.06.2022.

[9] EU-Handelskammer warnt vor Entkopplung von China. dw.com 08.06.2022.

[10] Christina Lohner: Warum wir uns so schwer von China lösen können. n-tv.de 17.08.2022.

[11] Diana Dittmer: "Ein China-Embargo wäre für Deutschland der GAU". n-tv.de 15.08.2022.

*

Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 19. August 2022

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang