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KIRCHE/512: Russische Orthodoxie beendet Spaltung (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion 4/2007

Vereinigung mit Schönheitsfehlern
Die russische Orthodoxie beendet eine jahrzehntelange Spaltung

Von Gerd Stricker


Seit der Russischen Revolution gibt es neben der Russischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats eine russisch-orthodoxe Auslandskirche. Nach Jahrzehnten heftiger Auseinandersetzungen ist es nun nicht zuletzt dank des Einsatzes von Präsident Putin gelungen, diese Spaltung zu beenden. Die beiden Kirchen werden demnächst eine Vereinbarung über kanonische Gemeinschaft unterzeichnen.


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Am 17. Mai 2007 werden Patriarch Alexij II. von Moskau und ganz Russland, Moskauer Patriarchat, sowie Metropolit Lavr, Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche außer Landes (ROKA), in der Moskauer Christus-Erlöser-Kathedrale feierlich die Vereinigung der beiden bisher verfeindeten Kirchen besiegeln. Nach dem Zerfall der Sowjetunion war zunächst wenig geschehen, was auf eine Beendigung der tiefen Trennung der russischen Orthodoxie hingedeutet hätte. Dann, nachdem im September 2003 Präsident Vladimir Putin persönlich die Initiative ergriffen hatte, ging plötzlich alles sehr schnell - vielen gar zu schnell. Innerhalb von dreieinhalb Jahren wurden (auf kirchenleitender Ebene) alle strittigen Fragen diskutiert, weitgehend geklärt, wenn auch nicht immer endgültig gelöst. Aber es scheint, dass in der ROKA eine Anzahl von Geistlichen und Laien aus Protest den Schritt ins Moskauer Patriarchat nicht mitvollziehen wird.

Nach dem bolschewistischen Oktoberputsch von 1917 waren zusammen mit Millionen von Emigranten auch etwa 25 Bischöfe und mehrere Hundert Priester aus der "Räterepublik" geflohen. Bevorzugte Zielländer waren Deutschland, Frankreich, Benelux, die Tschechoslowakei, Großbritannien, Italien - und die orthodoxen Länder Serbien und Bulgarien. Die Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre bewog allerdings viele der nach Deutschland Emigrierten, nach Frankreich weiterzuziehen, wo bedeutende russische Institutionen entstanden. Sehr bald versuchten die russischen Geistlichen in der Diaspora, miteinander in Verbindungen zu treten und Strukturen aufzubauen.

Jene russischen Bischöfe, die nach Serbien emigriert waren, wurden vom dortigen Patriarchen Dimitrije (Pavloviae) ehrenvoll aufgenommen. Diese beriefen auf November 1921 kirchliche Repräsentanten der Emigration ins serbische Karlowitz (Sremski Karlovci, unweit von Novi Sad/Voivodina), wo der serbische Patriarch den russischen Bischöfen Räumlichkeiten überlassen hatte. Die Konferenz wurde bald zur Synode erklärt: Das war die Geburtsstunde der "ROKA".

Die Stimmung der russischen Emigration spiegelte sich in - teilweise politischen - Entscheidungen und Beschlüssen; Monarchismus, Antibolschewismus, extremer kirchlicher Konservatismus bestimmten das Klima. Die Proklamationen schon dieser ersten Synode hatten die Bolschewiki so provoziert, dass die Kirchenleitung in Moskau unter Patriarch Tichon (Bellain, 1865-1925) in eine schwierige Lage geriet und gezwungen war, gegen die ROKA Stellung zu beziehen und sie 1922 aufzulösen, was die ROKA natürlich ignorierte.

Von Anfang waren in der ROKA zwei Richtungen erkennbar - die einen konnten im orthodoxen Umfeld, also in Serbien und Bulgarien, ihren Konservatismus ausleben, die anderen mußten sich in katholischen und evangelischen Ländern behaupten. Nur mit Hilfe katholischer, lutherischer und anglikanischer Mitchristen gelang es den Flüchtlingen, Gemeinden aufzubauen. Die Russen im "Westen" gelangten zu ökumenischen und demokratischen Positionen, die von der Führung der ROKA in Serbien als "liberal" abgelehnt wurden.

Metropolit Jevlogij (Georgievskij, 1868-1946) gründete in Paris das bekannte - von der ROKA als "häretisch" bezeichnete orthodoxe "Theologische Institut St. Serge", trennte sich 1926 von der ROKA und unterstellte seinen Metropolitankreis Mittel- und Westeuropa später dem Ökumenischen Patriarchat Konstantinopel (in reduzierter Form bis heute existent). Die Gemeinden von Metropolit Platon (Roshdestvenskij, 1866-1934) in Amerika, der ebenfalls die ROKA verließ, bildeten die Basis für die heutige "Orthodox Church in America". Ihr Verhältnis zur ROKA war fast bis heute gespannt.

Der Zweite Weltkrieg brachte die Ausweitung des sowjetischen Dominiums bis an die Elbe und auf den Balkan. Die Führung der ROKA floh aus Serbien, ließ sich kurzzeitig in München (1946-1950) nieder, um sich dann in New York neu zu etablieren. Neben den ausgesprochen nationalen und hochkonservativen kirchlichen Positionen kennzeichnete die ROKA nach dem Zweiten Weltkrieg stärker noch als zuvor ihr kämpferischer Antikommunismus, der sie für die Sowjets zu einem wichtigen Gegner im Westen machte - womit sie zwangsweise auch für das Moskauer Patriarchat zum ideologischen Hauptfeind wurde.

Umgekehrt wurde das Patriarchat für die ROKA zur "Sowjetkirche", jeder Bischof in der Sowjetunion zum "Sowjetbischof', zum Agenten des Regimes, das das Leben in der Kirche und insbesondere jede Bischofsernennung steuerte. Im Prinzip galten der ROKA alle Bischöfe und viele Priester des Patriarchats a priori als Kollaborateure des Regimes. Es gab genügend Fälle, die diese Annahme bestärkten. Dass man die Dinge viel differenzierter sehen musste (etwa die Frage der "Kompromisse zum Schein"), wollte man in der ROKA nicht wahrhaben.

Obwohl vom Moskauer Patriarchat vehement angefeindet und seit seinem Einzug in den Weltrat der Kirchen (1961) auch in der Ökumene isoliert, hat die ROKA im Kalten Krieg doch Wichtiges geleistet: Sie informierte die Welt über die faktische Knebelung der Kirche durch das Sowjetregime, über Verfolgungen und Kirchenschließungen (etwa unter Chruschtschow). Von großer Bedeutung wurden die Druckereien der ROKA, die geistliche und erbauliche Literatur, meist aus dem 19. Jahrhundert, nachdruckten und über zahlreiche Kanäle in die Sowjetunion schmuggelten.

Die ROKA bezeichnete sich als der einzig freie Teil der Russischen Orthodoxen Kirche, wohingegen das Moskauer Patriarchat als Gefangene des Sowjetregimes gebrandmarkt wurde. 1981 sprach die ROKA etwa 3000 von den Sowjets ermordete orthodoxe sogenannte "Neu-Märtryrer" heilig, darunter Zar Nikolaj II. und seine Angehörigen, die 1918 von den Bolschewiki umgebracht worden waren. Die wütenden Reaktionen im offiziellen Moskauer "Patriarchatsjournal" sind noch immer lesenswert. Für viele Gläubige in der Sowjetunion jedoch wurde die ROKA zur wahren Russischen Kirche. Um 1990 mochte die ROKA 50.000 bis 80.000 aktive und praktizierende Glieder mit rund 375 Gemeinden gezählt haben. Die Zahl der Priester, die in der Regel mehrere Gemeinden betreuen, lag vielleicht bei 150 und 200. Von den Eparchien der ROKA liegen fünf in Nordamerika und je eines in West- und in Mitteleuropa sowie in Australien.

Noch Jahre nach dem Ende des Kommunismus ging der Kalte Krieg an der kirchlichen Front weiter. Die Beendigung der Spaltung der Russischen Kirche schien weiterhin fern. Die in kommunistischen Zeiten tonangebenden Bischöfe beider Kirchen bestimmten weiter den Kurs. In Deutschland gab es mühsame Versuche von Erzbischof Mark (Arndt) von Berlin und Deutschland (in München, ROKA), einen Dialog mit Erzbischof Feofan (Galinskij) von Berlin und Deutschland (Moskauer Patriarchat) aufzunehmen. Konkret haben diese Gespräche offenbar nichts gebracht. Erzbischof Mark reiste verschiedentlich nach Russland, führte Gespräche mit einigen Hierarchen des Patriarchats; angeblich sogar heimlich mit Patriarch Alexij. Charakteristisch war, daß er deshalb vom New Yorker Heiligen Synod 1998 scharf gerügt wurde.

Die Sowjetregierung hatte für die Gotteshäuser und sonstigen Immobilien der russischen Kirchengemeinden in der Diaspora bis in die achtziger Jahre kein Interesse gezeigt: für die schönen und heute unermeßlich wertvollen russischen Gotteshäuser in west- und mitteleuropäischen Städten. Erst die Jelzin-Administration erkannte dieses Potenzial. Offenbar als deren verlängerter Arm unternahm das Moskauer Patriarchat beziehungsweise seine Gemeinden im Westen Versuche, solche in der Regel von der ROKA genutzten Gotteshäuser auf dem Prozesswege dem Patriarchat zuzuführen (in Kopenhagen, Nizza, Vevey, Genf, Biarritz); die Prozesskosten übernahm jeweils die russische Botschaft. Es wurde so argumentiert: Da diese - meist nach 1870 - gebauten Kirchen auf Kosten des russischen Staates oder der Zarenfamilie errichtet worden waren, seien sie Staatseigentum. Dass die Emigranten und ihre Nachkommen diese Kirchen 80 Jahre lang unter größten Opfern erhalten haben, wurde ignoriert. Vladimir Putin und die patriotisch-orthodoxe Staatsideologie Während das Moskauer Patriarchat unter Präsident Jelzin gegenüber der ROKA konfrontative Maßnahmen anwandte, verfolgte Präsident Putin von Anfang an eine andere Strategie - die der Umarmung. Zu Beginn seiner Amtszeit profilierte er sich als Orthodoxer und verordnete Rußland eine patriotische Staatsideologie mit orthodoxem Kern. Damit gewann er die bisher frustrierten Auslandsrussen, die unter dem Sowjetregime (dem "Reich des Bösen") und unter der ersten postsowjetischen Phase wirtschaftlichen und moralischen Zusammenbruchs ("russische Mafias") ihr Russentum hatten gleichsam verstecken müssen.

Nun gab Putin dem Staat Züge des alten Russlands zurück: Die orthodoxe Kirche erhielt wieder ihren angemessenen Platz, Kuppeln der Kathedralen erstrahlten in neuem Gold und - ein wichtiger Faktor für die Auslandsrussen: Adelsbälle versammeln die russische Aristokratie in St. Petersburg. Putins Russland gewann wieder Ansehen in der Welt; man mußte sich nicht mehr schämen, Russe zu sein.

Die neue Situation verunsicherte die alte Diaspora. Der russische Nationalismus Putinscher Prägung findet die volle Sympathie vieler Auslandsrussen. Und die orthodox-patriotische Staatsideologie Putins korrespondiert der bisherigen Raison d'être der ROKA, das wahre, das Heilige Russland zu repräsentieren. Zudem leiden die Bischöfe der ROKA unter einem Minderwertigkeitskomplex. Während die ROKA auf Weltebene als "unkanonisch" weitgehend isoliert war, wurde das Moskauer Patriarchat - zuweilen geradezu peinlich-beflissen - hofiert. Nun heisst es, manche Bischöfe der ROKA drängen auf Vereinigung mit dem Patriarchat, um ihren Klobuk (bischöfliche Kopfbedeckung) aus der Hand des Moskauer Patriarchen zu empfangen - zur Hebung ihres Selbstwertgefühls.

Präsident Putin hatte 2002 verkündet: "Jede russische Kirchengemeinde im Ausland muss zu einer Repräsentanz der Russländischen Föderation werden!" Diese Äußerung signalisiert den hohen Stellenwert, den Putin der ROKA im Rahmen seiner weltumspannenden Ambitionen beimisst: Sie verfügt über das dichteste und statistisch bedeutendste Netz im Ausland - und wurde für Putin zu einer wichtigen Zielgruppe. Ganz sicher hat Putin auf Patriarch Alexij in seinem Sinne einzuwirken versucht.

Die daraus resultierenden Versöhnungsbekundungen des Patriarchats an die Adresse der ROKA wirkten halbherzig, wie Pflichtübungen - beispielsweise ein Projekt, das Patriarch Alexij (1.4.2003) allen Bischöfen von Kirchen russischer Provenienz in Westeuropa (Moskauer Patriarchat, ROKA, russisches Erzbistum in Paris) unterbreitete: Sie sollten gemeinsam einen "autonomen" russisch-orthodoxen "Metropolitankreis Westeuropa" (natürlich im Rahmen des Moskauer Patriarchats) bilden. Der Vorstoß, auch ohne Nachdruck geführt, geriet nach heftigen Kontroversen in Vergessenheit.

Probleme unter den Teppich gekehrt In der ROKA lagen die Dinge zunächst ähnlich: Wie erwähnt, war Erzbischof Mark (München) wegen seiner Kontakte zum Patriarchat noch 1998 vom Synod der ROKA gemaßregelt worden. Das änderte sich, nachdem im Zuge einer Art Palastrevolution das greise Oberhaupt der ROKA, Metropolit Vitali (Oustinoff, 1910-2006), ein Antikommunist "von altem Schrot und Korn", von nach Moskau strebenden Bischöfen und Priestern zum Rücktritt gedrängt worden war. Die nunmehrige Opposition bildet jetzt eine radikal sich gegen jede Annäherung an Moskau richtende Kirchengruppe, die allen Gleichgesinnten Aufnahme bietet.

Die nun dominierende Moskau-Fraktion in der ROKA begann, Fäden nach Moskau zu spinnen. 2001 und 2002 tagten kirchenhistorische Kommissionen beider Kirchen gemeinsam. Nachdem trotz allem Gespräche mit dem Patriarchat nicht recht in Gang kamen, wurde Putin als Erfinder der orthodox-patriotischen Staatsidee zum idealen Ansprechpartner für die ROKA.

Der machte nun offenbar das Projekt Kirchenvereinigung zur "Chefsache". Nach logistischen (vor der Öffentlichkeit verborgen gehaltenen), mit der ROKA koordinierten Vorbereitungen landete Putin am 24. September 2003 seinen "Coup": Er empfing in New York die Führung der ROKA. Bruderküsse und Ikonen wurden ausgetauscht. Putin dankte den Bischöfen, dass die ROKA russischen Geist (russkost') und Patriotismus in der Diaspora mehr als acht Jahrzehnte getreulich bewahrt habe. Natürlich war die Vereinigung der russischen Kirchen das Hauptthema. Präsident Putin übermittelte Grüße von Patriarch Alexij und überbrachte dessen Einladung an Metropolit Lavr (Schkurla), Oberhaupt der ROKA, nach Moskau. Die kirchliche Welt war sprachlos.

Plötzlich ging alles recht zügig voran. Erzbischof Mark machte einen Sondierungsbesuch in Moskau; Metropolit Lavr reiste für einige Wochen nach Russland und besuchte auch die Provinz. Gespräche wechselten mit Gottesdiensten, an denen die Geistlichen der ROKA nur teilnehmen, nicht aber konzelebrieren konnten, da noch keine eucharistische Gemeinschaft besteht: Ihre Wiederherstellung ist das große Ziel.

Spezielle Kommissionen beider Kirchen tagten zwischen Juni 2004 und Oktober 2006 achtmal - erst getrennt und dann gemeinsam, um Lösungsvorschläge für die brennendsten Probleme zu erarbeiten. Die Gespräche waren natürlich schwierig. Zu sehr waren auch die Kommissionsmitglieder noch in alten mentalen und ideologischen Schablonen befangen. Dass trotz aller Schwierigkeiten weitergearbeitet wurde, hat sicher mit dem hohen Interesse Putins zu tun. Besuche von Geistlichen der ROKA in Moskau wurden zur Routine.

Die Kommissionen hatten einerseits kanonische, andererseits ekklesiologische Probleme zu lösen. Die ROKA lehnte eine unmittelbare Unterordnung unter das Patriarchat rundweg ab (wie man sich das in Moskau ursprünglich wohl vorgestellt hatte). 2004 erklärte Erzbischof Mark: "Das völlige Unverständnis für die Psyche der Orthodoxen im Westen, das das Moskauer Patriarchat an den Tag gelegt hat, zeigt, dass es über keine Menschen verfügt, die zur Lösung so komplexer Aufgaben kompetent wären."

Sein Vorschlag war schon damals: "Die ROKA könnte z. B. einen eigenen [autonomen] Metropolitankreis innerhalb des Moskauer Patriarchat bilden und auf dieser Basis dann mit dem Patriarchat in eucharistische Gemeinschaft treten." Als Vorbild wurden die Autonomen Kirchen im Moskauer Patriarchat, beispielsweise Estland, Lettland, Litauen und die Ukraine, angeführt. Diskussionen gab es auch um den Immobilienbesitz der ROKA. Dessen Übereignung an das Moskauer Patriarchat, (also faktisch an den russischen Staat) hätte selbst die Moskau-freundlichsten Glieder der ROKA abgeschreckt.

Zuvörderst musste es darum gehen, mit klaren Gesten dem Hassvokabular und der Vorstellung, die je andere Kirche sei das schlechthin Böse, eine Versöhnungs-Symbolik entgegenzustellen. So hatte Erzbischof Mark bei seinem ersten offiziellen Besuch in Moskau, im November 2003, das Moskauer Patriarchat um Verzeihung gebeten für all den Schmerz, der ihm von der ROKA zugefügt worden ist. In seiner Antwort bat Metropolit Kirill, Chef des Außenamtes der Moskauer Kirche, seinerseits die ROKA um Vergebung. Patriarch Alexij formulierte das am 2. Dezember 2004 so: "Mit dieser Botschaft drücken wir unsere Reue aus über alle unserer Worte und Handlungen [gegen die ROKA - G. S.], die nicht dem Frieden gedient haben."

In ekklesiologischer Hinsicht hatten sich über Jahrzehnte drei Haupthindernisse einer Annäherung herauskristallisiert, deren befriedigende Lösung die ROKA als Vorbedingung einer Aussöhnung betrachtete. Erstens müsse das Patriarchat die Neu-Märtyrer aus der Sowjetzeit heiligsprechen, zweitens den so genannten "Sergianismus" als Irrweg erkennen und bereuen und drittens sich aus der Ökumene zurückziehen.

Die erste Vorbedingung hat das Patriarchat am Bischofskonzil im Jahre 2000 erfüllt, als es mehr als 1000 "Neu-Märtyrer" kanonisierte - unter ihnen Zar Nikolaj II. und die mit ihm ermordeten Glieder der Zarenfamilie. Diese und andere Fragen wurden in gemeinsamen Dokumenten behandelt, die am 23. Mai 2005 veröffentlicht worden sind.

Mit "Sergianismus" ist jene Loyalität des Moskauer Patriarchats dem Sowjetstaat gegenüber gemeint, zu der Metropolit Sergij (Stragorodskij, 1867-1944), damals Oberhaupt der Russischen Kirche, im Jahre 1927 seine Kirche gegenüber dem "gottlosen und Christen verfolgenden Sowjetstaat" verpflichtet hatte; diese Doktrin bildete bis zum Ende der Sowjetunion die Grundlage des Verhältnisses von Moskauer Patriarchat und Sowjetstaat. Davon nun sollte sich das Patriarchat distanzieren und Reue bekunden.

Schon in den neunziger Jahren hatte Patriarch Alexij das mehrmals getan. In ihren Gemeinsamen Erklärungen vom 23. Mai 2005 wiesen die Kommissionen darauf hin, dass die vom Moskauer Bischofskonzil 2000 beschlossenen "Grundlagen einer Sozialkonzeption" in Kapitel 3 ausführlich auf die Beziehungen zwischen Staat und Kirche eingehen. Dort wird jede Einflussnahme des Staates auf das innere Leben der Kirche zurückgewiesen und dargelegt, dass dem Staat gegenüber durchaus Loyalität zu bezeigen sei, dass diese aber Grenzen habe, die genau definiert werden. Diese Klarstellung wird von den Kommissionen als Lossagung vom "Sergianismus" gedeutet: "Die Tatsache, dass die Russische Kirche hinsichtlich ihrer Beziehungen zum Staat die Linie, die in der 'Loyalitätserklärung' [von Metropolit Sergij] zum Ausdruck kam, klar zurückgewiesen hat, eröffnet den Weg zur Fülle der brüderlichen Gemeinschaft."

Damit ist für die Verhandlungskommissionen das Thema "Sergianismus" erledigt. Aber eher unbefriedigend, wie viele in der ROKA meinen. Man hatte eine entschiedenere Verurteilung erwartet. Es entstand bei vielen der Eindruck, dass um der schnellen Abarbeitung der Agenda willen die Kommissionen die eigentliche Problematik "unter den Teppich gekehrt" hätten.

Die ROKA hat immer schon ökumenischen Bestrebungen eine Absage erteilt. Das Patriarchat hingegen hat seit seinem Eintritt in den ÖRK 1961 scheinbar intensiv darin mitgearbeitet. An der 8. Vollversammlung des ÖRK 1998 in Harare ging aber auch das Patriarchat auf Abstand zur protestantisch bestimmten Genfer Ökumene. Für beide Kirchen ist klar, dass allein die Orthodoxie "an der im Glaubensbekenntnis formulierten Lehre festhält, wonach die Kirche Christi eins ist" - und dass "die orthodoxe Kirche als Pfeiler und Grundfeste der Wahrheit die Lehre Christi vollkommen und ohne irgendwelche Fehler bewahrt hat". Die protestantischen Kirchen hingegen hätten die Bindung an die wahre Überlieferung der Heiligen Kirche verloren - durch "humanistischen Liberalismus", durch eigenmächtiges Verändern der von Gott gesetzten moralischen Normen und dogmatischen Lehren.

Das Dokument der Kommissionen bekräftigt aber, dass die Mitwirkung im Weltkirchenrat trotzdem sinnvoll sei, weil sie eine Plattform biete, ein Zeugnis für die Orthodoxie abzugeben. Aber im ÖRK müsse "jeglicher religiöse Synkretismus ausgeschlossen" bleiben. Liturgische Gemeinschaft mit Nicht-Orthodoxen wird ebenso zurückgewiesen wie orthodoxe Teilnahme an liturgischen Handlungen bei ökumenischen Gottesdiensten. Immerhin biete die Ökumene die Möglichkeit einer notwendigen Zusammenarbeit im diakonisch-sozialen Bereich.

Die ROKA hat Mühe mit diesem Papier, in dem sich das Patriarchat eine künftige Mitarbeit in der Ökumene offenhalten möchte. Die Repräsentanten der ROKA haben diesem Papier zugestimmt - aber offenbar nur zähneknirschend. In einem Beschluss des IV. Gesamtkonzils der ROKA am 11. Mai 2006 heißt es denn auch: "Die Mitwirkung des Moskauer Patriarchats im Weltkirchenrat ruft bei unseren Geistlichen und Laien Irritationen hervor. Mit wehem Herzen bitten wir die Hierarchen des Patriarchats (...), sich so schnell wie möglich von der (ökumenischen) Versuchung loszusagen."

Vereinbarung über die kanonische Gemeinschaft

Am 17. Mai wird diese Vereinbarung von den Oberhäuptern beider Kirchen feierlich unterzeichnet, wie sie vom Bischofskonzil des Moskauer Patriarchats und vom Bischofskonzil und Gesamtkonzil der ROKA verabschiedet und am November 2006 veröffentlicht worden ist. Die wichtigsten Passagen des Dokuments lauten:

"... Die ROKA, die ihren heilbringenden Dienst in der historisch gewachsenen Gesamtheit ihrer Eparchien, Gemeinden, Klöster, Bruderschaften und anderen kirchlichen Einrichtungen versieht, bildet einen integralen, sich selbst verwaltenden Teil der Russischen Orthodoxen Kirche.

1. Die ROKA ist in pastoralen, katechetischen, administrativen, wirtschaftlichen, zivilen Belangen sowie Vermögensangelegenheiten selbständig, wobei sie gleichzeitig in kanonischer Einheit mit der (...) Russischen Orthodoxen Kirche steht.

2. Die höchste geistliche, gesetzgeberische Gewalt übt in der ROKA das Bischofskonzil aus (...).

3. Der Ersthierarch der ROKA wird von ihrem Bischofskonzil gewählt. Die Wahl wird entsprechend dem kanonischen Recht vom Patriarchen von Moskau und vom Heiligen Synod des Patriarchats bestätigt.

4. Die Namen des [Moskauer] Patriarchen und des Ersthierarchen der ROKA werden in allen Kirchen der ROKA vor dem Namen des Eparchialbischofs kommemoriert (...).

6. Die Bischöfe der ROKA werden von ihrem Bischofskonzil gewählt (...). Die Wahl wird (...) vom Patriarchen von Moskau (...) und seinem Heiligen Synod bestätigt.

7. Die Bischöfe der ROKA sind Mitglieder der Landes- und Bischofskonzile des Patriarchats und nehmen (...) an den Sitzungen des Heiligen Synods teil. Vertreter von Klerus und Laien der ROKA nehmen am Landeskonzil des Patriarchats teil.

8. Höchste Instanz der kirchlichen Gewalt der ROKA sind Landes- und Bischofskonzil des Patriarchats.

9. Die Entscheidungen des Heiligen Synods des Patriarchats sind für die ROKA (...) verbindlich. (...)

12. Die ROKA erhält das hl. Myron vom Patriarchen von Moskau und ganz Russland.

Mit vorliegender Verordnung wird die kanonische Gemeinschaft innerhalb der Russischen Orthodoxen (Orts-)Kirche wiederhergestellt. Frühere Erlasse, die der Fülle der kanonischen Gemeinschaft im Wege standen, sind nichtig. (...)

[...] Den Gemeinden der ROKA wird eine fünfjährige Übergangsfrist gewährt, während welcher noch offene Fragen gelöst werden können, wie z. B. die Wiederaufnahme der Gemeinden der ROKA in Russland in die Jurisdiktion des Patriarchats oder die Frage von Parallelgemeinden im Ausland."

Der Hinweis auf Gemeinden der ROKA in Russland (Punkt 12 der Vereinbarung) tangiert ein heikles Problem: In den neunziger Jahren waren in den GUS-Staaten 50-70 ROKA-Gemeinden entstanden - als massivste Form des Protestes gegen Bischöfe des Patriarchats oder gegen seine Kirchenpolitik. Die ROKA-Bischöfe in der GUS sind jetzt die heftigsten Gegner der Vereinigung und sollen sich nun (angeblich mit Bischöfen) von der ROKA getrennt und anderen Gruppen angeschlossen haben.

Während im Moskauer Patriarchat die Vorbereitung der Vereinigung mit der ROKA Sache der Kirchenleitung war, ist in der ROKA auch die Basis am künftigen Schicksal ihrer Kirche brennend interessiert. Entscheidungen von solcher Tragweite bedürfen in der ROKA der Bestätigung durch Gesamt- oder Bischofskonzil. In manchen Priester- und Laienkreisen, vor allem unter Nonnen und Frauen, ist aber die Ablehnung der avisierten Vereinigung massiv. Sie befinden: Dieser wichtige Prozess sei über ihre Köpfe und unter Umgehung ihres - zu erwartenden - erbitterten Widerstandes "durchgezogen" worden.

Es ist ihnen unbegreiflich, dass das, was 80 Jahre lang als Dogma der ROKA gegolten hat, nämlich dass das Moskauer Patriarchat zutiefst von sowjetischem Geist beseelt sei, mit ein paar Erklärungen vom Tisch gefegt wird.

Die ROKA-Basis hätte sich mehr Zeit und eine vertiefte Aufarbeitung der schmerzvollen Vergangenheit gewünscht. Überall begegnet das Stichwort "überstürzt", und häufig hörte man klagen, die Bischöfe schielten nach Moskau und ließen darüber ihre Herde im Stich.

Je näher der 17. Mai 2007 rückt, desto lauter werden die Drohungen der Vereinigungsgegner: Sie würden die ROKA verlassen und sich einer der schon abgespaltenen Gruppierungen anschließen; vor allem im amerikanischen und im russischen Internet prognostizieren Vereinigungsgegner, die ROKA werde sich in zahllose Vereinigungs-unwillige Splittergruppen aufgelöst haben, noch bevor die Vereinigung erfolgt. Vermutlich wird die Macht des Faktischen darüber hinweggehen - aber es bleibt doch der Eindruck, dass die Vereinigung der beiden großen russischen Kirchen, so sehr sie zu begrüßen ist, einige Schönheitsfehler aufweist.


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Gerd Stricker (geb. 1941), Studium der Slawistik (Schwerpunkt: Altkirchenslawisch) und Geschichte, Dr. phil., Mitarbeiter des Instituts "Glaube in der 2. Welt/ G2W" in Zürich und Chefredakteur der gleichnamigen Zeitschrift. Zahlreiche Monographien und andere Publikationen.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 4, April 2007, S. 204-208
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Juli 2007