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REDE/478: Merkel zur Eröffnung der Hannover Messe 2011 am 3.4.2011 (BPA)


Presse- und Informationsamt der Bundesregierung
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Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung der HANNOVER MESSE 2011 am 3. April 2011 in Hannover:


Meine Damen und Herren,
sehr geehrter Herr Premierminister, lieber François Fillon,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident, lieber David McAllister,
sehr geehrter Herr Professor Keitel,
liebe Kollegin Annette Schavan,
Herr Oberbürgermeister,

ich habe es mir nicht nehmen lassen, in diesem Jahr zur Eröffnung der HANNOVER MESSE zu kommen. Im letzten Jahr hat ein Vulkan das verhindert. In diesem Jahr kann ich wegen meines kleinen Defekts am Bein den Rundgang leider nicht durchführen. Deshalb bin ich erst binnen zwei Jahren vollständig präsent bei der HANNOVER MESSE, nämlich einmal zur Eröffnung und einmal zum Rundgang. Ich verspreche Besserung.

Es war mir ein großes Bedürfnis, wieder in Hannover bei dieser weltgrößten Industriemesse dabei zu sein. Die HANNOVER MESSE fällt in diesem Jahr in eine Zeit, in der wir mit großer Anteilnahme nach Japan schauen. Ein Erdbeben und ein Tsunami haben weite Landstriche verwüstet. Tausende Menschen haben ihr Leben verloren. Tausende von Menschen werden bis heute vermisst. Hinzu kommt die nukleare Bedrohung rund um das Kernkraftwerk Fukushima. Viele Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Einsatzkräfte setzen im Atommeiler ihr Leben aufs Spiel.

Die dramatischen Ereignisse sind für uns vielleicht auch deshalb so ganz besonders bewegend, weil sie in einem Hochtechnologieland wie Japan vorkommen und uns zeigen, dass etwas möglich ist, das nach wissenschaftlichen Maßstäben nahezu ausgeschlossen schien.

Mit Fukushima hat das Wort "Restrisiko" für die ganze Welt eine neue Bedeutung bekommen. Galt es bisher als kalkulierbar und damit beherrschbar, steht es jetzt für reale Gefahr. Das dürfen auch Länder nicht ignorieren, die nicht unmittelbar von der Katastrophe betroffen sind. Wir wissen, dass wir in Deutschland vergleichbare Naturkatastrophen wie in Japan nicht zu erwarten haben. Unsere Kernkraftwerke - auch das will ich noch einmal betonen - zählen zu den sichersten der Welt.

Aber - ich bin François Fillon sehr dankbar dafür, dass er das für Frankreich ebenso gesagt hat - wir durften nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Obwohl Japan eine hoch entwickelte Industrienation ist, konnte es die nukleare Bedrohung in Folge einer Naturkatastrophe nicht verhindern. Das ist die Realität. Das stellt die Welt und damit auch uns hier in Deutschland vor neue Fragen.

Ich möchte auch Herrn Keitel ganz besonders dafür danken, dass er die Entscheidung für das verkündete Moratorium mitgetragen hat. Alle Anlagen werden umfassend und präzise erneut auf ihre Sicherheit hin überprüft. Wir haben die Reaktorsicherheitskommission damit beauftragt, kurzfristig ein entsprechendes Programm zu entwickeln. Für die Zeit dieser Prüfung von drei Monaten wurden die Kernkraftwerke, die 1980 oder früher in Betrieb gegangen sind, vom Netz genommen. Wir haben zusätzlich eine Ethikkommission für sichere Energieversorgung einberufen. Ich werde die Mitglieder morgen zur Auftaktsitzung im Bundeskanzleramt empfangen.

All das tun wir nicht, um Ergebnisse vorwegzunehmen - das will ich ausdrücklich sagen -, sondern um uns den Fragen zu stellen. Wir wollen nicht so tun, als hätten wir auf alle Fragen sofort eine Antwort. Nach dem dreimonatigen Moratorium werden wir natürlich über die Konsequenzen entscheiden müssen. Bis dahin müssen wir klären, wie wir Risiken bewerten.

Wir müssen natürlich auch darüber sprechen, wie wir den Übergang in das Zeitalter der erneuerbaren Energien mit Augenmaß, aber so schnell wie möglich vollziehen. Dabei werden wir neben der Sicherheit, die natürlich Vorrang hat, auch das Thema der Energieversorgung in Deutschland im Blickpunkt haben. Sie muss verlässlich, sie muss bezahlbar sein. Es kann nicht sein, dass wir Energieversorgung und bevorzugten industriellen Standort gegeneinander ausspielen. Dies will ich ganz deutlich hier auf der HANNOVER MESSE sagen.

Allerdings sage ich auch: Wenn wir das Zeitalter der erneuerbaren Energien wollen, werden wir Mut brauchen, und zwar Mut zu neuem Denken, zu neuen Wegen. Ich lade alle ein - gerade auch die deutsche Industrie -, auf diesem Weg mitzugehen. Ich lade auch alle Bürgerinnen und Bürger ein. Denn wer Ja zu erneuerbaren Energien sagt, muss auch Ja zum Ausbau der notwendigen Infrastruktur sagen. Das eine geht nicht ohne das andere. Wir müssen wirklich bereit sein umzusteuern, und zwar alle - und das in beschleunigtem Maße. Nur indem man gegen etwas ist, wird man den Umstieg in ein neues Zeitalter der erneuerbaren Energien nicht schaffen.

Nukleare Risiken kennen keine Grenzen. Deshalb war es eine sehr gute Erfahrung im Europäischen Rat, ganz besonders getragen durch Deutschland und Frankreich, dass wir die Sicherheit aller Reaktoren in der Europäischen Union überprüfen werden, wie es eben vom französischen Premierminister dargestellt wurde. Von der Europäischen Kommission werden gemeinsam mit nationalen Experten Stresstests für Atomkraftwerke entwickelt. Diese werden von unabhängigen nationalen Behörden durchgeführt. Dabei ist eine gegenseitige Begutachtung vorgesehen. Die Ergebnisse werden veröffentlicht. Ich bin dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy ausgesprochen dankbar dafür, dass wir das Thema auch zu einer Initiative der G20 machen können und dass Frankreich zu einem Treffen mit den Energieministern einlädt.

Das Zeitalter der erneuerbaren Energien ist ein Thema, das hier auf der HANNOVER MESSE seit Jahren eine große Bedeutung hat. Energieeffizienz und damit verbundene neue Wege - das hat heute auch der Hermes-Preis gezeigt - sind sozusagen der Alltag auf der HANNOVER MESSE. Es ist gut, dass sich die Zahl der Aussteller dieser Branche in den letzten Jahren verzehnfacht hat.

Da Frankreich eines der zentralen Länder ist, wenn es um die Entwicklung neuer Wege im Bereich der Energieversorgung und auch der Mobilität geht, freue ich mich, dass Frankreich das Partnerland der diesjährigen Messe in Hannover ist. Ich möchte Sie, lieber Herr Premierminister, lieber François Fillon, und Ihre Kabinettskollegen hier heute ganz herzlich begrüßen und Sie auch morgen zum Rundgang ganz herzlich willkommen heißen. Die deutsch-französische Zusammenarbeit ist nicht nur eine Zusammenarbeit der Vernunft, sondern auch des Herzens. Das will ich an dieser Stelle ganz deutlich sagen.

Frankreich stellt seit vielen Jahren eines der größten Ausstellerkontingente auf der HANNOVER MESSE. In diesem Jahr sind es rund 230 französische Unternehmen. Die französische Industrie spielt natürlich in Deutschland eine ganz herausragende Rolle. Herr Keitel hat auf die vielfältigen Formen der Zusammenarbeit hingewiesen. Ich glaube, gemeinsam können wir in Zukunft sogar noch stärker werden. Wir werden heute Abend noch einmal Gelegenheit haben, mit Vertretern der Wirtschaft genau darüber zu sprechen. Wir sind gemeinsam der Überzeugung, dass die Industrie Quelle wichtiger Innovationen ist und auch in Zukunft sein wird, dass sie weit über ihren eigenen Bereich hinaus dazu beiträgt, Arbeitsplätze der Zukunft zu schaffen, und dass Bildung und Forschung das A und O für Zukunftsinvestitionen sind.

Ich glaube, gerade in der deutsch-französischen Kooperation im Bereich von Bildung und Forschung ist in den letzten Jahren vieles passiert. Die deutsch-französischen Ministerräte haben sich zunehmend diesem Thema gewidmet. Wir sehen sehr viel mehr Kooperation und Kohärenz in der Herangehensweise. Das muss in den nächsten Jahren noch verstärkt werden.

Deutschland gehört zum Beispiel bei den Patentanmeldungen international zur Spitzengruppe. Natürlich ist Forschung hier in unserem Lande von ganz besonderer Bedeutung. Wir wollen das Drei-Prozent-Ziel erreichen. Die deutsche Industrie hat sich auch während der Krise diesem Ziel verpflichtet gefühlt. Deutschland und Frankreich sollten auch genau mit Blick auf Innovationsfähigkeit und die Tatsache zusammenarbeiten, dass Forschung und Innovation Schwerpunkte in der Entwicklung unserer Länder bilden, damit wir ein Vorbild für die Kooperation in Europa sind. Man muss ganz ehrlich sagen: Von dem Ziel der Lissabon-Strategie, die wir vor einigen Jahren aufgelegt haben, nämlich dass alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Forschung und Entwicklung ausgeben, sind wir leider in vielen Ländern noch weit entfernt. Deutschland und Frankreich könnten aber eine vorbildliche Rolle spielen.

Wir in Deutschland haben einen Innovationsdialog ins Leben gerufen, der die Partner der Innovation zusammenfasst und der der Bundesregierung Beratung bietet. Am Donnerstag der nächsten Woche werden wir uns wieder treffen. Ich denke, dass wir die erfolgreiche Kooperation - mit der Industrie auch durch Gründerfonds und auf neuen Wegen gerade mit kleinen und mittelständischen Unternehmen - fortsetzen sollten.

All das können wir nur erfolgreich tun, wenn wir Europa als Ganzes stärken. Deshalb sage ich auch hier noch einmal: Deutschland und Frankreich haben im letzten Jahr viel dafür getan, dass unsere gemeinsame Währung, der Euro, eine stabile Zukunft hat, dass wir die Vorteile des Euro gemeinsam genießen können, aber dass wir auch nicht im Mittelmaß verharren, sondern dass wir uns einem Gesamtpaket der verbesserten Wettbewerbsfähigkeit verschreiben.

Deshalb ist der Pakt für den Euro, der ein Euro-Plus-Pakt geworden ist, weil auch sechs Länder teilnehmen, die nicht zur Eurozone gehören, ein wichtiger Schritt gewesen. Er wäre ohne die deutsch-französische Kooperation nicht möglich gewesen. Dass wir andere davon überzeugen konnten, für mehr Wettbewerbsfähigkeit zusammenzuarbeiten, unsere Politiken zu koordinieren und dies auch jährlich auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs durch ganz konkrete Verpflichtungen deutlich zu machen, ist ein entscheidender Schritt und ein entscheidendes Bekenntnis zu einer europäischen Kooperation.

Wir haben uns damit den Zweifeln, die auf den Finanzmärkten gegenüber Europa geäußert wurden, politisch entgegengestemmt. Wir wissen aber auch: Ein politisches Bekenntnis allein reicht nicht, sondern unsere Wirtschaft muss wettbewerbsfähig sein und unsere Haushalte müssen stabil sein. Deshalb ist es gut, dass Deutschland und Frankreich die Kultur der Stabilität in einer Zeit der Krise um den Euro herum sehr, sehr deutlich gemacht haben. Wir in Deutschland haben mit unserer Schuldenbremse hierbei wichtige Schritte vorgenommen.

Wir können die Zweifel der Finanzmärkte nicht allein durch politische Bekenntnisse bekämpfen, sondern wir müssen angesichts einer Welt, die sich stürmisch und rasant entwickelt, als Europa Resultate liefern. Deshalb ist es bei dem Wettbewerbspakt so wichtig, dass wir uns nicht am Durchschnitt Europas und auch nicht nur an den Besten in Europa orientieren, sondern dass wir immer auch einen Blick auf unsere strategischen Partner werfen, auf die aufstrebenden Länder wie China, Indien, Brasilien und natürlich auf unsere transatlantischen Partner und Japan. Es nützt nichts, wenn Europa sich im Club der 27 wohl fühlt und derweil vergisst, wohin die Welt marschiert. Deshalb ist es wichtig, dass wir auch in dieser Hinsicht unserer Verantwortung gegenüber unseren zukünftigen Generationen gerecht werden. Deshalb ist Europa eine Solidargemeinschaft, aber auch eine Verantwortungsgemeinschaft.

Europa ist ein Kontinent, der seine Leistung zeigt und in Zukunft deutlich machen wird. Was könnte da besser geeignet sein als die HANNOVER MESSE? Die HANNOVER MESSE ist ein aussagekräftiges Konjunkturbarometer. Sie macht in jedem Jahr deutlich, wo wir stehen. Ich möchte den Firmen, die in den konjunkturschwächeren Jahren der großen Wirtschaftskrise Flagge gezeigt haben, recht herzlich danken. Aber ich möchte auch denen ganz herzlich willkommen sagen, die in diesem Jahr zusätzlich mit dabei sind.

6.500 Unternehmen aus 65 Ländern - das ist eine Schau von weltweiter industrieller Kompetenz. Deshalb sage ich: Diese Industriemesse wird auch in diesem Jahr ganz eindeutig dem lateinischen Namen "industria" gerecht und macht ihm alle Ehre - das heißt nämlich Fleiß und Betriebsamkeit. Ich bin mir ganz sicher, dass die nächsten Tage genau dies zeigen werden: Fleiß und Betriebsamkeit und Ergebnisse, die dadurch entstanden sind. Hoffnung für die Zukunft und Mut zu neuen Wegen - das sollte das prägende Merkmal der diesjährigen HANNOVER MESSE sein.

Ich begrüße Sie ganz herzlich, allen voran unsere französischen Freunde als Aussteller und als Freunde in Bezug auf die politische Partnerschaft, und Sie alle, die Sie heute hierher nach Hannover gekommen sind. Lassen Sie es eine erfolgreiche Messe sein. Ich wünsche allen Ausstellern viel Erfolg und darf jetzt sagen: Die HANNOVER MESSE 2011 ist eröffnet.


*


Quelle:
Bulletin Nr. 36-3 vom 03.04.2011
Rede von Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel zur Eröffnung der
HANNOVER MESSE 2011 am 3. April 2011 in Hannover
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. April 2011