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INTERNATIONAL/025: Afghanistan - Nachtangriffe auf Zivilisten, US-Truppen unter Legitimationsdruck (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 22. September 2011

Afghanistan: Nachtangriffe auf Zivilisten - US-Truppen unter Legitimationsdruck

Von Gareth Porter


Washington, 22. September (IPS) - US-Sondereinheiten in Afghanistan richten ihre nächtlichen Angriffe nach Erkenntnissen unabhängiger Experten zunehmend gegen Zivilisten. Damit sollten vor allem geheimdienstlich relevante Informationen gewonnen werden, heißt es in einer Studie der 'Open Society Foundation' des Finanzinvestors George Soros und des 'Liaison Office'.

Die Autoren erbringen Belege dafür, dass das US-Militär inzwischen auch Personen attackiert und festnimmt, die nicht als Aufständische identifiziert wurden. Sie befragten dazu aktive und ehemalige Offiziere sowie Afghanen, die während der Angriffe in Gewahrsam genommen wurden. Demnach setzt das Militär viele Zivilisten kurzzeitig fest, um herauszubekommen, was sie über Islamisten an ihrem Ort wissen. Nach Ansicht der Autoren verletzt diese Praxis die Genfer Konventionen zum Schutz von Personen, die nicht an Kampfhandlungen teilnehmen.

Ein Offizier, der die nächtlichen Bombardements befürwortete, sagte den Verfassern der Studie, dass die Befragung von Personen, von denen angenommen wird, dass sie Extremisten kennen, einer der Hauptgründe für derartige Angriffe sei. "Wenn du nicht den Kerl kriegen kannst, den du haben willst, nimmst du den, der ihn kennt", wird er zitiert. Wenn Soldaten demnach auf einem attackierten Grundstück Zivilisten aufgreifen, werden diese mit dem Argument festgenommen, dass ihre Beteiligung an den Aktionen der Aufständischen nicht von vornherein klar sei.


Zivilisten bei nächtlichen Angriffen getötet

Auf der Suche nach Informationen für den Geheimdienst nehmen die US-Streitkräfte der Studie zufolge auch den Tod Unbeteiligter in Kauf. Das unabhängige Afghanische Analysten-Netzwerk untersuchte eine Reihe nächtlicher Angriffe in der Provinz Nangarhar zwischen Oktober und November 2010. Dabei kam heraus, dass Menschen ins Visier genommen wurden, die sich mit einem muslimischen Geistlichen getroffen hatten, der angeblich der Schattengouverneur der radikal-islamischen Taliban in der Provinz war. Zwei Zivilpersonen kamen bei den Bombardements ums Leben.

Mehrere befragte Afghanen bestätigten, dass das US-Militär immer verschiedene Grundstücke gleichzeitig angegriffen hatte. In manchen Fällen seien ganze Dörfer unter Beschuss gekommen. In einer Ortschaft in der nordafghanischen Provinz Kundus verhafteten amerikanische und afghanische Soldaten bei einer Razzia bis zu hundert Menschen. Ein Informant habe erklärt, dass sie zu Befragungen auf einen US-Stützpunkt gebracht worden seien.

In dem von der NATO und den USA geführten Krieg in Afghanistan haben Verfolgungen und Verhöre von Zivilpersonen eine lange Tradition. Ein Beamter des US-Verteidigungsministeriums, der bis Ende 2005 für Gefangene zuständig war, sagte IPS, Bedenken gegen Festnahmen einer großen Zahl von Zivilisten seien durch den Druck zunichte gemacht worden, "aggressivere Operationen zur Gefangennahme" durchzuführen.

Der damalige Chef des NATO-Geheimdienstes in Afghanistan, Brigadegeneral Jim Ferron, sagte im Mai 2007 in einem Zeitungsinterview: "Die Gefangenen werden aus einem Grund festgenommen. Sie haben Informationen, die wir brauchen." Es ist jedoch völlig unklar, ob diese Menschen wichtige Informationen über die Rebellen geben. Die zivilen Opfer der nächtlichen Angriffe sind Verwandte und Freunde von Taliban-Kämpfern und -Kommandeuren. Sie haben keinerlei Motivation, Informationen weiterzugeben, die die Verfolgung der Taliban erleichtern würden.

Dem neuen Bericht zufolge haben die US-Offiziere noch andere Gründe, um sich auf wahrscheinlich unbeteiligte Zivilisten zu konzentrieren. Nach den schweren Verlusten 2010 haben sich viele Taliban-Kommandeure in das benachbarte Pakistan abgesetzt. Die US-Truppen müssen also entscheiden, entweder mehr Zivilisten zu verfolgen oder die Zahl der Operationen zu reduzieren. Die Einheiten brauchen jedoch die Angriffe, um ihren Einsatz zu rechtfertigen.

Wie die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, wurden zwischen Dezember 2010 und Februar dieses Jahres im Durchschnitt 19 Angriffe pro Nacht durchgeführt. Ein hochrangiger Militärberater sprach gegenüber den Autoren der Studie sogar von 40 Attacken in einer Nacht.


Taliban-Kommandeure längst geflohen

Ein beteiligter Offizier sagte, dass es in Afghanistan nicht mehr genug Taliban-Befehlshaber auf den mittleren und höheren Ebenen gebe, um die hohe Zahl der Bombardements zu rechtfertigen.

Die Studie warnt vor der Gefahr, Familienmitglieder von Taliban festzunehmen. Dadurch werde der Zorn der Bevölkerung gegen die USA landesweit weiter angeheizt. "Genauso gut könnte das Militär alle Bewohner von Südafghanistan in Gewahrsam nehmen", meinte ein afghanischer Journalist. Alle seien mehr oder weniger miteinander verwandt.

Die Afghanen betrachteten die gezielten Angriffe auf ihre Wohngebiete zunehmend als Schikane, heißt es in der Untersuchung. Damit sollten die Menschen daran gehindert werden, den Taliban Nahrung und Unterschlupf zu gewähren. Nach Erkenntnissen der Autoren kommen die meisten Verdächtigen binnen weniger Tage wieder auf freien Fuß. (Ende/IPS/ck/2011)

* Der Historiker und Journalist Gareth Porter hat sich auf die US-Sicherheitspolitik spezialisiert. Die Taschenbuchausgabe seines letzten Buches 'Perils of Dominance: Imbalance of Power and the Road to War in Vietnam' kam 2006 heraus.


Links:
http://www.soros.org/
http://www.tlo-afghanistan.org/
http://www.ipsnews.net/news.asp?idnews=105178

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Quelle:
IPS-Tagesdienst vom 22. September 2011
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2011