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FORSCHUNG/004: Verfassungsgerichte können die Qualität der Demokratie stärken (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 124/Juni 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Die Einhegung der Politik
Verfassungsgerichte können die Qualität der Demokratie stärken

Von Sascha Kneip


Sind Verfassungsgerichte demokratische Akteure oder Fremdkörper in der Demokratie? Fördern sie das Funktionieren der Demokratie, oder stören sie es? Verbessern sie demokratisches Regieren oder nicht? Diese Fragen über die Rolle von Verfassungsgerichten im demokratischen Staat sind seit mehr als 200 Jahren umstritten. Die Befürworter einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit heben hervor, dass ohne funktionierende - und sanktionierende - Verfassungsgerichte Grund- und Bürgerrechte nicht so stark ausgestaltet wären, wie sie es heute sind. Ohne Schutz durch Verfassungsgerichte würden diese Rechte von demokratischen Mehrheiten regelmäßig missachtet. Gegner verweisen darauf, dass die Verlagerung von Entscheidungsmacht von direkt gewählten Parlamenten auf bestenfalls indirekt gewählte Richterinnen und Richter demokratisches Regieren schwäche. Allgemeinverbindliche Entscheidungen würden von einer Handvoll Richter getroffen und nicht mehr von den hierfür legitimierten Abgeordneten. Aus einem "Governing with Judges", wie ein Buchtitel des Politikwissenschafters Alec Stone Sweet lautet, sei ein "Government by Judges" geworden.

Haben sich die modernen liberalen Demokratien tatsächlich von ihrem eigentlichen Ursprung - Volkssouveränität und demokratische Repräsentation - zu weit entfernt? Haben sie vielleicht sogar an demokratischer Qualität verloren, indem sie demokratisch nur schwach legitimierten Richtern die Verfügung über verbindliche Kollektiventscheidungen in die Hand gegeben haben? Unstrittig ist zumindest, dass Verfassungsgerichte durch ihr Agieren Handlungsspielräume der Politik begrenzen können. Ob dies nun aber gut oder schlecht für demokratisches Regieren ist, ist damit noch nicht ausgemacht.

Ob man Verfassungsgerichte als der Demokratie zuträgliche oder abträgliche Akteure begreift, hängt im Wesentlichen davon ab, welchem Demokratiebegriff man anhängt. Wird unter Demokratie (lediglich) die Herstellung allgemeinverbindlicher Entscheidungen durch Mehrheitsentscheid verstanden, so ist in diesem Modell naturgemäß wenig Platz für ein umfassendes Agieren von Gerichten. Begreift man Demokratie hingegen als konstitutionelle und rechtsstaatliche Demokratie, nehmen Verfassungsgerichte einen legitimen Platz in diesem Demokratiemodell ein. Ihr Aufgabenbereich beschränkt sich dann nicht mehr nur auf die Sicherung des demokratischen Verfahrens, sondern erstreckt sich ebenso auf den Schutz weiterer demokratischer Institutionen wie etwa der Grund- und Bürgerrechte - und dies im Konfliktfall auch gegen den ausdrücklichen Willen eines Parlaments oder einer Regierung.

Die Übertragung dieser Schutzfunktion auf Verfassungsgerichte soll die Demokratie jedoch nicht schwächen, sondern ihre Funktionsfähigkeit erst ermöglichen und die Qualität der Entscheidungen erhöhen. Damit stellt sich sofort die Frage nach den Grenzen dieser Kompetenzverlagerung: Welche Politikinhalte sollen legitimerweise durch das demokratisch gewählte Parlament, welche durch ein Verfassungsgericht entschieden werden? Wann wird aus "weniger Politik" "weniger Demokratie"?

Um diese Frage beantworten zu können, bedarf es eines Abgrenzungskriteriums, das zwischen funktionalem (demokratiefreundlichem) und dysfunktionalem (demokratieunfreundlichem) Agieren von Verfassungsgerichten zu unterscheiden hilft. Verfassungsgerichte agieren dann demokratiefunktional, wenn sie die Funktionsfähigkeit und den Schutz der Kernprinzipien der Demokratie gewährleisten. Sie agieren hingegen dann demokratiedysfunktional, wenn sie jenseits des Schutzes der Kernprinzipien in die legitime Gesetzgebungstätigkeit eines Parlaments eingreifen. Die Qualität eines demokratischen Systems verringert sich in dem Maße, wie Verfassungsgerichte demokratieunfreundlich agieren - wenn sie also ihre Kompetenzen auf Kosten der Legislative und der Exekutive überdehnen. Ebenso nachteilig wirkt es sich auf die Qualität einer Demokratie aus, wenn ein Gericht die ihm zugewiesenen Funktionen nicht oder nur unzureichend erfüllt und Beschädigungen der Kerninstitutionen durch andere politische Akteure hinnimmt, ohne dagegen zu intervenieren. Dieser Gedanke ist alles andere als trivial: Er verdeutlicht, dass Verfassungsgerichte sowohl durch ihr Agieren als auch durch ihr Nichtagieren demokratiefunktional wie auch -dysfunktional handeln können. Verfassungsgerichte bewirken nicht schon dann Gutes für die Demokratie, wenn sie sich "aus der Politik heraushalten". Im Gegenteil: Eine Intervention in angeblich "politische Fragen" kann der Demokratie ebenso nutzen wie eine Nichtintervention in tatsächlich primär "politische".

Insbesondere dem Bundesverfassungsgericht ist diese Balance zwischen Zurückhaltung und Eingreifen in die Politik in der Vergangenheit überaus gut geglückt. Betrachtet man alle 1.297 in der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts veröffentlichten und zwischen 1951 und 2005 ergangenen Urteile, in denen Gesetzesnormen geprüft wurden (Normenkontrollverfahren und Verfassungsbeschwerden), zeigt sich, dass deren überwiegende Mehrzahl als demokratiefunktional kategorisiert werden kann. Nur 82 der untersuchten Entscheidungen haben sich nach den hier angelegten Maßstäben als demokratietheoretisch dysfunktional erwiesen. Etwa 6 Prozent der Entscheidungen waren damit demokratisch bedenklich, 94 Prozent haben sich als der Demokratie zuträglich gezeigt.


Funktionale und dysfunktionale Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts im Normenkontrollverfahren (1951 - 2005)

Agieren des Bundesverfassungsgerichts

Funktional
Dysfunktional
Intervention

Funktionale Intervention
­28 % (n = 362)
Dysfunktionale Intervention
­5 % (n = 69)
Nichtintervention

Funktionale Nichtintervention
­66 % (n = 853)
Dysfunktionale Nichtintervention
­1 % (n = 13)

Quelle: Kneip 2009; eigene Darstellung auf Basis der Auswertung von 1.297 Entscheidungen der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts


Die vorliegenden Daten zeigen überdies zweierlei: Erstens hat das Bundesverfassungsgericht in den meisten Normprüfungsfällen gar nicht im Kompetenzbereich des Gesetzgebers interveniert, obwohl es dies aufgrund seiner auch im internationalen Vergleich einzigartigen institutionellen Unabhängigkeit und Stärke häufig hätte tun können; in zwei Dritteln aller Fälle ließ es die geprüften Gesetze unbeanstandet. Zweitens: Wenn es denn in den Aufgabenbereich des Gesetzgebers eingriff, hat das Bundesverfassungsgericht dies überwiegend auf funktionale Art und Weise getan - und damit die Qualität der bundesdeutschen Demokratie insgesamt gestärkt. Anders gesagt: In manchen Fällen hat es zwar Gesetze der Legislative unter Überschreitung seiner demokratischen Kontrollkompetenzen annulliert - etwa, als es Fragen der Vermögen- und Erbschaftssteuer ex cathedra bis ins Detail regelte -, es hat aber in einer weit größeren Anzahl von Fällen demokratiefunktional eine Kompetenzüberschreitung der Legislative sanktioniert und damit der bundesdeutschen Demokratie insgesamt genutzt. Aus den quantitativen Daten können also zwei Erkenntnisse festgehalten werden: Erstens ist das Bundesverfassungsgericht - gemessen an der Gesamtzahl der von ihm entschiedenen Verfahren - kein so starker "Vetospieler" wie gemeinhin vermutet, und zweitens nutzten seine Interventionen - wenn sie stattfanden - der Demokratie eher, als dass sie ihr schadeten.

Die positive Wirkung des Bundesverfassungsgerichts auf die deutsche Politik lässt sich aber nicht nur quantitativ belegen. Auch bei qualitativer Betrachtung erweist sich die Arbeit des Gerichts als vorteilhaft für die deutsche Demokratie, wie ein kursorischer Blick auf die Politikbereiche "Innere Sicherheit" und "Religionspolitik" illustrieren soll. Im Bereich der "Inneren Sicherheit" haben Bundes-und Landesgesetzgeber in den letzten zehn Jahren viele neue Gesetze verabschiedet, durch die bürgerliche Rechte zum Teil massiv eingeschränkt worden sind. Nicht wenige dieser Gesetze sind von Bürgerinnen und Bürgern (und nicht von den politischen Parteien!) vor das Bundesverfassungsgericht getragen worden. Erinnert sei nur an das sogenannte "Verbrechensbekämpfungsgesetz" (das eine weitgehende Einschränkung des Fernmeldegeheimnisses vorsah), das Gesetz über den "Großen Lauschangriff", das Gesetz zum Europäischen Haftbefehl, das Niedersächsische "Gesetz über Sicherheit und Ordnung" (das die Telekommunikationsüberwachung strikter regeln wollte), das Luftsicherheitsgesetz, die hessischen und schleswig-holsteinischen Gesetze zur automatischen Kennzeichenerfassung sowie die zum Teil noch anhängigen Verfahren zur Online-Durchsuchung und zur Vorratsdatenspeicherung. In all diesen Fällen haben die jeweiligen Gesetzgeber mitunter massive Einschränkungen der bürgerlichen Rechte vorgenommen, die nur aufgrund der Interventionen des Bundesverfassungsgerichts zurückgenommen werden mussten. Ohne diese Interventionen wären die betroffenen Grundrechte empfindlich eingeschränkt, wäre ihre Funktionsfähigkeit beeinträchtigt und die demokratische Qualität des Gesamtsystems merklich verringert worden. Dass dies nicht geschehen ist, verdankt sich nahezu ausschließlich der Intervention des Bundesverfassungsgerichts - und den aufmerksamen Bürgerinnen und Bürgern, die von ihrem Recht auf Verfassungsbeschwerde Gebrauch machten.

Dass politische Akteure mitunter zielgerichtet demokratische Grundrechte beschädigen können, dabei eindeutige Verfassungsvorgaben zu umgehen versuchen und nur durch (verfassungs)gerichtliche Intervention gestoppt werden können, zeigt das Beispiel "Kopftuch bei Lehrerinnen" im Bereich der Religionspolitik. Nachdem das Bundesverfassungsgericht im mittlerweile berühmten "Fall Ludin" entschieden hatte, dass Lehrerinnen in der Schule nicht ohne gesetzliche Grundlage das Tragen eines Kopftuchs verwehrt werden darf, verabschiedeten mehrere deutsche Bundesländer entsprechende Verbotsgesetze, die zum Teil aber - entgegen der eindeutigen Vorgabe aus Karlsruhe - nichtmuslimische religiöse Symbole bei Lehrerinnen und Lehrern (zum Beispiel Nonnenhabit, Kippa, Schmuckkreuze) weiter zulassen wollten. Erst die Interventionen der Fachgerichte konnten - die Karlsruher Rechtsprechung zur Wirkung bringend - die gleichheitswidrige Diskriminierung muslimischer Lehrerinnen beenden, indem die entsprechenden Landesgesetze allesamt einer verfassungskonformen Auslegung unterzogen wurden. Wäre es alleine den politischen Akteuren überlassen geblieben, welche religiösen Symbole in der Schule zugelassen werden und welche nicht, wäre eine massive Beeinträchtigung der gleichen Geltung bürgerlicher Rechte zu beklagen gewesen.

Interessant an diesem Fall ist, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Ausgangsentscheidung vor einem allzu weit reichenden Urteil zurückgeschreckt war, indem es ausdrücklich den politischen Akteuren die Kompetenz zusprach, das Ausmaß der Zulassung religiöser Symbole in der Schule zu bestimmen. Resultat dieser Zurückhaltung war die versuchte gleichheitswidrige Schwächung eines demokratischen Grundrechts, die nur auf rechtsstaatlichem Weg wieder ausgeglichen werden konnte.

Zu lernen ist aus diesen Beispielen - wie aus der Arbeit des Bundesverfassungsgerichts insgesamt -, dass die Definition der Reichweite und der Geltung der Grundrechte nicht alleine dem demokratischen politischen Prozess überlassen werden kann. Für die Qualität von Demokratien ist es von entscheidender Bedeutung, dass demokratische Prozeduren rechtsstaatlich eingehegt und von einem starken, demokratisch agierenden Verfassungsgericht überwacht werden. Das Bundesverfassungsgericht ist dieser durchaus nicht einfachen Aufgabe in den letzten Jahrzehnten in fast vorbildlicher Weise gerecht geworden.


Sascha Kneip studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Publizistikwissenschaft an der Universität Mainz und promovierte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit 2004 arbeitet er in der Abteilung "Demokratie: Strukturen, Leistungsprofil und Herausforderungen" des WZB. Zu seinen Forschungsinteressen gehören Rechts- und Verfassungspolitik sowie normative und empirische Demokratieforschung.
kneip@wzb.eu


Kurz gefasst

Verfassungsgerichte sind machtvolle Akteure und zentrale Mitspieler in fast allen liberalen Demokratien. Gleichwohl wird ihre Demokratiekompatibilität mitunter in Frage gestellt, wenn sie -demokratisch vergleichsweise schwach legitimiert - in demokratische Prozesse intervenieren. Eine Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann empirisch belegen, dass das höchste deutsche Gericht in der Vergangenheit überaus demokratiefunktional agierte und damit wesentlich zur Qualität der bundesdeutschen Demokratie beigetragen hat.


Literatur

Sascha Kneip, Verfassungsgerichte als demokratische Akteure. Der Beitrag des Bundesverfassungsgerichts zur Qualität der bundesdeutschen Demokratie, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 2009 (im Erscheinen)

Christian Henkes, Sascha Kneip, "Laizismus durch die Hintertür. Der Kopftuchstreit zwischen Parlamenten und Gerichten", in: WZB-Mitteilungen, Heft 122, 2008, S. 23-26

Alec Stone Sweet, Governing with Judges. Constitutional Politics in Europe, Oxford: Oxford University Press 2000, 232 S.

Georg Vanberg, The Politics of Constitutional Review in Germany, Cambridge: Cambridge University Press 2005, 193 S.


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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 124, Juni 2009, Seite 21 - 23
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. September 2009