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VERKEHR/1220: Der Pendler - das unbekannte Wesen (DFG)


forschung 2/2011 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Der Pendler - das unbekannte Wesen

von Christian Holz-Rau, Dennis Guth, Joachim Scheiner


Von der Wohnung zur Arbeit - mal kurz, mal lang: Für immer mehr Menschen in Großstadtregionen ist das Berufspendeln längst notwendige Normalität. Für die Wissenschaft ist es ein hochkomplexes Phänomen, das gerade erst entdeckt wird.


Ein beliebiger Montagmorgen im Ruhrgebiet: Der Verkehrsfunk bringt nur noch Staus ab fünf Kilometern Länge, sonst wären es zu viele. Die Regionalbahn von Dortmund nach Düsseldorf ist wie üblich extrem überfüllt und einmal mehr verspätet. Abertausende von Erwerbstätigen fahren zur Arbeit von einer Ruhrgebietsstadt in die andere oder reisen aus dem Sauerund Münsterland an. Alle sind Berufspendler. Wer dagegen in der Nähe seines Wohnortes arbeiten kann, pünktlich zu Fuß oder mit dem Fahrrad zur Arbeit kommt, wird heute nicht mehr belächelt, sondern beneidet.

Das regelmäßige Pendeln aus beruflichen Gründen ist nicht nur im Ruhrgebiet längst zum Alltag geworden - doch bislang kaum hinterfragt und damit ein nahe liegendes Forschungsthema für die Verkehrsund Raumwissenschaftler an der TU Dortmund.

Der Fragen sind viele: Warum ist Pendeln heute so selbstverständlich? Und wie haben sich die Pendlerströme und -strukturen seit den 1970er-Jahren verändert? Den Wandel des Berufspendlerverkehrs datengestützt nachzuzeichnen und zu analysieren - das will das Dortmunder Projektteam, bestehend aus drei Wissenschaftlern und einer Wissenschaftlerin. Zwei pendeln selbst, arbeiten in Dortmund und wohnen außerhalb. Einer von ihnen ist nie nach Dortmund gezogen. Von Essen nach Dortmund zur Arbeit zu fahren - das ist Normalität nicht nur in diesem Ballungsraum.

Eine Wissenschaftlerin ist aus familiären Gründen nach Braunschweig gezogen - sie ist Fernpendlerin nach Dortmund. Binnenpendler, Regionalpendler und Fernpendler - auch die eigene Betroffenheit und persönliche Erfahrung bietet eine gute Grundlage für ein Forschungsprojekt, das eng mit einem Parallelprojekt an der ETH Zürich kooperiert.

Eine der zentralen räumlichen Entwicklungen in Deutschland, die sich auf den Berufsverkehr ausgewirkt haben, war über lange Zeit die Randwanderung oder "Suburbanisierung" der Wohnbevölkerung. Haushalte zogen aus den Großstädten in räumlich benachbarte kleinere Gemeinden, in das "Umland". Die meisten Berufstätigen behielten ihren Arbeitsplatz bei und pendelten dann Tag für Tag in ihre Stadt. Dies ist in der Raumplanung seit langem bekannt und zeigt sich auch in unseren Auswertungen. Seit einiger Zeit scheint diese Randwanderung zumindest gebremst. Das Stichwort der Stadtentwicklungsforschung lautet "Reurbanisierung" - ein erneutes Wachstum der Städte nach der Urbanisierung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.

Leicht zeitversetzt zur lange dominanten Suburbanisierung der Wohnbevölkerung entstanden auch mehr Arbeitsplätze außerhalb der Großstädte. In der Fachsprache spricht man von der "Ausreifung" oder "Verstädterung" des Umlandes, gelegentlich auch von "Post-Suburbanisierung". Resultat sind "polyzentrische Stadtregionen" mit einer großen Anzahl von Arbeitsplätzen auch in der Umgebung der Großstädte.

Diese Suburbanisierung der Arbeitsplätze könnte zu kürzeren Wegen führen, sofern die Berufstätigen, die im Umland wohnen, nun dort arbeiten. Die Hypothese von der "Abkopplung des Umlandes von der Kernstadt" ist für einige Regionen der USA nachgewiesen worden. Kürzere Wege könnten sich auch aus dem "Reurbanisierung"-Trend ergeben.

Wie lässt sich diese Hypothese anhand der verfügbaren Daten überprüfen? Man kann zunächst die sich wandelnden Aus- und Einpendlerraten der Großstädte analysieren. Die Auspendlerrate gibt dabei den Anteil der Beschäftigten an, die außerhalb ihres Wohnortes arbeiten, also auspendeln. Die Einpendlerrate ist dagegen der Anteil der Beschäftigten in den Großstädten, die außerhalb wohnen, mithin einpendeln.

Wenn sich das Umland von seiner Kernstadt "abkoppelt", müssten diese Aus- und Einpendlerraten mit der Zeit abnehmen. Für diese Analysen sind angesichts unterschiedlicher Datengrundlagen einige zusätzliche Annahmen und Datenanpassungen erforderlich. Doch für die großen Trends lassen die Analysen verlässliche Aussagen erwarten.

Bleiben wir zunächst im Ruhrgebiet und betrachten die Stadt Dortmund. Die Auspendlerrate für Dortmund betrug im Jahr 1970 knapp 9 Prozent, 1987 etwa 18 Prozent, 1999 fast 31 Prozent und im Jahr 2007 mehr als 35 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Einpendlerrate von 14 Prozent (1970) über 26 Prozent (1987) und 37 Prozent (1999) auf 43 Prozent im Jahr 2007. Es pendeln also immer mehr Dortmunderinnen und Dortmunder aus, und gleichzeitig fahren immer mehr Beschäftigte zu ihrer Arbeit nach Dortmund hinein. Eine Abkopplung ist dies nicht, sondern im Gegenteil eine zunehmende Verflechtung in beiden Richtungen.

Für allgemeinere Analysen betrachten wir einige Großstädte in Deutschland. Für die Zeitpunkte 1970 und 1987 können wir dies nur für die alten Bundesländer tun. In allen Großstädten und zu allen untersuchten Zeitpunkten sind danach die Einpendlerraten höher als die Auspendlerraten. Dies ist nicht überraschend, die zahlreichen Arbeitsplätze in den Großstädten sind Pendlermagnete.

Besonders viel wird danach in den Ruhrgebietsstädten gleichzeitig ein- und ausgependelt. Im Jahr 2007 lag die Auspendlerrate bei fast 40 Prozent, die Einpendlerrate mit 45 Prozent kaum darüber. Unser Projekt liegt also mit einer Einpendlerrate von 50 Prozent bei vier Personen im Ruhrgebietsdurchschnitt. Die Besonderheit des Ruhrgebiets: Ein- und Auspendlerraten halten sich fast die Waage.

Stadtstaaten haben dagegen die geringsten Auspendlerraten - im Jahr 2007 weniger als 20 Prozent. Die übrigen Großstädte weisen Auspendlerraten von etwa 30 Prozent im Jahr 2007 auf. Ihre Bedeutung für den Einpendlerverkehr ist dagegen deutlich höher. Den höchsten Wert erreicht Frankfurt am Main mit 65 Prozent.

In den letzten 40 Jahren stiegen in allen Regionen der alten Bundesländer die Ein- und die Auspendlerraten. Eine Abkopplung des Umlandes lässt sich in keiner der Regionen beobachten. Umgekehrt nimmt überall der Anteil derjenigen ab, die in der gleichen Stadt wohnen und arbeiten. Die Zeiten der stärksten Zuwächse des Pendelns scheinen allerdings vorbei. Sie lagen bei den Einpendlerraten meist zwischen 1970 und 1987 und bei den Auspendlerraten meist zwischen 1987 und 1999.

Entgegen dieser Abschwächung haben sich die Verflechtungen immer weiter ausgedehnt. Besonders deutlich zeigt sich das bei den Fernpendlerströmen. Schauen wir dazu nach Berlin. Die meisten Berlinerinnen und Berliner arbeiten natürlich in ihrer eigenen Stadt. Die beiden stärksten Auspendlerströme führen kurz über die Stadtgrenze hinaus nach Potsdam und nach Schönefeld. Danach folgen als wichtigste Arbeitsorte der Berliner bereits Hamburg, Frankfurt am Main und München. Der Strom nach Hamburg hat binnen acht Jahren, zwischen 1999 und 2007, von allerdings niedrigem Niveau um mehr als 60 Prozent zugenommen, die Ströme nach Frankfurt am Main und München jeweils um ein Drittel. Natürlich legen die meisten dieser Pendlerinnen und Pendler den Weg nicht täglich zurück. Die meisten leben phasenweise an zwei Orten.

Die Zunahme der Pendlerströme steht sicherlich im Zusammenhang mit räumlichen Entwicklungen wie denen der Suburbanisierung von Wohnstandorten und Arbeitsplätzen. Dies ist aber längst nicht die wichtigste, geschweige denn die einzige Erklärung. Denn es zeigt sich, dass die Zunahme der Pendlerströme wesentlich stärker ausfällt als die Veränderungen der räumlichen Strukturen. Selbst in Städten und in Phasen, in denen die Anzahl der Arbeitsplätze der Städte deutlich zugenommen hat, sinkt die Zahl der Binnenpendler. Auch die starke Zunahme der Fernpendlerströme lässt sich nicht aus räumlichen Entwicklungen allein erklären.

Zahlreiche gesellschaftliche Trends tragen zu mehr regionalen und überregionalen Pendlerverflechtungen bei. Eine Voraussetzung gerade für das regionale Pendeln ist die weite Verbreitung des Autos. Außerdem wird es mit zunehmender beruflicher Qualifizierung immer schwieriger, einen passenden Arbeitsplatz in Wohnortnähe zu finden. Wenn Arbeitsplätze "um die Ecke" liegen, entsprechen sie häufig nicht der eigenen Ausbildung und Qualifikation. Hinzu kommen zeitlich befristete Arbeitsverträge, bei denen sich ein Umzug kaum lohnt. In immer mehr Paarhaushalten sind beide erwerbstätig. Einer muss dann Wenn Bus oder Bahn streiken, haben Nahund Fernpendler ein Problem. Berufliche Mobilität ist auf gut funktionierende Verkehrsverbindungen angewiesen. meist pendeln, in der Regel der Mann. Hinzu kommen politische Forderungen nach hoher Mobilität. Die Bereitschaft zum Pendeln wird vorausgesetzt.

Je stärker die Karriereorientierung ist, umso relevanter wird das Fernpendeln, wenn auch meist als zeitlich befristete Form der Alltagsorganisation. Gerade das Fernpendeln wird unterstützt durch die Verbesserungen der Verkehrssysteme im Fernverkehr (ICE, Bundesautobahnen und preisgünstige Flugverbindungen). Diese gesellschaftlichen Hintergründe des Pendelns lassen sich allerdings mit den vorliegenden Daten nicht untersuchen. Sie dienen als Hintergrund zum Verständnis eines hochkomplexen Phänomens, das es weiter zu erforschen lohnt.


Prof. Dr.-Ing. Christian Holz-Rau, Dipl.-Geogr. Dennis Guth und PD Dr. rer. pol. Joachim Scheiner sind an der Fakultät für Raumplanung der Technischen Universität Dortmund tätig.

Adresse: Fachgebiet Verkehrswesen und Verkehrsplanung
an der TU Dortmund, August-Schmidt-Straße 10, 44227 Dortmund

Förderung in der Einzelförderung der DFG

www.vpl.tu-dortmund.de/cms/de/forschung/forschungsprojekte/pendler/index.htmlIngenieurwissenschaften


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Quelle:
forschung 2/2011 - Das Magazin der Deutschen Forschungsgemeinschaft, S. 4-8
mit freundlicher Genehmigung der Autoren
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2012