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INTERNATIONAL/220: Südkorea - Tradition... kritisch geprüft (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 157/September 2017
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Tradition - kritisch geprüft

Südkoreas Verfassungsgericht misst alte soziale Normen an den Menschenrechten

von Yoon Jin Shin


Kurz gefasst: Das südkoreanische Verfassungsgericht trägt die Spannung zwischen konfuzianischen Traditionen und universellen Menschenrechtsstandards aus, indem es Einzelfälle verfassungsrechtlich prüft. Die Institution eines männlichen Haushaltsvorstands wurde so durch Einführung einer individuellen Meldepflicht abgeschafft. Die Regelung, dass die eigenen Eltern und Großeltern nicht strafrechtlich verklagt werden dürfen, wurde dagegen beibehalten. Der Streit um Grund- und Verfassungsrechte hat emanzipatorisches Potenzial für den Einzelnen und bettet Menschenrechte in einen nationalen Kontext ein.


Im Streit um einen Kernbestand der Menschenrechte wird immer wieder vorgebracht, dass die Betonung universeller Normen die Vielfalt und die Besonderheit lokaler Kontexte zum Verschwinden bringt. Andererseits kann es tatsächlich nicht sein, dass das Festhalten zum Beispiel an "asiatischen Werten" eine Rechtfertigung dafür bietet, universelle Menschenrechte nicht anzuerkennen. Die Rolle, die Traditionen oder nationale Kultur für die Rechtspraxis spielen, ist komplex. Manchmal wird eine Verfassung sogar zu einer Verkörperung nationaler Identität und Tradition. Genauso gut aber kann die Tradition als Gegenpol, als Bedrohung für Verfassungsprinzipien und verfassungsmäßig garantierte Rechte gelten.

Das zeigen zwei aufschlussreiche Fälle, über die das südkoreanische Verfassungsgericht entschieden hat. Einmal fochten Bürger Gesetze an, die auf traditionellen Werten fußten. Sie sahen durch die Verfassung garantierte Rechte verletzt. In einem anderen Fall berief sich das Gericht auf Traditionen, die es als Rechtfertigung für die Beschneidung von Rechten betrachtete. Beide Fälle zeigen, wie der Konflikt zwischen traditionellen Werten auf der einen Seite (hier aus der konfuzianischen Tradition Ostasiens) und Grundrechten und Verfassungsprinzipien auf der anderen Seite durch verfassungsrechtliche Prüfung abgewogen wurde. Es zeigt sich, welche Rolle Kontexte bei der Entscheidungsfindung spielen, wenn sich lokale Akteure auf universelle Normen berufen; es ist ein Weg zu einem kontextualisierten Kosmopolitismus.

1987, als Südkorea nach drei Jahrzehnten Militärdiktatur durch eine nationale Bürgerbewegung zur Demokratie gelangte, gab es eine Verfassungsreform, die auch die Einrichtung eines südkoreanischen Verfassungsgerichts beinhaltete. In Asien sind Verfassungsgerichte oft die einzige Instanz, bei der Staatsbürger oder Nicht-Staatsbürger ihre Menschenrechte einklagen können, da es hier keinen supranationalen Menschenrechtsgerichtshof gibt.

Einer der folgenreichsten Fälle des koreanischen Verfassungsgerichts ist das System des Haushalts-Vorstands (Hojuje), über das 2005 entschieden wurde. Hojuje war ein grundlegendes Prinzip des koreanischen Familienrechts. Es repräsentierte - und reproduzierte - patriarchale Sozial- und Familienstrukturen, die in der konfuzianischen Tradition wurzelten. Unter diesem System war jeder koreanische Bürger als Mitglied eines Haushalts registriert, der einen Vorstand hat, nämlich das älteste männliche Familienmitglied, und ansonsten untergeordnete Verwandte wie Mutter, Ehefrau und Kinder. Durch dieses Recht gehörte eine Bürgerin bei ihrer Geburt zu ihrem Vater, vom Zeitpunkt ihrer Heirat zu ihrem Ehemann, und als Witwe zu ihrem Sohn. Ein Mann hingegen konnte seinen eigenen Haushalt gründen und als dessen Oberhaupt fungieren. Eine nationale Koalition aus Frauen- und Bürgerrechtsgruppen brachten eine Verfassungsklage ein, um dieses System zu ändern.

Das Gericht entschied: Dieses ist nicht verfassungsgemäß. Es argumentierte: "Die Rolle des Familienrechts beschränkt sich nicht darauf, soziale Realitäten widerzuspiegeln. [...] Es soll mit Verfassungsprinzipien übereinstimmen und diese verbreiten." Das Gericht verwies dabei auf zwei Verfassungsartikel. Artikel 9 besagt, der Staat solle "danach streben, das kulturelle Erbe zu erhalten und zu entwickeln und die nationale Kultur zu fördern". Im Artikel 36 Paragraf 1 heißt es: "Ehe und Familienleben sollen auf der Grundlage individueller Würde und der Gleichheit der Geschlechter eingegangen und geführt werden." Dem Gericht zufolge gebietet diese zweite Vorschrift, eine überkommene patriarchale Familienordnung nicht länger anzuerkennen. Die in Artikel 9 angesprochene Tradition sei ein Konzept mit historischen wie auch zeitgenössischen Aspekten. Es müsste nach gegenwärtigen Standards gültig und vernünftig sein. Wenn eine traditionelle Ordnung gegen Werte und Prinzipien verstößt, die durch die Verfassung geschützt würden, lasse sich diese Tradition nicht durch Berufung auf Artikel 9 rechtfertigen. Das Gericht befand, Hojuje verstoße gegen die Verfassungsprinzipien von Geschlechtergleichheit und individueller Würde.

Zwei Richter vertraten dabei eine abweichende Auffassung. Sie betonten, dass sich im Familienrecht "unsere einzigartige und rationale patrilineare Tradition" zeige. Diese Richter prüften Hojuje auf seine Verhältnismäßigkeit und hielten fest, dass es im Lichte der staatlichen Pflicht zur Wahrung der Traditionen (Artikel 9) ein legitimes Ziel der Regierung sein könne, eine patrilineare Familienordnung aufrechtzuerhalten, und stellten fest, dass Hojuje die Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne überstand. Die "Ehefrau-gehört-zu-Ehemann"-Familienpraxis sei lange als selbstverständlich angenommen worden. Diese soziale Realität habe sich bis in die Gegenwart nicht geändert, und dieses System haben zudem für Frauen keine substanziell diskriminierenden Auswirkungen.

Nach der Mehrheitsentscheidung des Verfassungsgerichts wurde in Südkorea ein gänzlich neues Meldesystem eingeführt. Jeder koreanische Bürger ist nun als Einzelperson registriert, nicht als Haushaltsvorstand oder als untergeordnetes Familienmitglied.

Auch im Strafrecht taucht die konfuzianische Tradition auf. Das koreanische Strafprozessrecht verhindert, dass Individuen ihre Eltern oder Großeltern wegen Straftatbeständen anklagen. Ausnahmen gibt es nur bei sexueller und häuslicher Gewalt. Dieses Gesetz beruht auf der konfuzianischen Regel des Hyo, der Verpflichtung von Kindern gegenüber ihren Eltern. Fünf der neun Richter argumentierten, das Recht auf Gleichheit von Verbrechensopfern werde verletzt, deren Eltern oder Großeltern diese Straftaten begangen haben. Ihnen aus Achtung vor der konfuzianisch geprägten Familienordnung das Klagerecht zu verwehren, halte einer Prüfung der Verhältnismäßigkeit nicht stand.

Diese knappe Mehrheit verfehlte aber die erforderliche Zahl von sechs Stimmen, um ein Gesetz für nichtig zu erklären. Vier Richter sahen das Gesetz als verfassungsgemäß an, und zwar mit dem Argument, das Klagerecht eines Opfers sei kein Verfassungsrecht, sondern lediglich ein Rechtsanspruch aus dem Strafprozessrecht. Die Legislative verfüge deshalb über einen weiten Ermessensspielraum bei der Ausgestaltung des Rechts. Für die Beziehungen zwischen den Generationen sollten außerdem traditionelle Kultur und Ethik eine entscheidendere Rolle spielen als gesetzliche Regelungen. Schließlich argumentierten die Richter, dass der Respekt vor den Eltern als höchster moralischer Wert anzusehen sei. Ein Gesetz, das diesen Wert verkörpere, könne folglich berechtigterweise Ungleichbehandlung begründen.

Diese Fälle zeigen, wie Traditionen und Verfassungsrecht einander begegnen. Durch die verfassungsrechtliche Prüfung können Konflikte und Spannungen zwischen beiden aufgezeigt, diskutiert und geklärt werden. Die Dynamiken dieses Prozesses sind komplexer, als dass sie durch eine scharfe Trennung zwischen universellen Menschenrechten und kulturellem Relativismus beschrieben werden könnten. Restriktive Gesetze benötigen eine stärkere Rechtfertigungsbasis als die Annahme, dass das Recht traditionellen Werten oder der etablierten sozialen Ordnung dient. Ein Konstitutionalismus, der auf der Anerkennung von Rechten beruht, nimmt Traditionen den Nimbus des Unhinterfragbaren und verlangt eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung, wenn sie Rechte, Gleichheit oder andere Verfassungsprinzipien beschränken.

Im koreanischen Kontext sind diese konstitutionellen Dynamiken vielschichtiger, da die Verfassung eine Pflicht des Staates feststellt, Traditionen zu bewahren und zu entwickeln. Das Verfassungsgericht hat im Fall des Haushaltsvorstands (Hojuje) dieser Spannung Rechnung getragen, indem es Traditionen in einem zeitgenössischen Kontext interpretierte und unterdrückerische und veraltete Bräuche über ein konzeptionelles Argument aus dem Schutzbereich von Artikel 9 herausnahm. Es argumentierte, die Wahrung der patriarchalen Ordnung könne kein legitimer Grund für die Einschränkung von Rechten und von Gleichheit sein, weshalb die weitere Verhältnismäßigkeitsprüfung entfiel. Im Fall des Klagerechts gegen Eltern versuchten fünf Richter, der Spannung über eine Verhältnismäßigkeits-Argumentation Rechnung zu tragen. Obgleich die Richter die Verpflichtung von Kindern gegenüber den Eltern als einen legitimen Zweck des Gesetzes sahen, waren sie dennoch überzeugt, dass das Gesetz nicht verfassungsgemäß war, da es die Rechte der Betroffenen in einem übermäßigen Maße verletzte.

Diese Fälle stehen beispielhaft für verschiedene Wege, durch die Spannungen und Konflikte zwischen Rechten und Traditionen über den Weg der verfassungsrechtlichen Prüfung Rechnung getragen werden kann. In beiden Fällen stellen die Mehrheitsmeinungen klar, dass eine Tradition oder ein Brauch, der nicht konstitutionellen Werten und Prinzipien entspricht, eine Beschränkung von Rechten und Gleichheit nicht rechtfertigen kann. Selbst wenn manche traditionellen Werte für die heutige Gesellschaft gleichbleibend bedeutend sind und auch positive Eigenschaften haben können, muss das Gesetz, das auf diesen Traditionen beruht, durch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung im engeren Sinne gerechtfertigt sein. Kontexte werden durch diese Rechtspraxis nicht ausgelöscht, sondern vielmehr neu belebt. Ihre Einbeziehung vermag, den lokalen Besonderheiten und Rahmenbedingungen wie auch der Universalität von Rechten zu genügen. Da sowohl lokale als auch kulturell spezifische Besonderheiten Teil dieser verfassungsrechtlichen Argumentation sind, erhält eine auf Rechten basierende konstitutionelle Praxis einen kosmopolitischen Charakter.

Die oben diskutierten Fälle zeigen auch das emanzipatorische Potenzial, das der Streit um Grundrechte und die damit verbundenen Entscheidungsprozesse für Individuen haben können, deren Rechte und Gleichheit im Namen von Tradition und nationaler Kultur verneint wurden. Ohne die Existenz eines solchen Verfahrens der verfassungsrechtlichen Prüfung von Rechtsverletzungen hätte die Tradition als unbestrittenes Argument für die Rechtfertigung der Herrschaft einer dominanten Gruppe dienen können, die eine unterdrückerische Rechts- und Sozialordnung aufrechterhält. Der Streit um Verfassungsrechte und die verfassungsrechtlichen Mechanismen der Überprüfung mobilisieren und stärken den Einzelnen. Er wird zum kosmopolitischen Träger von Rechten, der lokal handelt, aber global denkt. Eine solche kontextualisierte Menschenrechtspraxis bietet, sozusagen von unten, eine empirische Basis, um der häufig geäußerten Kritik entgegenzutreten, Menschenrechte seien ein elitäres, von oben kommendes, westliches Projekt.


Yoon Jin Shin war bis August 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin des Center for Global Constitutionalism am WZB. Am 1. September 2017 hat die Rechtswissenschaftlerin den einzigen Lehrstuhl für Menschenrechte in Südkorea, an der Universität Seoul, übernommen.
yoonjin.shin@wzb.eu


Literatur

Kumm, Mattias: "Comment: Contesting the Management of Difference - Transnational Human Rights, Religion and the European Court of Human Rights' Lautsi Decision". In: Kolja Raube/Annika Sattler (Hg): Difference and Democracy: Exploring Potentials in Europe and Beyond. Frankfurt/New York: Campus Verlag 2011, S. 245-259.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 157, September 2017, Seite 31-33
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2017

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