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UNTERNEHMEN/2556: Mehr als 800.000 Beschäftigten werden durch Gesetzeslücken Mitbestimmungsrechte vorenthalten (idw)


Hans-Böckler-Stiftung - 20.04.2016

Mehr als 800.000 Beschäftigten werden durch Gesetzeslücken Mitbestimmungsrechte vorenthalten


Zahlreiche Unternehmen umgehen die Mitbestimmung und gefährden damit ein Erfolgsmodell. Zu diesem Ergebnis kommen aktuelle Auswertungen der Hans-Böckler-Stiftung. Die Politik sollte gesetzlich nachbessern und Rechtslücken schließen.


Dass die hiesige Mitbestimmung ein Standortvorteil ist, hat sich sogar unter französischen Managern herumgesprochen. "Man diskutiert knallhart mit den Arbeitnehmervertretern, aber am Ende einigt man sich, und die Gewerkschaften tragen die Konzernstrategie mit. Daraus ergibt sich eine ungemeine Stärke", so Michelin-Chef Jean-Dominique Senard im Oktober 2012. Die Deutschen seien sich ihres Glücks vermutlich gar nicht bewusst. Tatsächlich setzen etliche deutsche Unternehmer dieses Glück aufs Spiel: Mehr als 800.000 Beschäftigte von Großkonzernen werden in Deutschland durch juristische Tricks um die paritätische Mitwirkung im Aufsichtsrat gebracht. Zu diesem Ergebnis kommen Dr. Norbert Kluge, Dr. Sebastian Sick und Dr. Lasse Pütz. Die Experten der Hans-Böckler-Stiftung geben erstmals einen umfassenden Überblick über die Praktiken, mit denen Unternehmen die gesetzlichen Mitspracherechte der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat aushebeln.

Der Soziologe und die beiden Juristen sehen insgesamt die Gefahr eines schleichenden Ausblutens, wenn sich Unternehmen der Mitbestimmung entziehen. Sie stützen sich auf Daten, die der Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Walter Bayer von der Universität Jena im Auftrag der Stiftung ermittelt hat, sowie auf eigene Untersuchungen. Ende 2015 gab es insgesamt 635 paritätisch mitbestimmte Unternehmen, 2002 waren es noch 767. Paritätische Mitbestimmung sieht das Gesetz für Kapitalgesellschaften mit mindestens 2.000 Beschäftigten in Deutschland vor. Hinzu kamen etwa 1.500 Unternehmen, die mehr als 500 Beschäftigte und eine Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat hatten. Umgehungsmöglichkeiten durch europäische Rechtsformen, Defizite der deutschen Gesetzgebung und "Gesetzesignoranz" führten aber dazu, dass kaum neue Unternehmen hinzukommen, so die Experten.

Dass sich Unternehmen mitunter schlicht rechtswidrig verhalten, hat eine frühere Analyse von Bayer und seinem Kollegen Thomas Hoffmann gezeigt. Die Wissenschaftler haben sich eine Stichprobe von GmbHs angeschaut, die zwischen 750 und 1.250 Mitarbeiter beschäftigen und nicht unter den Tendenzschutz fallen. Nach dem so genannten Drittelbeteiligungsgesetz müssten sie eigentlich einen mitbestimmten Aufsichtsrat haben. Tatsächlich verfügt nur knapp die Hälfte der untersuchten Firmen über ein entsprechendes Gremium. 56 Prozent wenden das Gesetz nicht an. Konsequenzen müssen sie nicht fürchten, weil die Vorschrift keine Sanktionen vorsieht.

"Kein Gesetz zur Mitbestimmung hindert Unternehmen in Deutschland daran, Mitbestimmung zu unterminieren. Wir beobachten einerseits illegale Praktiken, die aber ohne Folgen bleiben. Und wir sehen andererseits komplexe Konstruktionen, die an Offshore-Geschäfte erinnern, mit denen Rechtslücken ausgenutzt werden", sagt Mitbestimmungsexperte Kluge. "All diese Unternehmen unterlaufen offenbar bewusst bewährte soziale Standards. Das wirft die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Verantwortung auf."

Besonders problematische Verhältnisse konstatieren die Fachleute der Stiftung im Einzelhandel. Dort zählen sie mittlerweile mehr mitbestimmungsfreie als paritätisch mitbestimmte Unternehmen mit mehr als 2.000 Beschäftigten. In den 21 Einzelhandelskonzernen, die sich der Mitbestimmung über Rechtslücken entziehen, würden rund 400.000 Arbeitnehmer im Inland von der Mitwirkung im Aufsichtsrat ausgeschlossen. Zu diesen Konzernen gehören unter anderem Aldi, Norma, Edeka, die Schwarz-Gruppe mit Lidl und Kaufland, Netto, C&A, H&M, Primark, Zara, Müller-Drogeriemärkte, Bauhaus, Zalando und Deichmann.

Wie Strategien zur Aushebelung von Mitbestimmungsrechten funktionieren, zeigen die Experten am Beispiel Aldi. Die rechtlich unabhängigen Unternehmen Aldi Süd und Aldi Nord, die zusammen weltweit 170.000 und deutschlandweit 66.000 Menschen beschäftigen, werden durch zwei Familienstiftungen gesteuert. Den Stiftungen können die Arbeitnehmer aber nicht zugerechnet werden, weil diese vom Mitbestimmungsgesetz nicht erfasst werden. Daher kommen sie auch nicht als "herrschende Unternehmen" in Betracht, die einen mitbestimmten Aufsichtsrat bilden müssen. Unterhalb der Stiftungsebene operieren verschiedene Regionalgesellschaften, die gerade so groß sind, dass sie die Schwelle von 2.000 Mitarbeitern für die Anwendung des Mitbestimmungsgesetzes nicht überschreiten. Die gewählte Form der GmbH & Co. KG stellt zugleich sicher, dass es auch keine Drittelbeteiligung gibt, weil diese Unternehmensart vom Gesetz ausgenommen ist. Auf diese Weise werde den Aldi-Beschäftigten komplett ihr Recht auf unternehmerische Mitbestimmung vorenthalten, erklärt der Unternehmensrechtler Sick.

Eine weitere Möglichkeit, sich der Mitbestimmung zu entziehen, bietet die Europäische Aktiengesellschaft (SE). Die Praxis zeige, dass Unternehmen regelmäßig kurz vor Erreichen der Schwellenwerte von 500 Mitarbeitern für die Drittelbeteiligung oder 2.000 für die 1976er-Mitbestimmung zur SE umgewandelt werden. Da dabei das Vorher-Nachher-Prinzip gilt, der Status quo der Mitbestimmungsrechte also eingefroren wird, können sich Firmen auf diese Weise unwiderruflich aus dem System der Mitbestimmung verabschieden. Die Experten gehen mit Professor Bayer von etwa 50 Unternehmen aus, die aufgrund dieses Mechanismus nicht paritätisch mitbestimmt sind.

Auch Konstruktionen mit ausländischen Rechtsformen wie beispielsweise die Ltd. & Co. KG können zur Umgehung von Arbeitnehmerrechten instrumentalisiert werden. Grund: Die deutschen Mitbestimmungsgesetze stammen aus einer Zeit, als die weitgehende europäische Niederlassungsfreiheit noch nicht absehbar war. Deshalb beziehen sich die Vorschriften in ihrem Wortlaut auf Unternehmen in deutscher Rechtsform. Kombinieren Firmen deutsche und ausländische Rechtsformen, fallen sie nach herrschender Meinung nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Das ist nach europäischem Recht auch Firmen möglich, die ihren Sitz und den Schwerpunkt ihrer Geschäfte in Deutschland haben. Die Zahl der in Deutschland ansässigen größeren Unternehmen mit einer solchen Rechtsform steigt kontinuierlich, zeigen die Erhebungen: Im Juni 2014 gab es 94 Firmen mit jeweils mehr als 500 Arbeitnehmern, denen so Mitsprache im Aufsichtsrat verweigert wird. Von diesen nutzten 2005 erst 46 die Konstruktion, 2010 waren es 70.

Der Standortvorteil Mitbestimmung sei durch die vielen Ausweichmöglichkeiten in Gefahr, stellen die Experten der Hans-Böckler-Stiftung fest. Deshalb empfehlen sie der Politik, dort gesetzlich aktiv zu werden, wo sich die Erosion besonders leicht aufhalten lässt und wo sie unterstreichen kann, dass ihr Sicherung und Ausbau der Mitbestimmung ein ernsthaftes gesellschaftspolitisches Anliegen ist. Das Ziel: "Kein Unternehmen soll durch geschickte Wahl der Rechtsform seine Arbeitnehmer um ihre Mitbestimmungsrechte im Aufsichtsrat bringen dürfen."

Dafür empfehlen die Forscher drei zentrale Reformen: Zum einen müsse im SE-Beteiligungsgesetz klargestellt werden, dass Mitbestimmung in einer SE neu verhandelt werden muss, wenn die Zahl der Beschäftigten in Deutschland über die Schwellenwerte steigt. Dies solle als "strukturelle Änderung" im Gesetz definiert werden, so die Experten. Zum Zweiten müsse im Drittelbeteiligungsgesetz die gleiche Konzernregelung wie im Mitbestimmungsgesetz eingeführt werden, wonach alle Arbeitnehmer einem "herrschenden Unternehmen" zugerechnet werden. Außerdem solle klarer als bisher in den Mitbestimmungsgesetzen geregelt werden - und insbesondere auch ins Drittelbeteiligungsgesetz aufgenommen werden -, dass die GmbH & Co. KG lückenlos erfasst wird. Und drittens plädieren die Mitbestimmungsexperten der Hans-Böckler-Stiftung dafür, rechtlich auszuschließen, dass ausländische Rechtsformen genutzt werden können, um die Mitbestimmung der Beschäftigten auszuhebeln.


Weitere Informationen unter:
http://www.boeckler.de/pdf/v_2016_04_21_programm.pdf
- Symposium "Aktuelle Fragen zum Recht der Unternehmensmitbestimmung". Das Symposium wird von der Hans-Böckler-Stiftung und dem Hugo-Sinzheimer-Institut in Kooperation mit dem Deutschen Gewerkschaftsbund veranstaltet und findet am 21. April 2016 in Berlin statt.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution621

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Hans-Böckler-Stiftung, Rainer Jung, 20.04.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. April 2016

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