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KIRCHE/1697: Präsenz zeigen und gefährdete Gemeinschaften begleiten (ÖRK)


Ökumenischer Rat der Kirchen - Feature vom 31. März 2015

Präsenz zeigen und gefährdete Gemeinschaften begleiten

Von Marianne Ejdersten, Direktorin für Kommunikation beim ÖRK


Seit 13 Jahren sind sie dort Tag für Tag, Monat für Monat und Jahr für Jahr. Sie sind eine feste Grösse innerhalb des chaotischen Lebens in Israel und Palästina geworden. Ihre Anwesenheit wird geschätzt, sie stehen für Sicherheit und Stabilität. Ihre einzige Waffe ist ihr Stift oder ihre Kamera. Sie sehen und hören zu, sie analysieren und erstatten Bericht.

Das ökumenische Begleitprogramm in Palästina und Israel (EAPPI) existiert seit 2002 und leistet einen Beitrag zur Eindämmung der Gewalt und zur Förderung der Einhaltung internationalen Rechts. Die Präsenz der Begleitpersonen steht für die praktische Solidarität mit gefährdeten Gruppen, mit israelischen und palästinensischen Betroffenen. Die Autorin hat das Heilige Land im März 2015 gemeinsam mit einer hochrangigen Delegation führender ÖRK-Mitglieder des Zentralausschusses besucht.

EAPPI ist die konkrete Antwort auf einen Appell von Kirchenleitenden in Jerusalem an den Ökumenischen Rat der Kirchen im Jahre 2002. Sie schrieben in einem Brief: "Wir bitten respektvoll um den Schutz aller Menschen, um einen Beitrag zur Wiederherstellung des gegenseitigen Vertrauens und der Sicherheit für die Angehörigen des israelischen und palästinensischen Volkes zu leisten. Weiterhin möchten wir alle friedliebenden Menschen überall auf der Welt auffordern, zu uns zu kommen und sich unserer Manifestation für einen gerechten Frieden anzuschliessen".

Der Ökumenische Rat der Kirchen hat sich diesen Appell zu Herzen genommen und gemeinsam mit Ortskirchen und Kirchen in Europa und den USA das Begleitprogramm ins Leben gerufen, das auf Präsenz im Land und auf der Analyse von Ereignissen und der Berichterstattung darüber basiert.

"Mehr als 70 Kirchen, ökumenische Gremien sowie kirchliche Dienste und Werke in 22 Ländern in Afrika, Asien, Europa, Nordamerika und Lateinamerika beteiligen sich aktiv an dem Programm. Fast 1.500 Begleitpersonen waren bereits im Einsatz. Wir werden bald die 58. Gruppe empfangen", sagt Manuel Quintero Pérez, der beim ÖRK als EAPPI-Koordinator arbeitet.

Die Begleitpersonen werden im Herkunftsland rekrutiert. Von Anfang an gab es seitens der Mitgliedskirchen ein unglaublich starkes Engagement und viel Unterstützung. Eine Begleitperson muss mindestens 25 Jahre alt sein, aber nicht älter als 70. Sie muss Erfahrungen in der Arbeit mit Menschen haben und fliessend Englisch sprechen. Drei Empfehlungen sind erforderlich, damit man angenommen wird. Die Begleitpersonen leben drei Monate direkt am Einsatzort und arbeiten in internationalen Teams z.B. in Hebron, Jericho oder Jerusalem.


Solidaritätsbesuch im Heiligen Land

Anlässlich des Solidaritätsbesuchs des Ökumenischen Rats der Kirchen im Heiligen Land im März 2015 treffen wir ca. zehn Begleitpersonen. Eines der in Jericho arbeitenden Teams besteht aus einem Norweger und einem Schweden. Sie erklären, dass sie am Vortag darüber benachrichtigt wurden, dass die Armee Häuser zerstöre. Die Meldung ging per SMS ein, und die beiden machten sich direkt auf den Weg in die Region. Diese Touren sind lang, und manchmal ist es schwierig, den Weg zu finden. Bei ihrer Ankunft treffen sie eine Beduinenfamilie mit vielen kleinen Kindern; die Familie wurde aufgefordert, das Gebiet zu verlassen, und sitzt jetzt dort ungeschützt in der glühenden Hitze und in der prallen Sonne. Sie bitten darum, wenigstens die Kinder an einen schattigen Platz bringen zu dürfen, aber die Bitte wird abgelehnt. Die Begleitpersonen bleiben bei der Familie, versorgen sie mit Wasser und setzen sich bei den Soldaten für die Kinder ein. Trotzdem wird das Heim der Familie dem Erdboden gleichgemacht, ihre gesamte Habe einschliesslich Lebensmitteln, Kleidung und Schulbüchern wird zerstört. Die Kinder besuchen eine von der UN in diesem Gebiet gebaute Schule, und die Schulbücher sind die Voraussetzung für die Teilnahme am Unterricht. Keine Schulbücher, kein Schulbesuch.

Als wir die Familie am nächsten Tag mit den Begleitpersonen wiedertreffen, begrüsst die schwer geprüfte Familie das Team herzlich. Bereitwillig berichten sie über den vergangenen Tag und zeigen uns die Trümmer ihres Hauses. Kein Stein ist auf dem anderen geblieben.

"Wir wollen unbedingt darüber sprechen, denn das hilft uns, die traumatischen Erlebnisse des gestrigen Tages zu verarbeiten", erzählt uns der Vater der Familie. "Die Tatsache, dass der Ökumenische Rat der Kirchen uns mit Begleitpersonen hilft, bedeutet für uns Zukunftshoffnung - jemand kümmert sich um uns, jemand ist hier und unterstützt uns in diesem gequälten und zerrissenen Teil der Welt."

Das ist eine Lebensgeschichte unter Tausenden, vielleicht sogar Millionen. Die Begleitpersonen haben die Aufgabe, zu beobachten, zu analysieren und zu berichten.


Begleitpersonen für Kinder und ältere Menschen

"Sie werden von den Entsendeorganisationen in ihrem Heimatland ausgebildet, bevor sie nach Israel und Palästina geschickt werden. Kommunikation und Fürsprachearbeit sind ein wichtiger Teil unserer Arbeit", sagt Quintero.

Einer der Begleiter, die wir treffen, erklärt, dass diese Arbeit extrem vielschichtig und anstrengend ist, dass er jedoch für den Einsatz reich belohnt wird - mit schönen Erinnerungen und lebenslangen Freundschaften.

Er berichtet, dass der Arbeitstag um 6 oder 8 Uhr morgens beginnt, je nach der Aufgabenstellung für den Tag. Einige Begleitpersonen bringen Kinder durch die Kontrollstellen zur Schule, damit sie rechtzeitig und problemlos ohne Belästigungen dort ankommen. Andere begleiten ältere Menschen ins Krankenhaus oder bleiben in Konfliktzonen, wo sich Spannungen zwischen verschiedenen Gruppen entladen, und sind zur Stelle, wenn die Armee Häuser zerstört.

"Manchmal habe ich den Eindruck, dass ich nicht genug Einsatz zeige. Es gibt viele praktische Probleme, die zu lösen sind, und alles dauert so lang. Manchmal beansprucht der Besuch einer Kontrollstelle fünf Stunden. Ich sehe mich absolut in der Pflicht, vor Ort zu sein. Ich weiss, dass meine Anwesenheit den Palästinensern und Palästinenserinnen im Dorf viel bedeutet."

Er erzählt von seinen Schuldgefühlen, weil er keine Zeit hat, wie geplant seine Berichte zu schreiben.

"Am wichtigsten sind für mich immer persönliche Begegnungen. Ich versuche, meinen Berichtsrückstand aufzuholen, bevor ich in vier Wochen wieder nach Hause fahre. Ich hoffe, ich kann dann auf Vorträgen berichten, was ich hier erlebt habe."

Der Begleiter erzählt weiter: "Diesmal hat der Aufenthalt mein Leben völlig verändert. Ich bin nicht mehr die Person, die ich bei meiner ersten Ankunft hier war. Ich habe eine neue Sichtweise auf das Leben gewonnen. Ich habe so viel Bosheit hier gesehen. Manchmal fühle ich mich machtlos und verzweifelt, und in solchen Momenten weiss ich meine Kolleginnen und Kolleginnen aus dem internationalen Team hoch zu schätzen. Gemeinsam können wie Eindrücke verarbeiten, uns gegenseitig Mut machen und uns darin bestärken, nicht aufzugeben, sondern weiter auf einen gerechten Frieden zu hoffen."

Die Begleitpersonen zeigen uns den neun Meter hohen Sicherheitszaun, der das Gebiet abtrennt und den Verkehr zwischen den einzelnen Ortschaften erheblich erschwert. Manchmal werden die einzelnen Kontrollstellen komplett geschlossen, manchmal muss man lange Strecken zurücklegen, um die Sperranlage passieren zu können. Die Begleitpersonen erzählen von einer Frau, die dringend medizinische Behandlung brauchte, den Checkpoint aber nicht passieren durfte, über den sie am schnellsten ins Krankenhaus gekommen wäre. Sie musste einen Umweg machen und starb völlig erschöpft, bevor sie das Krankenhaus erreichte.


Anwesenheit als Ausdruck praktischer Solidarität

Es ist 13 Jahre her, dass die Kirchenleitenden ihren schriftlichen Appell an den Ökumenischen Rat der Kirchen gesandt haben mit der Bitte, im Heiligen Land Präsenz zu zeigen. Einer der Initiatoren war der lutherische Bischof.

"Die Anwesenheit der Begleitpersonen in diesem Gebiet bedeutet für die gefährdete Bevölkerung viel. Sie vermitteln ein Gefühl der Sicherheit und der Hoffnung, dass sich jemand ihrer Sorgen annimmt", sagt Dr. Munib Younan, Bischof der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Jordanien und im Heiligen Land.

Pfarrerin Dr. Isabel Apawo Phiri, die beigeordnete Generalsekretärin des ÖRK für Öffentliches Zeugnis und Diakonie, betrachtet das Begleitprogramm als wichtigen Teil der Aufgabe, den Unterdrückten eine Stimme zu geben.

"Das Begleitprogramm ist ein relativ neuer Weg der Lobbyarbeit, teilweise durch konkrete und praktische Präsenz, teilweise durch persönliche Analysen und laufende Berichterstattung innerhalb des globalen Programms. Vor allen müssen die Begleitpersonen Newsletter, Blogs und Tweets schreiben und die Social Media nutzen, ihre Erfahrungen weiterzugeben. Das bedeutet, dass durch die unterschiedlichen Begleitpersonen Menschen in unterschiedlichen Ländern den Berichten der Menschen folgen können, die sie dorthin entsandt haben?

Phiri sagt, dass die Mitgliedskirchen durch das Begleitprogramm gemeinsam die Verantwortung übernehmen, um für einen gerechten und dauerhaften Frieden in der Region zu arbeiten. Natürlich reichen die Auswirkungen des Begleitprogramms alleine nicht aus, aber sie ergänzen die Gespräche mit Regierungsmitgliedern, religiösen Führungskräften und der UN.

Der Ökumenische Rat der Kirchen leistet gemeinsam mit Kirchenleitenden und dem Rat der Kirchen im Mittleren Osten umfassende Arbeit in der Region.


ÖRK-Mitgliedskirchen in Israel und Palästina:
http://lists.wcc-coe.org/ct.html?ufl=4&rtr=on&s=jazjt,19zc3,usx,3r7o,31qa,6a92,l50s

Ökumenisches Begleitprogramm in Palästina und Israel:
http://lists.wcc-coe.org/ct.html?ufl=4&rtr=on&s=jazjt,19zc3,usx,6szj,ebgc,6a92,l50s

ÖRK-Leitung befasst sich während eines Solidaritätsbesuchs in Israel und Palästina mit Friedensstiftung und interreligiösen Initiativen (ÖRK- Pressemeldung vom 12. März 2015):
http://lists.wcc-coe.org/ct.html?ufl=4&rtr=on&s=jazjt,19zc3,usx,4wr0,fgdo,6a92,l50s

Erklärung über wirtschaftliche Massnahmen und christliche Verantwortung gegenüber Israel und Palästina:
http://lists.wcc-coe.org/ct.html?ufl=4&rtr=on&s=jazjt,19zc3,usx,ezle,1o0x,6a92,l50s

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Quelle:
Feature vom 31. März 2015
Deutsche Fassung veröffentlicht am: 09. April 2015
Herausgeber: Ökumenischer Rat der Kirchen (ÖRK)
150 rte de Ferney, Postfach 2100, 1211 Genf 2, Schweiz
E-Mail: ka@wcc-coe.org
Internet: www.wcc-coe.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. April 2015

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