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SCHACH-SPHINX/05480: Geistige Kompensation (SB)


Wie von einem Rudel Wölfe gehetzt, fühlt sich der Profi-Weltmeister Garry Kasparow zuweilen recht einsam auf seinem Thron. Jünger wird er nimmermehr, das weiß er wohl, und während das Alter der Benjamine unter den Großmeistern sich immer mehr in die frühe Jugend zurückschraubt, sucht Kasparow mit seinen 34 Jahren schon einmal verstohlen nach weißen Strähnen in seiner schwarzen Haarpracht. Aber im Kopf, da stimmt noch alles, da läuft das Räderwerk wie geölt, da schießen die Einfälle aus dem Dunkel der Intuition hervor wie gezackte Blitze am Gewitterhimmel. Kasparow braucht sich in der Tat keine Sorgen vor dem Altwerden zu machen. Denn schon Schopenhauer hatte konstatiert: "In der Jugend herrscht die Anschauung, im Alter das Denken vor; daher ist jene die Zeit für Poesie, diese mehr für Philosophie. Auch praktisch läßt man sich in der Jugend durch das Angeschaute und dessen Eindruck, im Alter nur durch das Denken bestimmen. Zum Teil beruht dies darauf, daß erst im Alter anschauliche Fälle in hinlänglicher Anzahl dagewesen und den Begriffen subsumiert worden sind, und diesen volle Bedeutung, Gehalt und Kredit zu verschaffen und zugleich den Eindruck der Anschauung, durch die Gewohnheit, zu mäßigen ... Die größte Energie und höchste Spannung der Geisteskräfte findet ohne Zweifel in der Jugend statt, spätestens bis ins 35ste Jahr: von da an nimmt sie, wiewohl sehr langsam, ab. Jedoch sind die späteren Jahre, selbst das Alter, nicht ohne geistige Kompensation dafür. Erfahrung und Gelehrsamkeit sind erst jetzt eigentlich reich geworden." Also, Garry Kasparow, ein Jahr bleibt dir noch für den höchsten Schaffensflug, dann wirst du dich wohl oder übel und nach Ansicht Schopenhauers auf deine gehortete Erfahrung besinnen müssen. In Zürich 1994 hatte Kasparow jedenfalls noch genügend Saft in den Knochen, um seinem Kontrahenten Artur Jussupow mit Blick auf den Zürcher See den Unterschied der Jahre zu "veranschaulichen". Jussupow hatte im heutigen Rätsel der Sphinx zuletzt 1...Tf8-c8 gezogen, worauf Kasparow eine putzmuntere Erwiderung fand. Bist du jung genug, Wanderer, der Anschauung gerecht zu werden?



SCHACH-SPHINX/05480: Geistige Kompensation (SB)

Kasparow - Jussupow
Zürich 1994

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Nachdem die weiße Majestät leidsam in die Ecke gedrängt wurde, konnte der argentinische Meister Miguel Najdorf nach 1.De1-e2 würdevoll mit 1...Sh4xg2! 2.Lf1xg2 Lh3xg2+ 3.De2xg2 Dg5-h4! einen vollen Punkt verbuchen. Taimanow hätte den Hals auch mit 1.g2xh3 nicht aus der Schlinge ziehen können wegen der kraftvollen Antwort 1...Dg5-g1+! 2.Lh2xg1 Tg7xg1+ 3.Kh1-h2 Sh4xf3#


Erstveröffentlichung am 10. Juni 2002

20. Mai 2015


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