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BERICHT/091: Pilgerreisen - Touristischer Trend auf alten Pfaden (Unimagazin Hannover)


Unimagazin Hannover - Ausgabe 1/2 - 2007
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.

Pilgerreisen
Touristischer Trend auf alten Pfaden

Von Prof. Dr. Friedrich Johannsen und Jens Riechmann


Pilgern ist "in": Mehrere Millionen Menschen sind jährlich zu den verschiedenen Pilgerzielen Europas unterwegs, allein fünf Millionen auf dem Jacobsweg nach Santiago de Compostela. Auch der Entertainer Hape Kerkeling war auf dieser Pilgerroute unterwegs. Und das Interesse ist groß: Sein 2006 erschienenes Pilgertagebuch führt bis heute die Bestsellerlisten des deutschen Buchhandels an. Zwei Wissenschaftler des Instituts für Theologie schreiben über die Ursprünge und Entwicklung der Wallfahrtsbewegung.


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Noch im Mittelalter war die Pilgerreise die häufigste Form der Reise. Gegenwärtig erlebt sie eine neue Hochkonjunktur. Im Zeitalter des Massentourismus ist die Pilgerreise eine Spezialform des Reisens geworden, die auch ökonomisch bedeutsam ist.

Vermutlich sind aber auch viele moderne Massentouristen von ganz ähnliche Motiven geleitet, die Menschen verschiedener Religionen seit Tausenden von Jahren veranlasst haben, sich auf eine Pilgerreise zu begeben: die Sehnsucht nach einem Ort heiler Welt, nach dem Einswerden mit sich und der Welt, nach Erfahrung sinnhaften Lebens.

Für die Menschen des Mittelalters war die Reise nach Jerusalem gleichsam eine "Himmelfahrt", die Transzendierung der profanen Welt, der Aufbruch in die Sphäre des Heiligen. Unschwer lässt sich erkennen, wie die moderne Tourismuswerbung die Sehnsucht nach dem "Heilsein" und den Wunsch nach nicht entfremdeten Leben im paradiesischen Urzustand anspricht, indem sie in ihrer Werbung Bilder des Paradieses in Szene setzt. Urlaub, so stellt Horst W. Opaschowski fest, sei die Idee von einem anderen Dasein sowohl im physischen als auch im metaphysischen Sinne. Hiermit verbinde sich die Hoffnung, der Zustand "Jenseits von Eden" könne rückgängig gemacht werden (vgl. OPASCHOWSKI 1997, 150). Im Reisen wird die Chance gesehen, dem Alltag zu entfliehen und Sinn zu "erfahren". Das Wort "Erfahrung" trägt einen Verweis auf Einsicht und Wissen, die auf dem Wege, unterwegs gemacht werden. Die Bewegung von Aufbruch, Hoffnung auf Sinnerfahrung und Rückkehr verbindet den modernen Touristen mit dem klassischen Peregrinus (Pilger).

Im Kontext neuer Attraktivität von Religion hat in den letzten Jahren auch im christlichen Bereich die religiöse Pilgerreise in unterschiedlichen Ausprägungen wieder enorm an Popularität gewonnen. Auch die evangelisch-lutherische Landeskirche Hannovers hat den Trend des Pilgerns aufgegriffen und pünktlich zur Expo 2000 den Jodokus-Pilgerweg von Hannover über Loccum nach Volkenroda in Thüringen eröffnet (vgl. GUNDLACH 2005, 12). Neben diesen eher klassischen Pilgerformen sind in den letzten Jahren auch Formen des Pilgerns in Gestalt religiöser und profaner Massenveranstaltungen getreten, die sich als Orte der Sinnsuche großen Zuspruchs erfreuen. Zu denken ist hier etwa an die Kirchentage, das Weltjugendtreffen 2005 in Köln oder die Taizé-Bewegung.

Diese Beobachtungen sind Grund genug, einmal zurückzufragen nach Ursprüngen und Geschichte des Pilgerns in jüdisch-christlicher Tradition.


Geschichte und Motive der jüdisch-christlichen Wallfahrtstraditionen

Unter einer Pilgerreise oder Wallfahrt (beide Begriffe werden meist synonym verwendet) ist eine religiös motivierte, individuelle oder kollektive Reise zu einem meist entfernt liegenden Wallfahrtsort zu verstehen. Die Bedeutung des Ortes ist verbunden mit einer Gotteserscheinung, den Gräbern oder Reliquien von Heiligen, Propheten oder herausragenden Persönlichkeiten.

In den monotheistischen Religionen kommt Jerusalem eine herausragende Bedeutung als Wallfahrtsort zu: Im Judentum als Stadt Davids, des (zerstörten) Tempels und des Ortes künftigen Heils, im Christentum zusätzlich als Ort der Kreuzigung und Auferstehung Jesu sowie im Islam - genannt al-Kuds ("die Heilige") - als Ort der Himmelfahrt Mohammeds. In christlicher Tradition folgt Rom mit den Gräbern von Petrus und Paulus. Außerdem entwickelt sich im Mittelalter nach einer Legende aus dem 7. Jahrhundert das Grab des Apostels Jakobus im spanischen Santiago des Compostela zu einem weiteren Pilgerziel.

Nach dem Ende der Kreuzfahrerbewegung sind Jerusalem und die heiligen Stätten in Palästina nur noch schwer zugänglich, sodass Santiago de Compostella zum europäischen Pilgerziel überhaupt wird und Jakobus zum Schutzheiligen aller Pilger.

In beiden Testamenten der Bibel findet sich die Erinnerung an das "wandernde Gottesvolk" als eine Zeit besonderer Gottesnähe und Gottesführung: Im Alten Testament ist diese Erinnerung verbunden mit der Gesetzgebung am Sinai im Anschluss an die Befreiung aus Ägypten und der alltäglichen Gabe des Mannas in der Wüste, im Neuen Testament mit dem wandernden Jesus und seinen mitwandernden Jüngern, die kein Nest wie die Vögel und keine Höhle wie die Füchse haben (vgl. MT 8,20).

In den Überlieferungen von den Erzeltern Abraham, Isaak und Jakob finden und besuchen diese heilige Orte, an denen sie eine besondere Nähe Gottes erfahren haben und die darum zu Kultstätten geworden sind.

Gewissermaßen eine Urszene findet sich in 1MOS 28, 10-22: Unterwegs, auf der Flucht vor seinem Bruder stößt Jakob zufällig auf einen heiligen Ort. Im Traum sieht er eine Leiter, die Himmel und Erde verbindet. Er erfährt eine Theophanie, die Erscheinung (eines) Gottes, der ihm Schutz zusagt und ihm sowie seinen Nachkommen Zukunft verheißt. Im Gegenzug leistet Jakob das Gelübde, bei seiner heilen Rückkehr an diesem Ort ein Haus Gottes (Beth-El) zu bauen.

In dieser in der Bildtradition vielfach aufgenommen Erzählung werden auf paradigmatische Weise Genese und Charakteristika von Wallfahrtsorten deutlich: Eine herausragende Persönlichkeit in der Geschichte einer Religion findet (zufällig) einen Ort, an dem himmlische (heilige) und irdische (profane) Wirklichkeit - hier durch die Leiter symbolisiert - verbunden sind. Die außergewöhnliche Gotteserfahrung führt zur Errichtung einer Kultstätte, die sich in der Folgezeit zu einem Wallfahrtsort entwickelt, an den sich die Hoffnung bindet, dass auch andere Menschen hier eine besondere Sinn- und Gotteserfahrung machen können und körperlich sowie seelisch "heil" werden.

Im traditionellen jüdischen Kult waren die Wallfahrten eng mit den drei großen Jahresfesten, Passah-, Wochen- und Laubhüttenfest verknüpft. Wallfahrt als Aufsuchen eines heiligen Ortes und als Fest beziehungsweise als Transzendierung des Alltags durch eine heilige Zeit sind verbunden. Nach der Zentralisierung des Kultes in Jerusalem werden die Pilgerströme hierher gelenkt. Daran erinnern auch die so genannten "Wallfahrtspsalmen" (PSALMEN 120-134).

Nach der Überlieferung des Neuen Testaments wandert auch Jesus mit seinen Jüngern zur Feier des Passafestes nach Jerusalem. Heute ist die noch erhaltene Westmauer des 70 n. Chr. zerstörten Tempels (Klagemauer) Ziel einer (jüdischen) Jerusalemwallfahrt.

Nach prophetischem Zeugnis werden am Ende der Zeit alle Völker zu einer Wallfahrt nach Jerusalem aufbrechen, wo Gott Recht sprechen und universaler Friede zwischen den Völkern herrschen wird, symbolisiert durch die Metapher des Umschmiedens von Schwertern zu Pflugscharen (zum Beispiel JE 5 2,2-4; MI 4,1-3).

Mit dieser eschatologischen Wallfahrtstradition hängt auch die Vorstellung der späteren Kreuzfahrer zusammen, dass sich in Jerusalem das Tor zum Paradies befinde.

Auch Jesus pilgert zum Passafest nach Jerusalem. Eine solche Pilgerreise bildet später den Hintergrund seiner Kreuzigung. Das für die Pilgerreise charakteristische Unterwegssein ist kennzeichnend für die Wirkungszeit Jesu. Die Evangelien zeichnen ihn als jüdischen Wandercharismatiker, zentrale Heilsgeschehnisse ereignen sich als Weggeschichten. Diejenigen, die von ihm zur Nachfolge aufgerufen werden, machen sich im wörtlichen Sinne ihm nachfolgend auf den Weg und führen eine Wanderexistenz ohne Besitz und Familie (vgl. TWORUSCHKA 1991, 63).

Motiv einer solchen Nachfolge ist die Erfahrung von Heil und Heilwerden, die die Betroffenen jeweils mit Jesus machen.

Die nachösterliche Jüngergemeinde versteht unter Nachfolge, den Weg des vorausgegangenen Jesus zum ewigen Leben nachzuvollziehen. In Jesus Christus ist demnach, heiligen Orten ähnlich, die Erfahrung einer besonderen göttlichen Nähe möglich, die der Mensch als heilend empfindet.

Dies wird im Johannesevangelium akzentuiert, wenn sich Jesus selbst als den alleinigen Weg bezeichnet, der zu seinem Vater führt (vgl. JOH 14,6). Insofern wird aus dem Pilger Jesus das Pilgerziel beziehungsweise seine Person zum Ort der Begegnung mit Gott, die dem Menschen Heil und Heilung vermittelt.


Kritische Aspekte

Schon der Prophet Amos wettert im 8. vorchristlichen Jahrhundert gegen fromme Bräuche, die anstelle gelebter Gerechtigkeit treten.

Im frühen Christentum entwickelt sich das Pilgerwesen nur zögerlich. Wirklich bedeutsam wird es erst in Folge der Konstantinischen Wende (313 n. Chr.). Es bleibt nie unumstritten. So wendet Gregor von Nyssa am Ende des 4. Jahrhunderts kritisch ein: "Ratet daher den Brüdern, eher vom Körper zu Gott, als von Kappadokien nach Palästina aufzusteigen" (zit. nach WERBLOWSKY 1988, 7).

Die Beschwernis der Pilgerreise selbst führt dazu, dass sie mehr und mehr als Sühne- und Bußübung verstanden wird, an deren Ende die Absolution erfolgt. Dieser Aspekt findet sich auch im Blick auf Romwallfahrten wieder, zu denen seit 1300 regelmäßig aufgerufen wird und die mit einem Ablass verknüpft sind.

Diese Verbindung von Ablass und Wallfahrt führt Luther und die übrigen Reformatoren dazu, Wallfahrten dem Aberglauben und dem Schwindel zuzurechnen. Sie werden als "Werke" angesehen, durch die sich der Mensch Gott geneigt machen wolle. Zudem wendet sich die protestantische Kritik gegen Vorstellungen, dass Gott beziehungsweise das Heilige an manchen Orten präsenter sei als an anderen.

Indem die alleinige Mittlerrolle Christi betont und die Vermittlung der Gnade auf Predigt und Sakrament konzentriert wird, kommt es zu einer grundsätzlichen Ablehnung der Wallfahrt. So meint Luther, durch "jenes Herumgerenne der Wallfahrten" werde der "Glaube an Gott getilgt und Abgötterei begünstigt" (LUTHER ²1981, 221f.).

Trotz der positiven Würdigung des Wallfahrtswesens durch das Konzil von Trient (1545-1563) verliert diese Frömmigkeitspraxis auch im Katholizismus zunächst an Bedeutung, wird aber gegen Ende des 16. Jahrhunderts zu einem grundlegenden Merkmal der katholischen Konfession (vgl. KÜHNE 2006, 426).

Im Zuge der Aufklärung kommt die Wallfahrtspraxis fast zum Erliegen, erhält aber mit den Marienerscheinungen des 19. und 20. Jahrhunderts wieder neuen Auftrieb (La Salette 1846, Fatima 1917, Lourdes 1958). Forciert wird dieser neue Aufschwung zudem durch die zahlreichen Reisen des "Pilgerpapstes" Johannes Paul II.

Ungeachtet der Kritik Luthers gewinnt die Tradition des Pilgerns als Weg der Sinnsuche auch im Protestantismus neuerdings an Bedeutung. Nach protestantischem Verständnis gibt es zwar keine besonders heiligen Orte, wohl aber ist an jedem Ort dieser Erde die Erfahrung der Transzendenz möglich.

Wie bei vielen anderen Frömmigkeitformen muss aber auch hier aus theologischer Perspektive immer neu bedacht werden, dass Glaube und Aberglaube sehr nah beieinander liegen können.


Prof. Dr. Friedrich Johannsen
Jahrgang 1944, ist Professor für Ev. Theologie und Religionspädagogik des Instituts für Theologie und Dekan der Philosophischen Fakultät.

Jens Riechmann
Jahrgang 1973, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Theologie.


Literatur:

Brückner, Wolfgang: Art. Wallfahrt IV. (Frömmigkeitsgeschichtlich), in LThK3 10 (2006), Sp. 963ff.
Gundlach, Jens: Zwischen Loccum und Volkenroda. Ein Pilgerbuch, Hannover 2005.
Krüger, Oliver: Art. Wallfahrt/Wallfahrtswesen I. (Religionsgeschichtlich), in: TRE 35 (2006), 400-416.
Kühne, Hartmut: Art. Wallfahrt/Wallfahrtswesen V. (Kirchengeschichtlich), in: TRE 35 (2006), 423-430.
Luther, Martin: Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bd. 2: Der Reformator (hg. von Kurt Aland), Göttinger ²1981.
Opaschowski, Horst W.: Zwischen Fernweh und Sinnsuche. Reisen als unerfüllbare Sehnsucht nach dem Paradies, in: JRP 14 (1997), 146-152.
Twuroschka, Udo: Suchen - Pilger - Himmelsstürmer. Reisen im Diesseits und Jenseits, Stuttgart 1991.
Zwi Werblowsky, R.J.: Die Bedeutung Jerusalems für Juden Christen und Moslems, Jerusalem 1988.

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Quelle:
Unimagazin Hannover, Ausgabe 1 / 2 - 2008, Seite 42-45
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Juli 2008