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VERKEHR/1533: Alles auf eine Karte? (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 159/März 2018
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Alles auf eine Karte?

Kooperationen von Nahverkehr und Mobilitätsanbietern gestalten sich schwierig

von Christian Scherf


Kurz gefasst: Kooperationen zwischen Nahverkehrsbetreibern, Parkraummanagern, Leihrad- oder Carsharing-Anbietern sind noch immer selten. Ein Hemmnis bei der Vernetzung verschiedener Mobilitätsdienste durch Chipkarten ist nicht nur die mangelnde Nachfrage, sondern auch die Bedingung der Kooperation zwischen Anbietern. Denn nur der Nahverkehr zählt zur Daseinsvorsorge. Andere Angebote folgen anderen Regeln.

Die Verkehrswende, also der Umstieg auf klimaschonende und ressourceneffiziente Mobilität, scheitert am Privatwagen: Viel zu viele der Schadstoffe verursachenden Autos sind nach wie vor auf den Straßen unterwegs. Die herkömmliche Alternative zum Privatauto bildet der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV), bestehend aus Bussen, Bahnen und Taxis. Doch wer versucht, auf den ÖPNV umzusteigen, merkt schnell: Das Ticket gilt nur in den Verkehrsmitteln des jeweiligen Verbunds. Mit derselben Fahrkarte weiterzufahren, Carsharing zu nutzen oder ein Taxi zu zahlen, ist nahezu unmöglich. Noch abwegiger erscheint die Nutzung der Fahrkarte als Parkausweis oder gar als Flugticket. Bis heute gibt es in Deutschland keinen Anbieter, der all diese Dienstleistungen bundesweit aus einer Hand anbietet. Ohne Anbieterkooperationen sind daher keine nahtlosen Mobilitätsdienstleistungen denkbar.

Ein Versuch, den Nutzern die Übergänge zwischen den Angeboten zu erleichtern, ist die Mobilitätskarte. Damit wird eine Kunststoffkarte im Scheckkartenformat bezeichnet, die oft mit Mikrochip ausgestattet ist. Von einer herkömmlichen Fahrkarte unterscheidet sich eine Mobilitätskarte dadurch, dass sie nicht nur im ÖPNV als Ticket gilt, sondern darüber hinaus auch zum Öffnen von Carsharing-Autos oder zum Entriegeln von Leihfahrrädern einsetzbar ist. Zudem kann eine Mobilitätskarte Zugänge zu Parkhäusern und Radabstellanlagen bieten, zum Entleih von Mietwagen oder Wohnmobilen berechtigen sowie als bargeldloses Bezahlmedium in Taxis und als Rabattkarte in Geschäften dienen.

Personenbeförderung ist in Deutschland jedoch ein besonderes Gewerbe, das einer starken Regulierung unterworfen ist. Es zählt zur Daseinsvorsorge, also zur Grundabsicherung des modernen Lebens, die von der Bevölkerung nicht selbst erbracht werden kann. Bis zur automobilen Massenmotorisierung war damit die Gewährleistung aller Fahrten gemeint, die nicht aus eigener Kraft beziehungsweise mit privaten Reit- und Zugtieren unternommen werden konnten. Nahezu alle vollwertigen Personenverkehrsmittel wurden damals als Teil der Daseinsvorsorge definiert. Aus diesem Grund - wie auch aus Interesse öffentlicher Unternehmen - wurde der ÖPNV schon in der Zwischenkriegszeit staatlich reguliert. Die Gesetze aus dieser Zeit gelten im Wesentlichen bis heute. Darum besteht im ÖPNV unter anderem die Genehmigungs- und Betriebspflicht: Erhält ein Nahverkehrsbetreiber die Genehmigung zur Bedienung bestimmter Linien oder Areale, ist der Betrieb planmäßig durchzuführen und bis zum Ende der Genehmigung aufrechtzuerhalten. Ausgenommen sind lediglich Fälle höherer Gewalt, zum Beispiel Unwetter. Im Gegenzug werden die Betreiber des ÖPNV vor direkter Konkurrenz durch direkte Wettbewerber geschützt. Angebote, die wirtschaftlich nicht gedeckt, aber politisch gewünscht sind, erhalten Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln, die Mobilitätsdienstleistern außerhalb des ÖPNV nicht gewährt werden. Dies betrifft das Carsharing, das überwiegend von kleinen und mittleren Unternehmen, aber auch von Ablegern der Autoindustrie angeboten wird. Diese Akteure besitzen erheblich größere Freiräume in der Angebotsgestaltung. Fahrradverleihsysteme befinden sich in einer Schnittmenge zwischen öffentlicher Daseinsvorsorge und Privatwirtschaft: Einige werden von Städten gegen Gewährung von Zuschüssen ausgeschrieben, andere aber auch völlig eigenwirtschaftlich betrieben. Ergänzende Dienstleistungen wie zum Beispiel das Parkraummanagement, für das es sowohl öffentliche als auch private Betreiber gibt, lassen sich ebenfalls nicht eindeutig der Daseinsvorsorge zuordnen.

Es sind zum einen die abweichende äußere Regulierung und zum anderen die inneren Aktivitätsunterschiede, die mit Mobilitätskarten zusammengebracht werden. Damit das für die Nutzer reibungslos funktioniert, müssen sich sämtliche teilnehmenden Anbieter auf die Karteneigenschaften verständigen und mindestens für die Geltungsdauer des Angebots zusammenarbeiten. Angesichts abweichender Regeln und Aufgaben gestalten sich die Kooperationen jedoch schwierig. Um mehr über die Herausforderungen und Hemmnisse herauszufinden, wurden 28 Interviews mit Entwicklern und Herausgebern von Mobilitätskarten geführt. Die Charakterisierung der befragten Dienstleister geschah aus der Perspektive der sozialen Welten, die von dem US-amerikanischen Soziologen Anselm L. Strauss geprägt wurde.

Angehörige einer bestimmten sozialen Welt sind dadurch gekennzeichnet, dass sie derselben Kernaktivität nachgehen. Diese Aktivität kann ein Gewerbe, aber auch ein Hobby oder eine Religion sein. Den Prozess des Austauschs zwischen Repräsentanten verschiedener sozialer Welten bezeichnet Strauss als Arena. Mit diesen Begriffen lassen sich die Kooperationen auf Basis von Mobilitätskarten beschreiben: Soziale Welten umfassen Mobilitätsdienstleister mit derselben Dienstleistungsform. Die Arenen umfassen Kooperationen zur Kartenherausgabe, in denen Vertreter der verschiedenen Dienstleister ihre jeweiligen Aktivitäten aufeinander abstimmen. Die Anbieter des ÖPNV führen im Kern Verrichtungsleistungen aus, bei denen firmeneigene Verkehrsmittel im Auftrag von Aufgabenträgern Linien oder Areale bedienen. Mobilitätsdienstleister außerhalb des ÖPNV bieten hingegen mehrheitlich Bereitstellungsleistungen an, indem Leihfahrzeuge oder auch Parkraum und Infrastrukturen für eine befristete Dauer an Endkunden bereitgestellt werden. Im Unterschied zu den Verrichtungsleistungen des ÖPNV beziehen sich die Bereitstellungsleistungen weniger auf den Akt der Fortbewegung selbst, als vielmehr auf vor- und nachgelagerte sowie rahmende Leistungen. Ferner gibt es Mobilitätsdienstleister, die sich auf Vermittlungsleistungen fokussieren, bei denen Privatpersonen ihre eigenen Fahrzeuge anbieten oder selbst die Beförderung übernehmen. Die Dienstleister bieten dazu die Vermittlungsplattform an.

Die Befragung der unterschiedlichen Anbieter von Mobilitätskarten ergab folgendes Bild: Verbreitet sind zumeist nur solche Karten, die zugleich Trägermedien gängiger ÖPNV-Fahrscheine sind und daher auch von Menschen genutzt werden, die vom Leistungsumfang der Karte sonst nichts in Anspruch nehmen. Mobilitätskarten, die separat beziehungsweise zusätzlich zu Standardprodukten des ÖPNV angeboten werden, sind hingegen nur in geringen Stückzahlen im Umlauf, die selten vierstellig sind. Dieser nahezu flächendeckende Befund über ganz Deutschland deutet darauf hin, dass zwischen den Anbietern allgemeine Hemmnisse vorliegen, die die Kooperationen von vorneherein erschweren. Als Ergebnis der Befragung ließen sich drei typische Erschwernisse identifizieren:

Erstens beschränkt sich die Sicht der Kooperationspartner oft auf die Funktion der Karte für die jeweils eigene Dienstleistung. Viele Kartenanbieter eint kein unmittelbarer und umfassender Konsens, sondern der Bezug auf dasselbe Objekt, das sie auf unterschiedliche Weise in ihre bestehende Kernaktivität einbetten. Wenn Akteure nicht direkt, sondern vermittels spezifischer Objekte kooperieren, spricht die US-amerikanische Soziologin Susan L. Star von boundary objects (Grenzobjekten). Mobilitätskarten sind aufgrund ihrer Eigenschaften mögliche Grenzobjekte, denn sie können vieles zugleich sein: Ticketträger, elektronischer Fahrzeugschlüssel, Authentifizierungskarte oder Zahlungsmittel. Die Nutzer benötigen kein eigenes mobiles Endgerät (Smartphone). Der technische Innovationsgrad kann gering sein: Das ÖPNV-Ticket wird bei einigen Karten einfach als Beschriftung aufgedruckt und per Sichtkontrolle geprüft. Sofern gewünscht und rechtlich zulässig, gewährleisten die Karten aber auch komplexeres Ticketing wie die elektronische Speicherung von Abo-Daten oder die fahrtgenaue Kontrolle via Sensoren beim Ein- und Ausstieg. Diese Multifunktionalität von Mobilitätskarten kann die Anbieter dazu verleiten, nur jene Funktion der Karte mitzugestalten, die die eigene soziale Welt betrifft. Für den ÖPNV bleiben die Mobilitätskarten in erster Linie Fahrscheinträger, für die Carsharing-Anbieter sind es elektronische Autoschlüssel, für die Parkhausbetreiber Schrankenöffner usw. Die meisten Mobilitätskarten bieten wenig Leistungen, die nicht auch in separater Form angeboten werden. Sie sind bislang kaum mehr als die Summe ihrer Teile und erscheinen in vielen Fällen als kleinster gemeinsamer Nenner, für den sich die Anbieter nicht auf Veränderungen in ihrer jeweiligen Kernaktivität zu einigen brauchen.

Zweitens wird die Fokussierung auf eine gemeinsame Karte spätestens dann zum Problem, wenn dieses Medium nicht mehr von allen Anbietern zugleich eingesetzt wird. Trotz der rasanten Verbreitung mobiler Endgeräte gilt im ÖPNV der Grundsatz, dass stets alternative Vertriebs- und Authentifizierungswege aufrechtzuerhalten sind. Auch unter kooperationsbereiten ÖPNV-Betreibern besteht daher eine Tendenz zur Pluralisierung und Parallelisierung der Zugangsmedien. Das erschwert die Einigung auf ein neues, zentrales Zugangsmedium. Zwar sind Chipkarten noch immer in der Lage, viele Funktionen abzudecken, doch die Neigung, auf neuere Medien wie das Smartphone umzusteigen, nimmt bei den Anbietern außerhalb des ÖPNV merklich zu. Die unterschiedlichen Geschwindigkeiten beim Einsatz neuer Medien liegen an der Daseinsvorsorge: Sie soll gewährleisten, dass möglichst viele potenzielle Nutzer erreicht werden. Ein Ausschluss bestimmter Nutzergruppen - die etwa kein Smartphone verwenden oder keine Daten weitergeben möchten - steht daher im ÖPNV unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Mobilitätsanbieter außerhalb des ÖPNV sind deutlich freier in der Wahl und Einstellung von Zugangsmitteln. Manche Carsharing-Anbieter verzichten auf separate Mikrochips und setzen in ihrer sozialen Welt ganz auf Smartphone-Applikationen als alleiniges Zugangs- und Zahlungsmedium. Da hingegen die meisten ÖPNV-Betreiber keine oder nur wenige Tickets per Smartphone anbieten, besteht in vielen Gebieten kein gemeinsames Medium mehr.

Drittens bestehen für die Anbieter kaum Anreize, die über Mobilitätskarten angebotenen Leistungen den Erfordernissen der jeweiligen Kooperation anzupassen: Die Nahverkehrsbetreiber haben kaum Veranlassung, mehr anzubieten, als in Ausschreibungen oder Nahverkehrsplänen festgelegt ist. Sie bringen meistens nur Bestandteile ein, die sie ohnehin schon anbieten. Andere Mobilitätsdienstleister wechseln ihre Operationsgebiete hingegen entsprechend der Nachfrage. Aufgrund der unterschiedlichen Rahmenbedingungen können Anbieter von Mobilitätskarten weder eigene Regeln setzen noch gemeinsame Ressourcen erschließen. Im Teufelskreis aus geringem Entwicklungsanreiz und mangelnder Nachfrage bleiben viele Karten Ladenhüter.

Auf Basis der Befragungen und weiterführender Recherchen kann geschlussfolgert werden, dass die geringe Nachfrage nach Mobilitätskarten nicht alleine mit mangelnder Nutzerakzeptanz zu erklären ist. Dass es trotz der Bemühungen kaum einem der untersuchten Herausgeber gelang, eine Karte dauerhaft und umfassend zu etablieren, dürfte an Strukturbedingungen liegen, die neue Angebote bereits vor dem Markteintritt erschweren. Für einen Mehrwert, der sich aus der Kombination oder Neukreation von Leistungen ergeben könnte, braucht es zunächst eine Konsensgrundlage, die über einzelne Karten hinausreicht. Für die Förderung nahtloser Mobilitätsdienstleistungen ist es daher empfehlenswert, auch die Handlungsoptionen der Anbieter zu erhöhen. Denn eine größere Wirkung der Anbieterkooperationen wäre durchaus möglich, wenn die Regulierungen harmonisiert würden. Die rein technische Ertüchtigung der Übertragungsmedien reicht alleine nicht aus, um dem Endnutzer die Mobilität zu vereinfachen. Es bedarf auch eines größeren Gestaltungsfreiraums für die Anbieter und Betreiber. Der ÖPNV könnte von Aufgaben der Daseinsvorsorge entlastet werden, wenn andere Dienstleister stärker beteiligt und entsprechend gefördert würden. Parallel könnte die Regulierung vom öffentlichen auf den individuellen Verkehr verlagert werden, um die Privilegierung des Privatautos abzubauen. Dieser neue Kooperationsrahmen sollte zunächst in Experimentierräumen praktisch erprobt werden, um dann deutschlandweit und letztlich international vereinheitlicht zu werden.


Literatur

• Canzler, Weert / Knie, Andreas: Die digitale Mobilitätsrevolution - Vom Ende des Verkehrs, wie wir ihn kannten. München: oekom 2016.

• Hörster, Reinhard / Köngeter, Stefan / Müller, Burkhard (Hg.): Grenzobjekte - Soziale Welten und ihre Übergänge. Wiesbaden: Springer 2013.

• Scherf, Christian: Volle Fahrt à la carte? - Mobilitätskarten als Vermittlungsversuche zwischen sozialen Welten. München: oekom 2018 (im Erscheinen).

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 159, März 2018, Seite 44-46
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juli 2018

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