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STELLUNGNAHME/101: Syrienprozess in Koblenz - "Anwar R. war Teil von Assads Unrechtssystem" (ECCHR)


European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR)

Statement vom 14. Mai 2020

Folter: Syrienprozess in Koblenz
"Anwar R. war Teil von Assads Unrechtssystem"


BERLIN/KOBLEN - Am Montag, den 18. Mai 2020, wird sich Anwar R., Hauptangeklagter im Syrien-Folter-Prozess vor dem Oberlandesgericht Koblenz, äußern. So ist es angekündigt.

Anbei erhalten Sie dazu ein Statement von Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR). Das ECCHR unterstützt in dem Verfahren 17 Folterüberlebende aus Syrien. Sieben von ihnen sind in dem Verfahren als Nebenkläger*innen zugelassen und werden von ECCHR-Partneranwälten vertreten.

"Wer Folter anwendet, anordnet oder billigt, muss sich dafür vor Gericht verantworten. So sieht es das deutsche Strafgesetzbuch vor und ebenso die UN-Antifolterkonvention.

Die Folter in der Haftanstalt 251 des Allgemeinen Geheimdienstes in Syrien, der sogenannten Al-Khatib-Abteilung in Damaskus, war und ist Teil eines Systems, das Präsident Baschar al-Assad die Macht sichert. Die Assad-Regierung lässt systematisch und flächendeckend foltern - nicht erst als Reaktion auf die friedlichen Proteste ab 2011, sondern seit Jahrzehnten.

Als mutmaßlicher Leiter der Ermittlungen in der Al-Khatib-Abteilung war Oberst Anwar R. Teil dieses Verfolgungs-, Unterdrückungs- und Vernichtungssystems. Er stand inmitten des Systems, hat seine Funktion und seine Aufgaben erfüllt. Laut Anklagevorwurf der Bundesanwaltschaft erhielt Anwar R. nicht nur Befehle, sondern erteilte sie auch seinen Untergebenen. Dabei konnte er sich sicher vor strafrechtlicher Verfolgung wähnen, denn in Syrien herrscht totale Straflosigkeit. Die Regierung hat kein Interesse, die Folterfälle aufzuklären, geschweige denn die Täter*innen und Verantwortlichen vor Gericht zu stellen.

Allzu oft entziehen sich gerade die die mächtigen Akteur*innen der strafrechtlichen Aufarbeitung. Niedrigrangige Täter*innen weisen immer wieder ihre Verantwortung zurück und berufen sich darauf, nur ein "kleines Rädchen im Getriebe" gewesen zu sein oder irgendwann dem Foltersystem den Rücken gekehrt zu haben.

Welche Verantwortung trägt jemand wie Anwar R. in einem staatlichen Folterapparat? Führte er nur aus, was andere ihm befahlen? Oder entschied er eigenmächtig darüber, ob, wann und wie ein*e Gefangene*r gefoltert wurde?

Die Frage nach der Schuld des Einzelnen in einem Unrechtssystem wie dem syrischen ist keineswegs neu, sie hat schon die Jurist*innen bei den Nürnberger Prozessen beschäftigt. Spätestens seitdem ist anerkannt, dass das Handeln auf Befehl keine Rechtfertigung für die Begehung von Verbrechen darstellt.

Auf der einen Seite steht der mächtige Unrechtsapparat, auf der anderen der Einzelne, ohne dessen Beitrag der Apparat nicht funktioniert. Um die mutmaßliche Schuld von Anwar R. zu festzustellen und juristisch zu bewerten, wird das Gericht das Foltersystem der Regierung Assad beleuchten. Das macht die Bedeutung des Prozesses in Koblenz aus."

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Quelle:
European Center for Constitutional and Human Rights e.V. (ECCHR)
Zossener Str. 55-58, Aufgang D, 10961 Berlin
Telefon: + 49 (0)30 - 40 04 85 90, Fax: + 49 (0)30 - 40 04 85 92
E-Mail: info@ecchr.eu,
Internet: www.ecchr.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Mai 2020

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