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INTERNATIONAL/105: Ägypten - Streit um geplantes Gesetz zur Pensionierung von Richtern über 60 (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland GmbH
IPS-Tagesdienst vom 11. Juni 2013

Ägypten:
Streit um geplantes Gesetz zur Pensionierung von Richtern über 60

von Adam Murray und Khaled Moussa al-Omrani


Bild: © Khaled Moussa al-Omrani/IPS

Demonstration von Anhängern von Präsident Mursi
Bild: © Khaled Moussa al-Omrani/IPS

Kairo, 11. Juni (IPS) - In Ägypten verschärft ein geplantes Gesetz zur Reglementierung der Gerichtsbarkeit den post-revolutionären Streit zwischen Justiz und Präsident Mohammed Mursi, dem ersten islamistischen Staatsoberhaupt in der Geschichte des nordafrikanischen Landes.

Umstritten ist vor allem ein Paragraph, der besagt, dass das Pensionsalter der Richter von bisher 70 auf 60 Jahre gesenkt werden soll. Derzeit wird über die Vorlage im Oberhaus des Parlaments - dem so genannten Shura-Rat - beraten. Ob und wann über den Entwurf abgestimmt wird, steht bisher nicht fest. Sollte das von der moderaten islamischen Partei 'Wasat' und Mursis Muslimbruderschaft eingebrachte Gesetz verabschiedet werden, hätte dies zur Folge, dass Tausende ägyptische Richter in den Ruhestand versetzt würden.

Gegner der Vorlage, unter ihnen die Mehrheit der Richter und ein großer Teil der säkularen Opposition, erkennen in den Plänen das Bestreben der Muslimbruderschaft, ihre Macht auszuweiten und die Richterposten in Ägypten mit ihren Anhängern zu besetzen.


Opposition warnt vor "Massaker" an Richtern

Der bekannte linke Oppositionsführer Hamdeen Sabbahi, der bei der ersten freien Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr gegen Mursi verlor, erklärte kürzlich, dass der strittige Gesetzespassus zu einem "Massaker" unter den Richtern im Land führen würde. "Die Muslimbruderschaft verfolgt die klare Absicht, die Institutionen der Justiz in Ägypten zu beherrschen. Damit würde es unmöglich, dass die Justiz künftige Wahlen überwacht", warnte er im Mai während einer Protestkundgebung vor dem Parlament in Kairo.

Sabbahi zufolge kann das Oberhaus bis zu der zeitlich noch nicht festgelegten Wahl eines neuen Unterhauses keine Gesetze beschließen. "Es hat nicht das Recht dazu, weil es nur sieben Prozent der Wählerstimmen erhalten hat."

Der Verfassungsrechtler Gaber Gad Nassar von der Universität Kairo schätzt, dass durch ein Inkrafttreten des Gesetzes rund 8.000 Richter pensioniert würden. "Die Muslimbruderschaft will eigene Richter einsetzen, um die nächsten Parlamentswahlen zu ihren Gunsten zu beeinflussen", betonte er.

Befürworter des geplanten Gesetzes, darunter Mursi, die Muslimbruderschaft und deren Partei für Freiheit und Gerechtigkeit (FJP), bezeichnen die Anschuldigungen als haltlos. Das Gesetz ziele lediglich darauf ab, Richter zu entfernen, die dem Regime des gestürzten Diktators Husni Mubarak treu ergeben gewesen seien.

Wahid Shirabi, Sprecher der Bewegung 'Richter für Ägypten', die der Muslimbruderschaft nahe steht, wies die Anschuldigungen der Opposition als "unlogisch" zurück. "Gemäß der Verfassung ist der Oberste Justizrat (SJC) für die anschließend vom Präsidenten zu billigende Ernennung der Richter verantwortlich. Im SJC sitzt aber nicht ein einziges Mitglied der Muslimbruderschaft", sagte er. Das 15-köpfige Gremium ist die höchste juristische Behörde des Landes.

Shirabi wies ferner das Argument zurück, dass eine plötzliche Pensionierung Tausender Richter die Arbeit der Justiz zum Erliegen bringe. Vielmehr würde das Gesetz die Arbeit der Gerichte beschleunigen. Derzeit sind Millionen Fälle vor den Gerichten Ägyptens anhängig.

"Die vor kurzem angenommene Verfassung Ägyptens gibt dem Oberhaus sehr wohl das Recht, bis zur Wahl eines Unterhauses Gesetze zu beschließen", sagte Shirabi weiter. Unter Mubarak sei das Pensionsalter der Richter von 60 auf 70 Jahre erhöht worden, um regimetreue Richter im Amt zu halten.

Der Streit zwischen den Islamisten und der Richterschaft begann bereits vor fast einem Jahr, als das Hohe Verfassungsgericht (HHC) das Gesetz zur Regelung von Ägyptens ersten Post-Mubarak-Parlamentswahlen Ende 2011/Anfang 2012 für verfassungswidrig erklärte.


Auflösung des Unterhauses rechtlich zweifelhaft

Einen Tag später ordnete der damals regierende Oberste Militärrat die Auflösung des neugewählten parlamentarischen Unterhauses an. Die Hälfte der Mandate war an die FJP und ein weiteres Viertel an andere islamistischen Parteien gegangen.

Obwohl viele Gegner der Muslimbruderschaft die Auflösung des Unterhauses begrüßten, zogen Rechtsexperten die Legitimität des zu Grunde liegenden Urteils des HHC in Zweifel. "Nur ein Drittel der Mandate im Parlament - und zwar die für die Unabhängigen reservierten Sitze - hätten vom Verfassungsstandpunkt aus betroffen sein dürfen", so der Jurist Atef al-Banna von der Universität Kairo. "Das HCC hat aber keine juristische Begründung für die Forderung nach der Auflösung des gesamten Unterhauses abgegeben."

Mursis politische Beraterin Pakinam al-Sharqawi warf der Judikativen im April vor, sich seit der Auflösung der Volksversammlung auf unfaire Weise in die ägyptische Innenpolitik einzumischen. Dieses Verhalten sei gefährlich und beispiellos, kritisierte sie. "Nie zuvor war es der Gerichtsbarkeit gestattet, ein von 30 Millionen Bürgern demokratisch gewähltes Parlament aufzulösen."

Im vergangenen Jahr kam es zu mehreren Konfrontationen zwischen Justiz und Präsident. So versuchte Mursi allerdings ohne Erfolg, einen neuen Generalstaatsanwalt einzusetzen und per Dekret zu erreichen, dass die Justiz zumindest vorübergehend die Entscheidungen des Staatschefs nicht beeinflussen kann. Wie Shirabi erklärte, hätten sich in der Zwischenzeit führende Justizbeamte weiterhin in Regierungsgeschäfte eingemischt, indem sie Entscheidungen der Exekutive rückgängig gemacht hätten.

Inzwischen hat der inoffizielle Ägyptische Richter-Club für den Fall, dass das Gesetz durchkommt, mit der Aussetzung aller gerichtlichen Aktivitäten gedroht. (Ende/IPS/ck/2013)


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http://www.ipsnews.net/2013/06/egypts-presidency-judiciary-brace-for-showdown-over-draft-law/

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IPS-Tagesdienst vom 11. Juni 2013
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Juni 2013