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MELDUNG/187: Literaturhinweis - neue Faktoren zur Anerkennung der Religionsfreiheit in der Kirche vor gut 50 Jahren (idw)


Exzellenzcluster "Religion und Politik" an der Westfälischen Wilhelms- Universität Münster - 02.03.2016

"Erneuerung nicht aus Rom, sondern von den Kirchenrändern"

Studie von Sozialethiker Karl Gabriel präsentiert neue Faktoren zur Anerkennung der Religionsfreiheit in der Kirche vor gut 50 Jahren - Vorbild für andere Religionen?


Die radikale Anerkennung der Religionsfreiheit durch die katholische Kirche vor gut 50 Jahren hat ihren Ursprung nach einer neuen Studie aus dem Exzellenzcluster "Religion und Politik" nicht im römischen Zentrum, sondern an den Rändern der Weltkirche. "Erst als die Gläubigen an der Basis ihre positiven Erfahrungen mit Demokratie und Freiheitsrechten nach Rom trugen, kam es zur Wende in der kirchlichen Lehrmeinung", erläutern die Sozialethiker Prof. Dr. Karl Gabriel, Prof. Dr. Christian Spieß und Dr. Katja Winkler, die in ihrer jüngst veröffentlichten Untersuchung neue Faktoren für die Anerkennung der Religionsfreiheit erarbeiten. Entgegen verbreiteter Forschungsmeinung sei der Wandel nicht allein mit Vorgängen auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) zu erklären. Das Buch "Wie fand der Katholizismus zur Religionsfreiheit" erschien soeben im Paderborner Verlag Schöningh.

"Erst die beachtliche Pluralität und Offenheit unter Katholiken in Vereinen und Verbänden sowie in der Theologie führte dazu, dass die Kirche auf dem Konzil ihren Anspruch auf politische Gewalt aufgab, die Trennung von Religion und Staat anerkannte und sich fortan darauf beschränkte, eine zivilgesellschaftliche Kraft unter vielen zu sein", so die Autoren. Sie stellen ihre Studie am 12. Mai um 18.00 Uhr in einer Veranstaltung des Centrums für Religion und Moderne (CRM) der WWU und des Exzellenzclusters "Religion und Politik" in Raum JO 101 im Hörsaalgebäude des Forschungsverbundes, Johannisstraße 4, in Münster vor. Anschließend kommentieren der Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf vom Exzellenzcluster und der Ethiker Prof. Dr. Arnulf von Scheliha von der WWU die Studie.

"Die Hinwendung des Konzils zur Religionsfreiheit ist nicht alleine auf eine Intervention der US-Bischöfe zurückzuführen", unterstreichen die Forscher. Vielmehr seien die US-amerikanischen Impulse auf einen Boden gefallen, "der durch viele politische und gesellschaftliche Faktoren für die Anerkennung der Religionsfreiheit bereitet war." Dazu gehörten die Erfahrungen des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges, die Kodifizierung der Menschenrechte, der Kalte Krieg und die Blockkonfrontation, die Rolle des politischen Katholizismus und des Laienkatholizismus insgesamt sowie das historisch einmalige Wirtschaftswachstum nach dem Weltkrieg.

Vorbild für den Islam?

Der Band mit dem Untertitel "Faktoren der Erneuerung der katholischen Kirche" erörtert detailliert die innerkirchlichen und gesellschaftlichen Faktoren, die zum Lernprozess beitrugen. Das Buch ist Teil der Reihe "Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt", zu der vier weitere von den Autoren herausgegebene Bände gehören. Es entstand im Projekt C 11 "Gewaltverzicht religiöser Traditionen" unter Leitung von Prof. Dr. Karl Gabriel. Prof. Dr. Christian Spieß ist inzwischen an der Katholischen Universität Linz in Österreich tätig, Dr. Katja Winkler an der Universität Tübingen.

Ob der Modernisierungsprozess der Kirche heute anderen Religionen wie dem Islam als Vorbild dienen kann, lässt sich den Autoren zufolge nicht ohne weiteres sagen. "Ein Unterschied liegt in der Struktur der Religionsgemeinschaft", so Prof. Gabriel. "Der katholische Zentralismus erlaubte es, eine Neuorientierung zentral zu beschließen und in der ganzen Religionsgemeinschaft zu vollziehen. Hier zahlte sich der Zentralismus einmal positiv aus. Das wäre in weitläufigeren Religionsgemeinschaften kaum möglich." Zugleich lässt sich den Wissenschaftlern zufolge aber folgende Annahme aus den Ergebnissen ableiten: "Religionsgemeinschaften dürften eher Anschluss an den modernen Verfassungsstaat, an Demokratie und Menschenrechte finden, wenn sie positive Erfahrungen in solchen Staaten machen. Insoweit dürfte es kontraproduktiv sein, sie unter Druck zu setzen und zur normativen Modernisierung zu drängen. Erfolgversprechender erscheint es, im säkularen Staat weite Spielräume für die Religionsausübung zu schaffen sowie religiöse Akteure an zivilgesellschaftlichen Prozessen zu beteiligen."

Schwere Kontroversen und Krisen auf dem Konzil

Die Autoren zeichnen in ihrer Studie textgenau die Entstehung der Konzilserklärung "Dignitatis humanae - Über die Religionsfreiheit" nach, die von "schweren Kontroversen und Krisen" geprägt gewesen sei. "Eine bedeutende Rolle spielte dabei die US-amerikanische Theologie, insbesondere der Jesuit John C. Murray, durch plausible und geschickte Argumentation. Sie stellte die Hinwendung zur Religionsfreiheit nicht als Traditionsbruch dar, sondern als in der Kontinuität der kirchlichen Tradition."

Das Buch bietet außerdem, neben Bestimmungen der Begriffe Moderne und Religionsfreiheit, einen Forschungsüberblick zum Thema und weist ein breites Spektrum wissenschaftlicher Positionen aus. Es reicht von der Auffassung des Schweizer Sozialphilosophen Arthur Fridolin Utz, dass ein "Bruch" in der kirchlichen Lehre nicht möglich sei, über die Unterscheidung der theologischen und verfassungsrechtlichen Ebene durch den späteren Kurienkardinal Walter Kasper bis zur These des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass es sich um einen glatten Traditionsbruch, eine "Kopernikanische Wende", handele.

In der Reihe "Katholizismus zwischen Religionsfreiheit und Gewalt" sind neben der neuen Monografie weitere Bände erschienen: "Die Anerkennung der Religionsfreiheit auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil" enthält Quellen zur Debatte um die Religionsfreiheit, der Sammelband "Religionsfreiheit und Pluralismus" beschreibt das Verhältnis von Katholizismus und Religionsfreiheit. Das Buch "Religion - Gewalt - Terrorismus" geht der Verbindung von Religion und Terrorismus nach, "Modelle des religiösen Pluralismus" bietet historische, religionssoziologische und religionspolitische Perspektiven auf den Umgang mit religiöser Vielfalt. (maz/vvm)


Weitere Informationen unter:
http://www.uni-muenster.de/Religion-und-Politik/aktuelles/2016/mar/PM_Katholizismus_und_Religionsfreiheit.html

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution1807

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Exzellenzcluster "Religion und Politik" an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster,
Viola van Melis, 02.03.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. März 2016

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