Wochendruckausgabe 142 der Elektronischen Zeitung Schattenblick zum 20.07.2019
Märchen
"Weit aus der Ferne komm ich her
und bring euch manche neue Mär."
Von der Unterhaltungskunst einmal abgesehen wird dem Überbringer von
Gerüchten und Geschichten, dem Boten oder Erzähler also, nicht nur die
Weitergabe von Aufgeblasenem, Hergeholtem, Erfundenem, mithin von
unwahren Scheingeschichten, sondern auch der Transport von Wichtigem,
Wahrem und Wissenswertem zugesprochen, und sie zerlegt die jeweils
fabulierten Inhalte in schmückendes Beiwerk und in wahre
Begebenheiten, so daß die Mär, also die Botschaft, verpackt in das
Transportmittel des Märchens, in der menschlichen Kommunikationspraxis
wohl am verdaulichsten vermittelt und auch am aufmerksamsten verwertet
werden konnte.
Höchst verstört habe ich als kleines Kind bereits jenem alten
Schlagertext
"Ich weiß, was, ich weiß, was, ich weiß, was Dir fehlt,
ein Mann, der Dir keine Märchen erzählt"
nur die traurige Idee abgewinnen können, daß hier einem anderen
Menschen als ausdrücklich wünschenswert und höchst erfreulich der
Mangel oder das fehlende Vermögen, Märchen zu erzählen, als größte
Essenz des Glücks versprochen wurde, und fand dieses Versprechen, wie
man heute sagt, überhaupt nicht sexy.
Bis heute bin ich mir allerdings auch sicher, daß der bloße Abtausch von vorrangig überlebensrelevanten Informationen und Inhalten die historische Entfaltung unserer bis heute entstandenen Kultur- und Wissenschaftsleistungen in der menschlichen Geschichte weitreichend ausgeschlossen hätte.
Ihre Schattenblick-Redaktion
19. Juli 2019
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