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ES GESCHAH.../011: Der Anekdotenkammer elfte Tür (SB)


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Alles Neue muß lange und geduldig an die Türe klopfen, ehe es eingelassen wird. Das war beim Schachspiel trotz seines königlichen Flairs nicht anders als beim Tabak oder Kaffee. Vom letzteren heißt es in einem Kinderreim von Carl Gottlieb Hering (1766-1853): "C-a-f-f-e-e, trink nicht so viel Kaffee! Nicht für Kinder ist der Türkentrank, schwächt die Nerven, macht dich blass und krank. Sei doch kein Muselmann, der ihn nicht lassen kann!"

Die Geschichte dieser beiden Genußmittel und ihres bis auf den heutigen Tag im Zeichen des Gesundheitsfrevels ausgetragenen Konflikts hat ihre eigenen Tiefen und Anekdoten, die sicherlich um keinen Farbton blasser sind als die Wundermärchen vom Siegeszug des Schachspiels hinein in die bürgerlichen Wohnstuben. Daß dieser Weg, beginnend von seinem Ursprung, über holprige Pfade ging, davon künden viele Legenden.

Ein Krake wacht mit achtarmiger Wehr vor dem Entstehungsmythos des Königlichen Spiels. Die schriftlichen Überlieferungsfragmente lassen sich nicht weiter als bis zum neunten nachchristlichen Jahrhundert zurückdatieren, und noch in diesen Relikten herrscht dunkle Fragwürdigkeit vor.

Wesentlich heller ist dagegen die Zeit der Fußfassung des Schachspiels auf unserem abendländischen Kontinent. In strahlendes Weiß getaucht sind gar die Anfänge seiner Anfeindung. In Dokumenten und Schriftrollen von versiegelter Güte ist das erste "amtliche" Schachverbot auf uns gekommen, von welchem unsere heutige Anekdote in gewitzten Worten Kunde gibt.

Erwähnt sei noch, daß das letzte Jahrtausend in seinem Ringen um blütenreine Erkenntnisse betrüblicherweise und öfter noch als nötig Rückschläge schwärzesten Aberglaubens hatte hinnehmen müssen. Und noch in unserer Zeit, die sich gerne mit dem Feigenblatt des Fortschritts bedeckt, kommt es zuweilen vor, daß das Schachspiel zum Anlaß der Ächtung genommen wird. So geschehen in Lübeck vor kaum einer Handvoll Jahren, als ein Kunstlehrer und Vater seinem überaus talentierten 12jährigen Sohn das Schachspiel verbot mit der lächerlichen Begründung, "tote Figuren hätten mit dem Leben rein gar nichts zu tun, und überhaupt sei das Schachspiel in seiner Abstraktheit kein angemessener Umgang für einen jungen Menschen".

Nun, mit dergleichen ungekämmten Witzen und Hasenscharten hatte sich das Schachspiel seit jeher herumschlagen müssen. Daß es ungeachtet dieser Verleumdungen nie längerfristig ins verbotene Abseits geriet, ist gewiß seinem becircenden Zauber und Reiz zuzuschreiben. Seine Verteufelung kommt unterdessen daher, daß das Schach, darin ist es mit mittelalterlichen Glücks- und Würfelspielen verwandt, auf einem Brett ausgetragen wird. Die kirchliche Unduldsamkeit erklärt sich aus ebendieser mißverstandenen Ähnlichkeit. Und damit haben wir die elfte Tür zu unserer Anekdotenkammer auch schon geöffnet.

Johannes Zonares war lange Jahre Kommandant der kaiserlichen Leibwache in Ostrom gewesen und hatte die weltlichen Privilegien und Genüsse bis zum letzten Tropfen ausgekostet. Doch mit der Zeit ermüdete ihn das intrigante Falschspiel der Hofschranzen und Bücklinge, und auch das Schälchen Ruhm schmeckte zuletzt fade und sinnentleert. So sehnte er sich in Abkehr vom wüsten Treiben der Welt zurück in den Schoß göttlicher Erleuchtung und wurde ein Gefolgsmann der oströmischen Kirche. Doch wie groß war seine Enttäuschung, und manche Träne floß hinterher, als ihm gewahr wurde, daß hinter der religiösen Hingabe ein nicht minder maßloser Machthunger die Ziele der Menschen verdunkelte.

Gram schlich sich in sein verwundetes Herz, und da er die Welt aus ihrem Gelüst nicht herausreißen konnte, wurde er schließlich Mönch und zog sich in ein griechisches Kloster auf den heiligen Berg Athos auf der östlichen Landzunge der Chalkidhiki zurück. In dieser Abgelegenheit hoffte er endlich, jenen Frieden zu finden, der ihm zeit seines Lebens versagt geblieben war. Die klösterliche Kargheit bot ihm die goldenen Voraussetzungen für die Einkehr der getriebenen Seele in die Geborgenheit zu Gott.

Wie entsetzt, ja ergriffen bis ins Mark, war unser Mönch Zonares jedoch, als er auch unter seinen Klosterbrüdern den Hang zum Müßiggang entdeckte. Das reizlose Leben hinter Klostermauern hatte die Mönche zu allerlei Arten von durchtriebenen Glücks- und Würfelspielen greifen lassen, um sich die langen Tage und bitterkalten Nächte mit Kurzweil zu versüßen. Anstatt in den gelehrten Schriften nach der keuchen Wahrheit hinter allen Dingen zu fahnden, flüchtete das Mönchsleben zu jenen Lastern zurück, die den Menschen im weltlichen Dasein mit seinen unzähligen Lockungen und Verfehlungen vom Gottesweg abirren ließen. Nun stahl sich auch in diesen heiligen Bezirk der Andacht das Übel der Zeitvertreibe hinein.

Die oströmische Kirche war weit, unheilvoll nah jedoch die teuflische Versuchung. Unrettbar verloren schien der klösterliche Heilsweg, sofern nicht strikte Regeln seine Brüder auf den unfehlbaren Weg zurückbrachten. Die Ostkirche besaß zwar einen Kanon und Imperativ, nur war er als nützlicher Leitfaden allzu fremd und unzeitgemäß geworden. Es fehlte an Kommentaren, von denen die errettende Kraft ausging, den Geist der alten Zeit und kirchlichen Anfänge in einen erbaulichen Dialog umzuwandeln.

Um seines Kummers Herr zu werden, zog sich Zonares in die Zelle seiner inneren Einsamkeit zurück, die klausnerischer noch war als der tristeste Mönchsalltag, und widmete sich mit um so befreiterem Eifer den kanonischen Schriften seiner Kirche. Einzig davon beseelt, Gottes Gegenwart in die neue Zeit herüberzuretten, durchpflügte er im Geiste die alten Weisheiten, ergänzte, wo er glaubte, daß ein Körnchen Wahrheit fehlte, und vertiefte, wo er meinte, daß die Dinge nicht genügend gewürdigt wurden. In Kenntnis des unsittsamen Schleifenlassen der Klostertugenden und tiefen Falls seiner Mönchsbrüder in die Senkgruben des Lasters war es ihm ein leichtes, die Schrift dahingehend zu kommentieren, noch das kleinste Jota an Ausschweifung und Vergötzung des weltlichen Lebens hinter den geheiligten Klostermauern zu verbannen.

Sein strafender Sinn fiel insonderheit auf das aus dem Maurenlande sich verbreitende Schachzabel, wie das arabische Schachspiel seinerzeit genannt wurde, und so verfaßte Johannes Zonares das erste Schachverbot der oströmischen Kirche, als er die 42. Regel des apostolischen Kanons dergestalt erweiterte, daß kein Mönch mehr ohne Gefahr, des Schutzes der klösterlichen Gemeinschaft verlustig zu gehen, zum "Probierstein des Geistes" greifen dürfe, wie es Jahrhunderte später Goethe formulieren sollte, der jedoch keineswegs unter die Freunde unseres Königlichen Spiels gerechnet werden kann.

Zonares schrieb also: "Da einige Bischöfe und Geistliche vom Wege der Tugend abweichen und Schach- oder Würfelspiele treiben oder sich Exzessen im Trinken hingeben, so gebietet die Regel, daß solche damit aufhören sollen oder ausgeschlossen werden [...] und wenn sich Laien dem Schachspiel und der Trunkenheit hingeben, sollen sie ausgeschlossen werden."

Der Schachverteufeler Zonares starb jedenfalls im Jahre 1118 im Glauben, die Welt der Mönche von einem Urübel befreit zu haben. Wie sollte dieser fehlgeleitete Kuttenträger auch ahnen, daß das Schachspiel trotz seines Treppenwitzes Flügel bekommen sollte, weit genug, um eine ganze Welt zu umspannen.

Nicht immer zogen Kirchenmänner das streitbare Schwert blank, wenn in ihrem Umfeld Figuren verschoben und Schachmatt ausgerufen wurde. Eine weltoffenere Meinung vom Schachspiel als unser Johannes Zonares hatte dagegen der lombardische Dominikanermönch Jacobus de Cessolis gehabt, aber sein Tun und Streiten soll an anderer Stelle tiefere Erwähnung finden.


Erstveröffentlichung am 07. Dezember 1995

04. März 2007


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