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INTERNATIONAL/206: Nicht zustellbar (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 20. Juli 2017
(german-foreign-policy.com)

Nicht zustellbar


WINDHOEK/BERLIN/ROM - Eine Entschädigungsklage von Nachfahren der Opfer deutscher Kolonialverbrechen im ehemaligen Deutsch-Südwestafrika droht zu scheitern, da die zuständigen Berliner Behörden die Überstellung der Gerichtsdokumente blockieren. Mit der Klage vor einem New Yorker Gericht versuchen Vertreter der Herero und Nama aus dem heutigen Namibia derzeit, eine Entschädigung für die Verbrechen deutscher Kolonialisten, vor allem für den Genozid an ihren Vorfahren, zu erstreiten. Für die Weiterleitung der aus New York eingetroffenen Prozessunterlagen zuständig ist der Justizsenator des Bundeslandes Berlin, Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen), der es jedoch ablehnt, die Dokumente an das Auswärtige Amt zu übergeben - mit der Behauptung, die Klage sei unzulässig. Der Versuch, den Prozess auf diese Weise abzuwehren, ist nur der jüngste von vielen, mit denen Berlin sich schon seit Jahrzehnten bemüht, die Nachfahren der Opfer deutscher Kolonial- und Kriegsverbrechen zum Schweigen zu bringen. Die dafür zentrale Behauptung, Deutschland genieße "Staatenimmunität" und dürfe daher nicht von Privatpersonen verklagt werden, gerät in jüngster Zeit ins Wanken.


Verschoben

Eine für morgen angesetzte Gerichtsverhandlung über eine Entschädigungsklage, die Vertreter der Herero und Nama in New York angestrengt haben, muss verschoben werden. Verantwortung dafür tragen die Bundesregierung sowie der rot-rot-grüne Senat in Berlin.

Blockiert

Mit der Klage, die zu Jahresbeginn beim US District Court in Manhattan eingereicht wurde, wollen die Herero und Nama Entschädigung für deutsche Kolonialverbrechen erkämpfen, die Bürger des Deutschen Reichs ab 1885 in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika begingen. Insbesondere geht es um den Genozid, den die Deutschen ab dem Jahr 1904 an den Herero und Nama verübten; ihren Mordtaten fielen nach Auffassung der New Yorker Kläger möglicherweise mehr als 100.000 Menschen zum Opfer. Der Prozess leidet zur Zeit daran, dass die Beklagte - die Bundesrepublik Deutschland als Rechtsnachfolgerin des Deutschen Reichs - sich strikt weigert, die Vorladung zum Prozess ordnungsgemäß zu überstellen. Verfahrenstechnisch ist der Justizsenator des Bundeslandes Berlin, Dirk Behrendt (Bündnis 90/Die Grünen), dafür zuständig, die Prozessunterlagen, die ihm zugesandt wurden, an die Bundesregierung weiterzureichen. Dies lehnt er allerdings ab - mit der Behauptung, Staaten dürften "vor ausländischen Gerichten nicht wegen ihrer hoheitlichen Tätigkeit, also zum Beispiel dem Handeln ihrer Soldaten", gerichtlich belangt werden.[1] Das Auswärtige Amt wiederum behauptet, es könne keine Vertreter zum Prozess nach New York entsenden - weil es offiziell von dem Prozess gar nichts wisse.[2]

Abgeschmettert

Das erstaunliche Vorgehen der Berliner Behörden hat dazu geführt, dass bereits im März ein erster Verhandlungstermin in New York nur in Abwesenheit der Beklagten stattfinden konnte und jetzt auch noch der für morgen geplante Fortsetzungstermin verschoben werden musste; er soll am 13. Oktober nachgeholt werden. Die namibischen Kläger versuchen nun, die Prozessunterlagen auf diplomatischem Wege an das Auswärtige Amt überstellen zu lassen; wie es heißt, setze man, da das verhandelnde Gericht in den USA ansässig ist, auf die Hilfe des State Department in Washington - in der Hoffnung, Berlin werde Vertreter der Weltmacht nicht so kalt abschmettern können wie die Nachkommen kolonialisierter Bevölkerungsgruppen. Gelinge die Übergabe der Papiere, dann könne man, falls Berlin auch im Oktober keinen Vertreter nach New York entsende, einen Antrag auf ein "Versäumnisurteil" ("default judgement") einreichen, damit das Verfahren nicht gänzlich im Sande verlaufe, erläutert Vekuii Rukoro, der Paramount Chief der Herero.[3] Ob die Rechnung aufgeht, ist allerdings unklar; das Auswärtige Amt könnte sich darauf berufen, es dürfe gerichtliche Unterlagen lediglich auf vorgeschriebenem Weg über den Berliner Senat entgegennehmen, sei aber, wenn dieser - er wird gegenwärtig von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der Partei Die Linke gestellt - sich weigere, gegenüber dessen Amtsträgern nicht weisungsbefugt.

Erinnerungskultur

In praktischer Hinsicht sind die aktuellen Berliner Machenschaften nur der jüngste in einer ganzen Reihe von Versuchen, die Nachfahren der Opfer deutscher Kolonial- und Kriegsverbrechen zum Schweigen zu bringen. Bezüglich der Forderungen, die aus dem deutschen Genozid an den Herero und Nama resultieren, hatte die Bundesregierung sich ursprünglich einfach geweigert, das Verbrechen als Völkermord anzuerkennen. Im Jahr 2015 hat sie einen Kurswechsel vollzogen, der vorsieht, Widerstände in Namibia mit billigen bis kostenlosen Schein-Zugeständnissen zu brechen: Berlin bietet Windhoek kleinere Beträge aus der Portokasse zur Errichtung einer deutsch-namibischen "Zukunftsstiftung" an, die eine gemeinsame "Erinnerungskultur" ohne höhere Kosten fördern soll; parallel erklärt es sich bereit, den Genozid zwar nicht im rechtlichen, dafür aber im politisch-moralischen Sinne anzuerkennen, sofern die namibische Regierung vielleicht nicht im moralischen, jedenfalls aber im rechtlichen Sinne auf Entschädigungen verzichtet (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Auf diese Weise sollen die Forderungen der Opfer-Nachkommen ein für allemal abgestellt werden. Zu dem Kurswechsel hat beigetragen, dass inzwischen auch in anderen Staaten die Forderung nach Entschädigung laut wird, etwa in Tansania; dort sind einem deutschen Kolonialkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu 300.000 Menschen zum Opfer gefallen (german-foreign-policy.com berichtete [5]).

Staatenimmunität

Inhaltlich ist die eigenmächtige Behauptung des Berliner Justizsenators Behrendt, die Bundesrepublik könne völkerrechtlich "Staatenimmunität" geltend machen, international höchst umstritten. Zwar hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag Deutschland am 3. Februar 2012 tatsächlich eine "Staatenimmunität" gegen Klagen von Nachfahren italienischer und griechischer Opfer von SS- und Wehrmachtsmassakern zugesprochen. Allerdings ist das Urteil in der Fachwelt durchaus umstritten und wird in Italien seit einem Beschluss des Kassationsgerichtshofs in Rom vom 22. Oktober 2014 nicht mehr anerkannt; dieser Beschluss stuft das Verbot, individuelle Opfer von Kriegsverbrechen und ihre Nachkommen gegen den Täterstaat klagen zu lassen, als gänzlich unvereinbar mit der italienischen Verfassung ein.[6] Seither sind in Italien erneut Klagen anhängig und auch bereits mehrere Urteile ergangen, die Deutschland zur Zahlung von Entschädigungen verpflichten. Die Bundesregierung hat in diversen Verbalnoten in Rom Protest dagegen eingelegt und ihre - bemerkenswerte - Erwartung ausgedrückt, die italienische Regierung werde gegen entsprechende Gerichtsurteile im eigenen Land politisch vorgehen.[7] Rom hat das jedoch bislang nicht getan.

Vom Kaiserreich bis heute

Die Berufung auf "Staatenimmunität" schützt die Bundesrepublik auch vor Klagen mit Bezug zur Gegenwart. So sind Angehörige von Opfern eines NATO-Luftangriffs, bei dem am 30. Mai 1999 im jugoslawischen Varvarin zehn Zivilisten getötet und 30 teils schwer verletzt wurden, vor deutschen Gerichten mit Entschädigungsklagen gescheitert: Berlin konnte die erwähnte "Staatenimmunität" geltend machen. Dasselbe trifft laut einem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 6. Oktober 2016 auf das Massaker von Kunduz vom 4. September 2009 zu, bei dem auf Befehl eines deutschen Obersts mehr als 100 Zivilisten getötet wurden.[8] Die heftig umstrittene "Staatenimmunität" erweist sich für Soldaten, die sich in einer der zahlreichen Phasen militärischer deutscher Expansion schwerster Kriegsverbrechen schuldig machten, als überaus günstig - vom Kaiserreich bis heute.


Anmerkungen:

[1] Völkermordprozess gegen Deutschland erneut verschoben.
www.spiegel.de 18.07.2017.

[2] Susan Loehr: Das dunkle Erbe des Kolonialismus. Die Erben der Herero verklagen Deutschland.
www.daserste.de 02.07.2017.

[3] C. Sasman, S. Fischer: "Unnötige Verzögerung". Allgemeine Zeitung 18.07.2017.

[4] S. dazu Billiges Erinnern.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59511

[5] S. dazu Auf dem Weg zum Vernichtungskrieg (I)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59563
und Auf dem Weg zum Vernichtungskrieg (II)
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59566

[6] Paul Kreiner: Entschädigung für Nazi-Opfer wieder offen.
www.tagesspiegel.de 24.10.2014.

[7] Andrea Dernbach: Neue Niederlage Deutschlands vor italienischem Gericht.
www.tagesspiegel.de 31.10.2016.

[8] S. dazu Die zivilen Opfer der Kriege.
http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/59457

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
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c/o Horst Teubert
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Fax: 01212 52 57 08 537
E-Mail: info@german-foreign-policy.com


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2017

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