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INTERNATIONAL/085: Pakistan - Zeugenschutzprogramm soll Gewaltverbrechen in Karachi eindämmen (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 12. November 2012

Pakistan: Zeugenschutzprogramm soll Gewaltverbrechen in Karachi eindämmen

von Zofeen Ebrahim


Gefangene werden zum Stadtgericht in Karachi gebracht - Bild: © Adil Siddiqi

Gefangene werden zum Stadtgericht in Karachi gebracht
Bild: © Adil Siddiqi

Karachi, 12. November (IPS) - Angesichts der zunehmenden Zahl von Gewaltverbrechen und der großen Gefahr, in die sich Zeugen von Morden, Raubüberfällen, Entführungen und anderen Verbrechen durch ihre Aussagen begeben, haben Menschenrechtsaktivisten und hochrangige Politiker den Grundstein für ein umfassendes Zeugenschutzprogramm (WPP) gelegt.

Präsident Asif Ali Zardari wies Anfang des Monats auf einer Konferenz zum Thema Recht und Ordnung die Regierung der Provinz Sindh an, ein landesweites Zeugenschutzgesetz auszuarbeiten. Die Behörden in Sindh haben bereits einen entsprechenden Entwurf erstellt und dem Provinzparlament zur Abstimmung vorgelegt.

Wie Sharfuddin Memon, Sicherheitsberater der Provinz und ehemaliger Chef der Verbindungsstelle für Bürger/Polizei (CPLC), erklärt, ist ein solches Gesetz nicht nur für Sindh und die Provinzhauptstadt Karachi, sondern für das ganze Land erforderlich. CPLC ist eine Organisation, die eng mit der Polizei in Karachi und der Provinzregierung zusammenarbeitet.

Karachi mit seinen mehr als 18 Millionen Einwohnern erlebt seit Anfang des Jahres einen beispiellosen Anstieg der Gewalt. Allein in den ersten acht Monaten 2012 wurden in der Stadt 1.345 Menschen ermordet. Im Verlauf des vergangenen Jahres waren es 1.715 gewesen. Die Pakistanische Menschenrechtskommission macht für die Verbrechen in erster Linie kriminelle Gruppierungen und "politische Patronage" verantwortlich.

Das CPLC berichtet für die ersten zehn Monate 2012 von 106 Entführungsfällen. 2011 waren es insgesamt 113 solcher Fälle. Nach der Durchführung von Recherchen verglich der englische Dienst der Nachrichtenagentur Al Jazeera Karachi mit der brasilianischen Wirtschaftsmetropole São Paulo Mitte des letzten Jahrzehnts und platzierte die pakistanische Metropole auf einer Liste der Städte mit den welthöchsten Mordraten auf den ersten Platz.


Straflosigkeit verbreitet

In der Regel werden die Täter nicht gefasst beziehungsweise schnell wieder freigelassen. Im Juli hatte Pakistans Oberster Gerichtshof Malik Ishaq, den Anführer und Gründer der verbotenen militanten Gruppe 'Lashkar-e-Jhangvi' (LeJ) mit Verbindungen zu Al Qaeda, aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Ishaq war beschuldigt worden, in 70 Mordfälle verwickelt zu sein, religiöse Hetze betrieben zu haben und der Kopf hinter dem Angriff auf das srilankische Kricketteam 2009 gewesen zu sein. Ishaq wurde nach fast 14 Jahren Gefängnis gegen Kaution freigelassen und vom Verdacht des Mordes und Terrorismus in 34 Fällen freigesprochen.

Sein Waffenbruder Akram Lahori, der vor acht Jahren verhaftet wurde, ist bis heute nicht verurteilt. Zwei der drei Schlüsselzeugen sind verschwunden, während sich der dritte weigert, gegen Verdächtige in dem Fall auszusagen.

Obwohl Sindh Anti-Terrorismus-Gerichte (ATCs) zur Beschleunigung der Verfahren eingerichtet hat, liegt die Verurteilungsrate bei gerade einmal 26 Prozent. Nach Angaben des Generalstaatsanwalts von Sindh, Shahdat Awan, sind elf ATCs mit 1.329 Fällen befasst, von denen 43 aus den Jahren 1999 bis 2006 datieren.

Awan bringt die hohe Freispruchsrate von fast 73 Prozent mit ineffizienten Ermittlungen und der Entscheidung vieler Zeugen in Verbindung, ihre Anschuldigungen zu widerrufen oder zu revidieren. Es sei deshalb wichtig, neben der Einführung des neuen Zeugenschutzprogramms die Kapazitäten der Polizei zu stärken. Die Sicherheitskräfte müssten rechtlich geschult und idealerweise Ermittler mit einem Juraabschluss eingesetzt werden.

Farrukh Zia Shaikh, ein führender Strafrechtler in Karachi, berichtet von hoffnungslos überlasteten Gerichten, die die meisten Fälle vertagen müssten. "Viel hängt von den Zeugen ab, die jedoch häufig schweigen oder aus Angst um ihr Leben die Verdächtigen entlasten." Hinzu kommt, dass die polizeilichen Protokolle häufig fehlerhaft und unvollständig sind. "Sehr oft kommt es vor, dass Geständnisse nicht richtig protokolliert oder aber unter Folter erzwungen wurden."

Der Oberste Gerichtshof des Landes hat der Regierung in diesem Monat Desinteresse vorgeworfen, die vielen Verbrechen zu ahnden. Im Zusammenhang mit den 2.381 im letzten Jahr in Karachi insgesamt registrierten Delikten wurden nur 761 Personen festgenommen. 3.461 Verdächtigte sind nach wie vor flüchtig. "Wie können wir für Recht und Ordnung sorgen, wenn sich 3.500 Mörder und andere Verbrecher frei und ohne Angst vor einer Strafverfolgung in der Stadt bewegen?", fragt der Richter Khilji Arif Hussain.

"Die Betroffenen wissen, dass sie kein Gerichtsverfahren fürchten müssen, und selbst in denjenigen Fällen, in denen es tatsächlich zu einer Anklage kommt, können sie ihre Freilassung erwirken", meint Haider Abbas Rizvi, Sprecher der Muttahida-Qaumi-Bewegung, der führenden Partei in Karachi. "Ein Zeugenschutzprogramm ist unerlässlich."

Die Behörden in Sindh haben bereits eine Zeugenschutz-Expertengruppe aufgestellt. Die Mitglieder organisieren alles, was dem Schutz der Zeugen dient: vom Polizeischutz über eine neue Identität bis hin zu deren Umzug - auch ins Ausland.


Anwälte, Richter und Polizisten in Gefahr

Doch nicht nur Zeugen brauchen Schutz. Auch Anwälte, Richter und Polizisten würden bedroht und auch getötet, so S. Raza Hasan, ein Gerichtsreporter, der für die englischsprachige Tageszeitung 'Dawn' berichtet. Er erinnert an den Fall des im letzten Jahr ermordeten Journalisten Wali Khan Babar, der mindestens vier Zeugen einschließlich zwei Polizisten das Leben kostete.

Aus Polizeiquellen ist zu entnehmen, dass in den zurückliegenden zehn Monaten 98 der 124 in Sindh im Dienst getöteten Polizisten aus Karachi stammten. Von den 80 im letzten Jahr in Sindh getöteten Sicherheitskräften waren 57 aus Karachi. Insgesamt wurden nach Schätzungen von Awan seit den 1990er Jahren mindestens 800 Polizisten umgebracht.

Memon zufolge sieht das WPP den Schutz aller gefährdeten Personengruppen vor. Doch Experten wie Hasan sind der Meinung, dass ein solches Programm "nur in Hollywoodfilmen funktioniert". Die Umsetzung erfordere umfangreiche finanzielle Mittel, da nicht nur die Zeugen selbst, sondern zum Teil auch deren Familien mit einer neuen Identität ausgestattet werden müssten. Auch in Indien habe sich die Umsetzung eines WPP als extrem schwierig herausgestellt.

Nach Ansicht von Memon gilt es zusätzlich zu dem WPP die Sicherheitskräfte auf Vordermann zu bringen. Karachi verfügt über eine unzureichend ausgebildete, demoralisierte und politisierte Truppe aus 33.000 Männern, von denen 12.000 mit 'Sonderaufgaben' betraut sind. Sie eskortieren meist prominente Persönlichkeiten. Dies bedeutet, dass nur ein Polizist zum Schutz von 900 Menschen bereitsteht.

Verschärft wird das Problem der geringen Polizeistärke durch Korruption und Vetternwirtschaft. Gerade Karachi gilt als Stadt, in der die Zahlung von Bestechungsgeldern ebenso normal ist wie politische Seilschaften und Korruption.


Problem des Waffenbesitzes

Der Sicherheits- und Umweltberater Naeem Sadiq hat eine differenzierte Meinung, wie sich die Gewalt im Lande wirkungsvoll bekämpfen ließe. Er hält die Entwaffnung der Bürger für den richtigen Weg, um die Gewaltverbrechen in Karachi und im Rest des Landes um bis zu 90 Prozent zu senken.

Sadiq hat den Obersten Gerichtshof Pakistans unlängst in einer Petition zur Entwaffnung der Stadt aufgefordert. "Das Problem der Gewalt muss an seiner Wurzel gepackt werden", sagt er. Seien Waffen nicht länger verfügbar, bleibe Menschen in Konfliktsituationen nichts anderes übrig, als miteinander ins Gespräch zu kommen. In Karachi zirkulieren fast 1,2 Millionen Waffen. Der Behörde für Verbrechensbekämpfung zufolge sind rund 50.000 Stadtbewohner als Waffeninhaber registriert. (Ende/IPS/kb/2012)


Links:

http://www.aljazeera.com/indepth/interactive/2012/08/2012822102920951929.html
http://www.hrcp-web.org/default.asp
http://www.ipsnews.net/2012/11/pakistan-moves-to-safeguard-witnesses/

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 9. November 2012
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. November 2012