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SCHACH-SPHINX/05644: Der dritte Akteur (SB)


Wer sich die alten Turnierberichte durchliest, der kommt aus dem Staunen nicht heraus. Eine Partie, das sind doch zwei Spielende, glaubt er, doch offenbar hatte man in früheren Zeiten eine andere Meinung darüber. Der Zuschauer, heute mehr zum Statisten und Kulissenrequisit abgestempelt, nahm seinerzeit nämlich aktiv am Partiegeschehen teil. Wie Theatervorführungen muß man sich das Ganze denken. Vorne, am Brett, die beiden Denk- und Charakterköpfe, die ihre Rollen in diesem Stück spielten. Doch das Publikum war nicht stummer Fisch, es klatschte, stöhnte, rief Verwünschungen, gab Ratschläge, mit einem Wort: Es war der dritte Akteuer in diesem lebendigen Ganzen. Noch eilten nicht Schiedsrichter patrouillierend durch den Saal und legten Mundschellen an, noch strafte nicht ein finsteres Auge den unbotmäßigen Zwischenrufer. Wozu die Tore öffnen für die Zuschauer, wenn sie danach mit ihrer ganzen Freude in Ketten gelegt werden? Bei Totenmessen mag man schweigen, ansonsten jedoch ist die Rücksichtslosigkeit nicht hinzunehmen, mit der die Zuschauer von den beiden Schachprotagonisten durch eine gläserne Barriere getrennt werden. So gewinnt die Farce an Raum. Abgeschmackt wirkt die Vorführung und irgendwie salbadernd. Nun soll im Gegenzug kein Geräuschfest zelebriert werden, doch kaltes Schweigen war schon immer der abtötende Vorhang, der aus gesellschaftlichen Ereignissen, und Schachturniere verstehen sich durchaus als solche, eine Art religiöses Kasteien machte. Der Rückgang an Zuschauerzahlen trat vielleicht in dem Moment ein, als diese merkten, daß sie unerwünscht waren. Kein Jahrmarktsbudenverkäufer könnte sich eine sterile Gesichtsfalte leisten, ohne Gefahr zu laufen, einen Großteil seiner Kunden zu verlieren. Im heutigen Rätsel der Sphinx ging es zwar gleichfalls lautlos zu, aber auf dem Brett schrien die Figuren in wilder, ungehemmter Kombinationslust. Paul Keres, mit den weißen Steinen, hatte die Qualität gewonnen. Nun mußte er jedoch seinen gefangenen Gaul auf a8 wieder ins Freie führen, um eine materielle Siegesstellung zu erlangen. Die Tore waren verschlossen, aber Keres fand einen anderen Weg, Wanderer!



SCHACH-SPHINX/05644: Der dritte Akteur (SB)

Keres - Sajtar
Amsterdam 1954

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Das Feuer brach nach dem sechsten Zug aus. Dr. Lange, eben noch hatte er zukunftssicher 6.Sd2-b3? gespielt, durchlitt nach der Antwort von Rudolf Teschner ein chaotisches Durcheinander im Kopf. Wer erträgt es schon, so früh in einer Partie über den Löffel barbiert zu werden. Jedenfalls zog Teschner 6...Lc5xf2+!! Nach 7.Ke1xf2 d5xc4 8.Lg2xc6+ b7xc6 stand Dr. Lange vor der schweren Entscheidung, entweder die Figur zu retten oder mit einem Minusbauern ins Endspiel zu gehen. Das Hamstern wäre ihm allerdings schlecht bekommen, nach 9.Sb3-a5 Dd8-d5! oder 9.Sb3-c5 Dd8-d4+ sähe es bald düster für ihn aus. Etwas langlebiger wäre zwar 9.Sb3-d2 gewesen, aber auch langleidender, zum Beispiel: 9...Sf6-g4+ 10.Kf2-e1 Sg4-e3 11.Dd1-a4 c4xd3 12.e2xd3 Dd8xd3 13.Da4xc6+ Ke8-e7 14.Dc6xa8? Se3-c2+ 15.Ke1-f2 Dd3-e3+ 16.Kf2-g2 Lc8- h3+ und das Ende kommt gewiß. Also wählte Dr. Lange die Rückgabevariante mittels 9.Dd1-c2 c4xb3 10.Dc2xc6+ Lc8-d7 11.Dc6-c5 Ld7-e6 12.a2xb3 Dd8-d6 13.b3-b4 Sf6-d7 14.Dc5xd6 c7xd6 und quälte sich noch zwei Dutzend Züge durch ein hoffnungsloses Endspiel, bis er kapitulierte.


Erstveröffentlichung am 19. November 2002

31. Oktober 2015


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