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GRUNDGESETZ/093: Analyse des Bundesverfassungsgerichtsurteil zum Lissabonner Vertrag (jW)


junge Welt - Die Tageszeitung - Ausgabe vom 8. Juli 2009

Ja, aber

Analyse: Das Bundesverfassungsgericht bekräftigt den
Lissabonner Vertrag, fordert aber zugleich ein Zustimmungsgesetz,
das die Entscheidungsmacht des Bundestags in EU-Fragen stärkt

Von Gregor Schirmer


Kläger wie Beklagte waren zufrieden oder erklärten sich gar zum Sieger. Alle Beteiligten äußerten am 30. Juni, dem Tag der Urteilsverkündung in Karlsruhe in Sachen Vertrag von Lissabon, sie hätten einen guten Tag für Europa, für den Bundestag und für sich selbst. Was hat das Bundesverfassungsgericht eigentlich beschlossen?

Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hatte über sechs Anträge zu entscheiden. Zwei Anträge wurden im Organstreitverfahren gestellt. Einer vom CSU-Bundestagsabgeordneten Peter Gauweiler, der als unzulässig verworfen wurde, und einer von der Bundestagsfraktion Die Linke, der zwar zum Teil für zulässig erklärt, aber im übrigen als unbegründet zurückgewiesen wurde. Beide Antragsteller rügten, daß durch den Lissabonner Vertrag die Rechte des Bundestags verletzt würden.

Bei den übrigen vier Anträgen handelte es sich um Verfassungsbeschwerden, darunter eine von Diether Dehm und allen anderen Mitgliedern der Linksfraktion. Die Beschwerdeführer sahen ihr Grundrecht auf freie Wahlen verletzt. Die Beschwerden wurden ebenfalls zum Teil für unzulässig erklärt und mit zwei Ausnahmen in einer wichtigen Frage zurückgewiesen. Alle Anträge hatten mit unterschiedlichen Begründungen die Feststellung des Gerichts begehrt, daß das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon gegen das Grundgesetz verstoße. Sie hatten darauf abgezielt, die Ratifikation des Vertrags durch Deutschland zu verhindern. Ohne diese Ratifikation kann der Vertrag nicht in Kraft treten. Es ging in Karlsruhe also um Schwerwiegendes.

Die Linksfraktion und ihre Mitglieder machten im Schwerpunkt die Verletzung des in Artikel 20 des Grundgesetzes (GG) verankerten demokratischen Prinzips durch den Lissabonner Vertrag geltend. Oskar Lafontaine, einer der beiden Fraktionsvorsitzenden, verwies in seinem Plädoyer in der mündlichen Verhandlung auf das demokratische Defizit, die soziale und ökonomische Fehlorientierung und die Militarisierung der EU. Die anderen Antragsteller behaupteten vor allem, daß der Lissabonner Vertrag den Grundsatz der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik verletze. Die Antragsgegner, die Bundesregierung, in der mündlichen Verhandlung vertreten durch Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, und der Bundestag, hielten den Vertrag mit schwachen Argumenten für verfassungsrechtlich völlig in Ordnung. Sie hatten begehrt, die Anträge samt und sonders als unzulässig zurückzuweisen, nur hilfsweise sollten sie als unbegründet verworfen werden.

Das Gericht hat das Zustimmungsgesetz und damit den Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007 für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, mit einem großen Aber: »Nach Maßgabe der Gründe« bestehen »keine durchgreifenden verfassungsrechtlichen Bedenken« gegen das Zustimmungsgesetz. Wer erwartet oder gehofft hatte, ausgerechnet das deutsche Verfassungsgericht würde den Lissabonner Vertrag stoppen, wurde enttäuscht. Das Bundesverfassungsgericht ist in den Herrschaftsmechanismus dieses Staates eingebaut und kann in einer solchen Grundsatzfrage mit internationalen Dimensionen wie der Durchsetzung von Lissabon keine der herrschenden Politik zuwiderlaufende Entscheidung treffen. Es wäre eine politisch-juristische Sensation gewesen, hätte Karlsruhe anders entschieden. Das hätte nämlich das Ende des Vertrags von Lissabon bedeutet. Eine Entscheidung von solcher Tragweite kann vom Bundesverfassungsgericht nicht erwartet werden, selbst dann nicht, wenn es Bedenken gegen den Vertrag hegt, was in den Entscheidungsgründen an verschiedenen Stellen aufleuchtet. Das Ja des Gerichts zu Lissabon ist nicht gerade ein Sieg für all jene, die den Lissabonner Vertrag ablehnen.


Keine Selbstentmannung

Zwei Verfassungsbeschwerden, die von Gauweiler und seinem Parteikollegen im EU-Parlament Franz Ludwig Schenk Graf von Stauffenberg, konnten einen Teilerfolg verbuchen. Das Gesetz über die Ausweitung und Stärkung der Rechte des Bundestags und des Bundesrats in Angelegenheiten der Europäischen Union wurde als grundgesetzwidrig erklärt, weil die Beteiligungsrechte beider Einrichtungen nicht »im erforderlichen Umfang ausgestaltet worden sind«. Das Gesetz sollte mit dem Lissabonner Vertrag in Kraft treten. Es war von den Fraktionen der CDU/CSU, der SPD und der Bündnisgrünen eingebracht, als Stärkung der Rechte des deutschen Parlaments bejubelt und als Beruhigungspille für Lissabon-Kritiker verabreicht worden. Nun mußten sich die Parlamentarier vom höchsten Gericht des Landes sagen lassen, daß sie ihre eigenen Rechte ungenügend verankert haben und zwar in einem verfassungswidrigen Ausmaß. Ein blamabler Vorgang! Dann setzte das Gericht noch eins drauf: »Vor Inkrafttreten der von Verfassungs wegen erforderlichen gesetzlichen Ausgestaltung der Beteiligungsrechte darf die Ratifikationsurkunde der Bundesrepublik Deutschland zum Vertrag von Lissabon (...) nicht hinterlegt werden.« Es zeugt vom Mißtrauen des Gerichts in den Gestaltungswillen des Bundestags, daß zur Ausgestaltung des Gesetzes sehr genaue Vorgaben gemacht wurden.

Zur »Integrationsverantwortung« von Bundestag und Bundesrat gehört es, daß die deutsche Regierung nicht ohne Gesetz in Brüssel »Ja« sagen darf zu einer Änderung der EU-Verträge im vereinfachten Verfahren, zur Einführung einer »gemeinsamen Verteidigung«, zur Erweiterung der Rechte der Unionsbürger, zum Beitritt der EU zur Europäischen Menschenrechtskonvention, zur Erstellung der Wahlordnung zum Europäischen Parlament, zur Übertragung der Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs für Rechtsstreitigkeiten über geistiges Eigentum und bei Entscheidungen zu den Eigenmitteln der Union. Ein Zustimmungsgesetz ist ferner notwendig bei der Anwendung der sogenannten Flexibilitätsklausel, die eine Kompetenzerweiterung der EU ohne Vertragsänderung ermöglicht. Dasselbe gilt für die Erweiterung von Kriminalitätsbereichen, für die die Union Mindestvorschriften erlassen kann. Konstitutive Zustimmung des deutschen Parlaments ist notwendig, wenn die Regierung in den vorgesehenen Fällen den Übergang von der Einstimmigkeit zur qualifizierten Mehrheit oder die Änderung des Gesetzgebungsverfahrens in Brüssel mitbeschließen will. Eine Weisung des Parlaments wird gebraucht, wenn das »Notbremseverfahren« in Gang gesetzt werden soll, mit dem ein Mitgliedstaat Gesetzgebungsakte im Recht auf Freizügigkeit der abhängig Beschäftigten und in Strafsachen verhindern kann. Der Überblick über die vom Gericht dem Parlament aufgetragenen Hausaufgaben zeigt das Ausmaß der bereits beschlossenen Selbstentmannung des Bundestags.

Ob das neue Gesetz nicht bloß die Papierflut und die Redeschlachten im Parlament anschwellen läßt, sondern realiter zu mehr Macht und Kontrolle der Volksvertreter in Europafragen gegenüber der Regierung führt, kann bezweifelt werden. Die Regierung verfügt im Bundestag über die Mehrheit. Es wird ihr nicht schwerfallen, sich ihre europapolitischen Absichten parlamentarisch absegnen zu lassen. Trotzdem: Die verstärkte Befassung des Parlaments mit EU-Angelegenheiten wird zu größerer »Glasnost« führen und der Opposition Gelegenheit zu konstruktivem Widerspruch geben.


BRD bleibt »Vertragsherr«

Die 90 Seiten umfassende Urteilsbegründung können hier nicht umfassend analysiert werden. Sie bedürfen eines genauen Studiums, dem sich hoffentlich auch die Politiker unterziehen. In vielerlei Hinsicht sind die Gründe wichtiger als das Urteil selbst. Dabei ist die Durchsuchung des Textes nach Anknüpfungspunkten für linke Europapolitik ein legitimes Anliegen. Ich kann allerdings der im Bundstag am 1. Juli vorgetragenen Meinung Gregor Gysis, ebenfalls Fraktionsvorsitzender der Linkspartei, nicht folgen, das Gericht habe »den Lissabon-Vertrag völlig neu interpretiert. (...) Dadurch hat der Vertrag zum Teil einen neuen Inhalt. (...) Der Lissabon-Vertrag ist durch Interpretation des Bundesverfassungsgerichts deutlich verändert.« Durch Interpretation kann ein völkerrechtlicher Vertrag nicht verändert werden und keinen neuen Inhalt bekommen. Ich kann aus den Gründen auch nicht herauslesen, daß das Gericht eine solche politische Absicht verfolgte. Juristisch konnte es das auch gar nicht.

Der Lissabonner Vertrag bleibt auch »nach Maßgabe der Gründe«, also in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts, ein Unternehmen, welches das Demokratiedefizit nicht beseitigt und die EU auf einem neoliberalen, sozial abträglichen und militaristischen Weg weiterführt. Dem ist nicht durch Interpretationen, sondern nur durch Änderung der primärrechtlichen Grundlagen der Union beizukommen. Ich hoffe, es bleibt bei der am 30. Juni abgegebenen Erklärung der Linksparteispitze von Lothar Bisky, Gregor Gysi und Oskar Lafontaine, »daß der Lissabon-Vertrag keine ausreichende Grundlage für ein soziales, demokratisches, friedliches Europa legt und dringend nachbesserungsbedürftig ist«. Die Linkspartei sollte aber von der Regierung fordern, daß sie bei der Ratifikation einige Vorbehalte anbringt und der Ratifikationsurkunde eine Erklärung beifügt, daß Deutschland die EU-Verträge nur in der Auslegung des Bundesverfassungsgerichts anwenden wird. Beides ist nach dem »Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge« aus dem Jahr 1969 möglich.

Das zentrale Anliegen der Karlsruher Richter in der Begründung ihres Urteils ist offenkundig die Klärung des Verhältnisses zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Ihre Hauptsorge gilt dem Erhalt der »souveränen Verfassungsstaatlichkeit« Deutschlands. Dazu war Klartext über die Rechtsnatur der EU nötig: Die EU ist ein »Staatenverbund«, kein Bundesstaat: »Der Begriff des Verbundes erfaßt eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souverän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker - das heißt die staatsangehörigen Bürger - der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.« Die Mitgliedstaaten bleiben kraft des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung »dauerhaft die Herren der Verträge«.

Von daher wendet das Gericht die Erfordernisse des Europa-Artikels 23 des Grundgesetzes (siehe Kasten) und die Artikel der zwei durch Lissabon geänderten EU-Verträge hin und her und kommt zum Ergebnis: »Die europäische Vereinigung auf der Grundlage einer Vertragsunion souveräner Staaten darf nicht so verwirklicht werden, daß in den Mitgliedstaaten kein ausreichender Raum für politische Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse mehr bleibt. Dies gilt insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger, vor allem ihren von den Grundrechten geschützten privaten Raum der Eigenverantwortung und der persönlichen und sozialen Sicherheit prägen, sowie für solche politischen Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind und die sich im parteipolitisch und parlamentarisch organisierten Raum einer politischen Öffentlichkeit diskursiv entfalten. Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung gehören unter anderem die Staatsbürgerschaft, das zivile und militärische Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben einschließlich der Kreditaufnahme sowie die für die Grundrechtsverwirklichung maßgeblichen Eingriffstatbestände, vor allem bei intensiven Grundrechtseingriffen wie dem Freiheitsentzug in der Strafrechtspflege oder bei Unterbringungsmaßnahmen. Zu diesen bedeutsamen Sachbereichen gehören auch kulturelle Fragen wie die Verfügung über die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis.«

Das sind gehörige Grenzen für europäischen Handlungsüberschwang. Es ist nicht nachvollziehbar, daß Karlsruhe meint, diese Grenzen seien durch Lissabon (noch) nicht überschritten - meines Erachtens eine unrichtige Entscheidung. Recht haben die Richter damit, daß die EU kein Bundesstaat ist. Wer einen europäischen Bundesstaat will, der muß das sagen, eine dementsprechende Verfassung formulieren und diese nach Artikel 146 GG dem deutschen Volk zur freien Entscheidung vorlegen.


Demokratie, Militär und Soziales

Was sagen die Richter zu den Hauptkritikpunkten der Linksfraktion am Lissabonner Vertrag? Erstens bestätigen sie das strukturelle Demokratiedefizit der EU. »Das - gemessen an staatlichen Demokratieanforderungen - bestehende Defizit der europäischen Hoheitsgewalt kann (...) nicht aufgehoben und insoweit nicht gerechtfertigt werden.« Geboten sei »eine dem Status und der Funktion der Union angemessene demokratische Ausgestaltung«. Die Demokratie der EU könne und müsse nicht staatsanalog ausgestaltet sein. »Der Vertrag von Lissabon führt nicht auf eine neue Entwicklungsstufe der Demokratie.« Die Defizite seien der Tatsache geschuldet, daß die EU eben kein Staat ist. Abweichungen von den Organisationsprinzipien innerstaatlicher Demokratie sind erlaubt. »Das demokratische Prinzip ist nicht abwägungsfähig; es ist unantastbar.« Aber der Lissabon-Vertrag ist nach Meinung der Richter mit dem Demokratieprinzip vereinbar.

Zweitens liefern die Richter eine eindeutige Klarstellung zum Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr. »Der konstitutive Parlamentsvorbehalt für den Auslandseinsatz der Streitkräfte besteht auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon weiter.« Im Falle eines Beschlusses über eine »militärische Mission« wäre der deutsche Vertreter im Rat »von Verfassungs wegen verpflichtet, jeder Beschlußvorlage die Zustimmung zu verweigern, die den wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt des Grundgesetzes verletzen oder umgehen würde«. Das gilt auch für geschuldete Hilfeleistung für das Opfer eines bewaffneten Angriffs. Es bleibt allerdings dabei, daß bei »Gefahr im Verzug« der deutsche Vertreter in Brüssel einer Beteiligung an einem Militäreinsatz ohne vorherige Genehmigung des Parlaments zustimmen kann. Die vorgeschriebene nachträgliche Einholung der Genehmigung ist wohl eher ein Placebo.

Drittens. Das Sozialstaatsgebot halten die Richter für hinreichend gesichert. Die »Behauptung, die europäische Wirtschaftspolitik sei reine Marktpolitik ohne sozialpolitische Ausrichtung (...) ist unzutreffend. Zugleich verfügen die Mitgliedstaaten über einen ausreichenden Zuständigkeitsraum, um sozialpolitisch wesentliche Entscheidungen selbstverantwortlich zu treffen.« Das Gericht singt ein Loblied auf das angebliche soziale Verantwortungsbewußtsein der EU. Auf dem Gebiet ist also alles im Lot. Es kann auch »nach Maßgabe der Gründe« neoliberal weitergehen.


BVerfG und das EU-Recht

Das Bundesverfassungsgericht hat deutlich gemacht, daß es sich seine Entscheidungsbefugnisse durch die EU nicht nehmen läßt. Es hat darauf hingewiesen, daß es seine Zuständigkeit für die Prüfung von Handlungen der EU am Maßstab der Grundrechte der deutschen Verfassung nur »zurückgestellt« hat. Das Gericht beansprucht die Zuständigkeit zur Prüfung, ob Rechtsakte der EU das Subsidiaritätsprinzip wahren und sich in den Grenzen der den EU-Organen übertragenen Hoheitsrechte halten, ob »der unantastbare Kerngehalt der Verfassungsidentität des Grundgesetzes« gewahrt ist. Dabei will es sich an den Grundsatz der »Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes« und der »loyalen Zusammenarbeit« halten. Verfassungs- und unionsrechtliche Gewährleistung der nationalen Verfassungsidentität gingen »Hand in Hand«, was immer das heißen mag. Ein Affront gegenüber dem Gerichtshof der EU ist die Feststellung, daß Deutschland mit Lissabon »keinen verfassungsrechtlich bedenklichen unbedingten Vorrang des Unionsrechts« anerkennt. Es handle sich um einen Anwendungsvorrang, nicht um eine Vernichtung innerstaatlichen Rechts. Entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht werde in seinem Geltungsanspruch nicht berührt, sondern nur in seiner Anwendung »zurückgedrängt«. Ausnahmsweise und unter besonderen und engen Voraussetzungen könne das Bundesverfassungsgericht Recht der EU »für in Deutschland nicht anwendbar« erklären. Der höflichen Aufforderung im Urteil, einen zusätzlichen Zuständigkeitsbereich des Bundesverfassungsgerichts in Fragen der EU zu normieren, muß durch eine Änderung des Artikels 93 GG in der Richtung gefolgt werden, daß das Bundesverfassungsgericht bei Meinungsverschiedenheiten oder Zweifeln entscheidet, ob Rechtsakte der EU und Urteile des Europäischen Gerichtshofs im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland angewendet werden können.


Irland im Fokus

Wie wird es mit dem Lissabon-Vertrag weitergehen? Es ist zu befürchten und schon angekündigt, daß die vom Gericht verlangte Gesetzesänderung im Eilverfahren durch Bundestag und Bundesrat gejagt wird. Man setzt sich künstlich unter Zeitdruck, damit bis Anfang Oktober die deutsche Ratifikationsurkunde in Rom vorliegt, um die Volksabstimmung in Irland »positiv« zu beeinflussen. Das neue Gesetz soll am 18. September unter Dach und Fach sein. Die Post des Bundespräsidenten nach Rom mit der Ratifikationsurkunde kann dann abgehen. Ob die Iren das als »positives Zeichen« für ihr eigenes Abstimmungsverhalten empfinden werden, bleibt abzuwarten. Sie hatten den Vertrag mit 53,4 Prozent der Teilnehmer an der Volksabstimmung abgelehnt. Nun wird dem kleinen widerspenstigen Vier-Millionen-Volk zugemutet, im Oktober über denselben Text ein zweites Mal abzustimmen. Angefüttert wird es mit ein paar Zusicherungen des Europäischen Rats, die nichts kosten. Es wird die Hoffnung genährt, daß ein braves Irland mit Hilfe der EU die gegenwärtige Krise besser übersteht als ein ungebärdiges. Wenn die Iren »Ja« sagen, werden die EU-skeptischen Präsidenten Polens und Tschechiens wohl oder übel die bereits parlamentarisch abgesegneten Ratifikationsurkunden abschicken. Der Lissabonner Vertrag würde wahrscheinlich mit einjähriger Verspätung am 1. Januar 2010 in Kraft treten. Dann beginnt ein neuer Abschnitt im Ringen um Europa.

Das Urteil aus Karlsruhe kann Kritiker des Lissabon-Vertrags nicht davon überzeugen, daß das Papier nun verfassungskonform ist. Eine demokratische, soziale, ökologische und friedliche Union braucht eine andere primärrechtliche Grundlage. Die prinzipielle Kritik am Vertrag kann nicht davon abhalten, daß sich Linke und alle Fortschrittskräfte auf Bestimmungen der geänderten EU-Verträge berufen, die für den Kampf um Frieden, Demokratie und soziale Gerechtigkeit etwas hergeben - falls der Vertrag in Kraft tritt. Wenn die Iren »Nein« sagen, was durchaus möglich und wünschenswert ist, wäre das für den Fortgang der europäischen Integration kein Unglück. Im Gegenteil: Ein neuer Ansatz für die Erarbeitung, Diskussion und Verabschiedung einer echten Verfassung der Union durch die Völker wäre gegeben.


Gregor Schirmer ist Professor für Völkerrecht und Mitglied des Ältestenrats der Linkspartei. Er war Stellvertreter des Ministers für Hoch- und Fachschulwesen der DDR und stellvertretender Abteilungsleiter im ZK der SED.


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Quelle:
junge Welt vom 08.07.2009
mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2009