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SCHACH-SPHINX/05454: Sich selbst erfüllende Voraussage (SB)


Im Sprichwort heißt es, dieser oder jener ziehe das Unglück an. Die Sprache ist verfänglich, nicht immer drückt sie punktgetreu aus, was im Grunde genommen formuliert werden sollte. Oder aber, die Sprache wird zum Füllhorn einer ganz bestimmten, nicht immer unbedenklichen Selbsttäuschung. Die Psychologie ist heute weiter. Während die Religionen mit ihrem Bild des demütigen Menschen sein Verfehlen immer als etwas tief Ursprüngliches verstanden, als Ursünde beispielsweise wie im Christentum oder als undankbarer Fatalismus wie bei den Moslems, werfen die pyschologischen Seelenforscher ihr Augenmerk auf das Verhalten des Individuums. Daß sie ihn hierfür eigens erst erfinden mußten, diesen zum Beladen von Schuld vorgesehenen Einzelmenschen, wird gerne unter den Teppich gekehrt. Schließlich hatte die Rechtsprechung den Weg für die Psychologie geebnet mit ihrer Vorstellung von der individuellen Verantwortung. In alten Tagen und Zeiten gab es dieses Prinzip nicht. Damals verstand man unter Menschsein immer und ausschließlich den Lebenszusammenhang - die Sippe, die Zunft oder den Orden. Die Werturteile der Psychologie betrachten das Individuum, und da Wirklichkeit erst durch ihre Beschreibung und moralische Gewichtung entsteht, tauchte in der Geschichte der Menschen seit der Renaissance in der Tat so etwas wie der Einzelmensch auf. Aber nun zurück zum Anfangsthema, dem Unglück, das einem scheinbar widerfährt. Mit der Verantwortung rückt natürlich auch der Wunsch ins Bewußtsein, sie auf etwas anderes oder einen anderen umzulasten. Und hier greift die Psychologie ein als Hüter der gesellschaftlichen Wahrheit, oder mit Thomas Pettigrew gesprochen: "Wenn man die Welt für einen feindlichen Ort hält, wird man vermutlich in einer Weise handeln, die die Welt dazu veranlaßt, sich einem gegenüber tatsächlich feindlich zu verhalten. In diesem Sinne können die Vorstellungen eines Menschen von einer gesellschaftlichen Situation zur Ausgestaltung ebendieser Situation selbst beitragen. Solche Vorstellungen sind Voraussagen, die sich selbst erfüllen." Der amerikanische Meister McCambridge hatte bei den Dortmunder Schachtagen das Unheil selbst heraufbeschworen, sozusagen die Voraussetzungen dafür geschaffen, als er im heutigen Rätsel der Sphinx auf den letzten Zug von Großmeister Hort 1...f5-f4 mit 2.e5-e6 Gleiches mit Gleichem vergelten wollte. Wie konnte Hort die Position elegant in ein leicht zu gewinnendes Endspiel überführen, Wanderer?



SCHACH-SPHINX/05454: Sich selbst erfüllende Voraussage (SB)

McCambridge - Hort
Dortmund 1982

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Die ungarische Großmeisterin Judit Polgar hatte ihr Eröffnungsexperiment glänzend abgeschlossen, und nach dem wahnwitzigen Zug 1.Sb3-a5 von Alexej Schirow konnte sie mit 1...Sf5-e3! die Siegeswende einleiten. Nun verbot sich 2.Dg2xg5 wegen 2...Se5-f3# Schirow versuchte daher mit 2.Dg2-g3 im trüben zu fischen, aber nach 2...Dg5xg3 3.Se2xg3 Se3xc2+ 4.Ke1-d1 Sc2xa1 5.Sa5xb7 b4-b3 6.a2xb3 Sa1xb3 7.Kd1-c2 Sb3-c5 8.Sb7xc5 d6xc5 9.Lf2-e1 Se5-f3 10.Le1-c3 Sf3- d4+ 11.Kc2-d3 Lf8-d6 12.Lf1-g2 Ld6-e5 13.Kd3-c4 Ke8-e7 14.Th1-a1 Sd4- c6 war es an der Zeit, mit dem belanglosen Hin- und Herziehen aufzuhören.


Erstveröffentlichung am 15. Mai 2002

24. April 2015


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