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REZENSION/009: Karsten Müller, Claus Dieter Meyer - Magische Endspiele (SB)


Karsten Müller / Claus Dieter Meyer


Magische Endspiele



Die Welt ist, obschon eingepfercht vom Grenzzaun der Vernunft, keineswegs entzaubert. Rätselhafte Orte und Gedanken, Tinkturen voller Geheimnisse und atemvolle Momente, die von dem künden, was vergessen und verschollen scheint, dämmern des Nachts im Mondlicht auf. Die Magie hat den Erdkreis nicht verlassen, auch wenn nicht geleugnet werden kann, daß ihre Zeugnisse rar und rudimentär geworden sind in einer Zeit, die derart beherrscht von kalter Rationalität und Ignoranz allein für gültig hält, was den Unwert des Verbrauchs in den Schlingen schneller Befriedigung nährt. Nie war Magie weniger als harte Arbeit, basierend auf der Kenntnis der Grenzen menschlicher Wahrnehmung und Interpretation. Magisch bedeutet so gesehen den Schritt über das Gewohnte und Vertraute hinaus und hinein in eine Welt des Staunens.

So lautet denn auch der Titel des jüngsten, leider auch letzten Werkes aus der ergiebigen Zusammenarbeit zwischen Claus Dieter Meyer und dem renommierten Hamburger Großmeister Karsten Müller nicht von ungefähr "Magische Endspiele". Der Bremer Schachtrainer und FIDE-Meister hat die Veröffentlichung nicht mehr erlebt. Meyer ist im März dieses Jahres verstorben. Seinen letzten Wunsch, den gewaltigen Fundus moderner als auch älterer Partien von zeitloser Dauer noch einmal kritisch unter die Lupe zu nehmen und zu einem lehrreichen Endspiel-Trainingsprogramm zu verdichten, hat Müller nunmehr in Buchform posthum erfüllt. Dazu hat er das gesammelte Material in spezielle Themenkomplexe gegliedert und mit eigenen Beispielen aufs sinnvollste ergänzt. Auf diese Weise ehrte er seinen einstigen Mentor, bei dem er ein Jahrzehnt lang in die Lehre gegangen war, als dieser die Hamburger Kaderschmiede leitete. Daraus entwickelte sich eine tiefe Freundschaft und langjährige Gefährtenschaft. Müller schreibt über ihn: "Wenn er Fragen hatte, hat er nie geruht, bevor nicht alles in großer Tiefe ausgeleuchtet war" (S. 140).

Zeitlebens hatte sich Meyer mit den Wunderwelten der Endspiele auseinandergesetzt, sie akribisch ergründet und mit allem wissenschaftlichen Ernst erforscht. Ihn trieb die Suche und Leidenschaft nach den unentdeckten Geheimnissen im Endspiel. Wie jeder Spurenleser, der aufbricht, die Wirklichkeit zu verstehen, die sich dem Menschen bloß bruchstückhaft offenbart, mußte er zunächst lernen, seine Frage Schritt um Schritt zu präzisieren. Ein Endspiel ist ein stummer Geist, er spricht nur zu den Eingeweihten. Um Endspielpositionen vollends zu begreifen, muß man zuvor ihren Wesensgehalt bestimmen. So gilt es, die Korrelation der Steine so exakt wie möglich zu beschreiben. Das ist der Schlüssel, die Tür ins unbekannte Reich zu öffnen. Ist dies einmal geschafft, verschreibt man sich einer Aufgabe, die mehr ist als ein Hobby oder Zeitvertreib, nämlich eine Passion für ein ganzes Leben. Meyer ist diesen Weg einer mühevollen forschenden Praxis gegangen, ohne die Schweißtropfen auf seiner Stirn je zu verklagen. Ihn zeichnet im besonderen aus, daß er die Proben seines Wissens an seine Schüler mittels didaktischer Strukturen weitergegeben hat. Und er tat dies aus der Erkenntnis heraus, daß kein Abschnitt der Partie gegenüber Fehlentscheidungen so anfällig ist wie das Endspiel, eben weil Muster und Manöver nicht programmatisch gedeutet werden dürfen. Doch was macht Endspiele so magisch?

Solange viele Figuren auf dem Brett stehen wie in der Eröffnungs- und Mittelspielphase, sind zahlreiche Wege gangbar und oft strategisch begründet. Das ändert sich mit dem Übergang ins Endspiel, wo das Taktische überwiegt und nicht selten ein einziger Zug über Remis, Sieg oder Niederlage entscheidet. Bloße Kalkulation tritt hinter die exakte Berechnung zurück, der individuelle Stil, der vorher maßgeblich die Feder geführt hat, verblaßt zur Bedeutungslosigkeit, weil es im Endspiel ausschließlich um ein Höchstmaß an Präzision geht. Doch wie erlangt man die nötige Souveränität, wenn schon ein kleines Stolpern in der Zugfolge den Sieg ins Leere laufen läßt? Wie schnell ist ein umkämpftes Remis verspielt, wenn ein falscher Bauer zieht oder der König eine verhängnisvolle Route nimmt. Wer sich hier bewähren will, muß durch ein Dickicht aus Dornen gehen. Regeln lassen Lücken, selbst der Zirkel standardisierter Verfahren zieht nur einen kleinen Kreis im weiten Terrain der Komplexität. Daher gilt es, wachsam zu bleiben vor der Spezifität der Ausnahmefälle. Nicht selten wird die Geometrie der Steine von der Logik des Ziels durchbrochen.

"Magische Endspiele" ist strenggenommen weder ein Lehrbuch im herkömmlichen Sinne noch ein im Tenor branchenübliches Trainingsbuch. Während das eine den Leser mit einer Lawine von Fallstudien zu erschlagen droht, wird im anderen Fall der Schwerpunkt zu sehr auf das selektive Lösungsdenken gelegt. Beides hat nur einen beschränkten didaktischen Nutzen. Man lernt im Moment und vergißt es wieder situativ. Vergessen und Verstand laufen auf gleicher Spur. Das Buch von Meyer und Müller geht einen anderen, ungleich subtileren und damit tief in die DNA kognitiver Entscheidungsfindungen schneidenden Pfad: Es will Zweifel säen, gewohnte Ordnungen aufrütteln, kurzum: den Leser stutzig machen.

Nicht steriles Schubladenwissen, ein vertracktes Rätsel zu lösen und es dann im Geiste abzuheften mit einem satten Aha-Erlebnis, spricht aus diesem Buch, sondern der mahnende Ruf, vor dem eigenen, zuweilen fehlgeleiteten, in der Regel jedoch überhasteten Urteil auf der Hut zu sein. Worauf man sich im Kampf verläßt, ist oftmals Maske, ein Verdecken von Unzulänglichkeiten, welches, weil nicht hinterfragt und vom Argwohn aufgescheucht, schließlich am Brett eklatante Fehlzüge generiert. Vorsicht geboten ist auch vor ehernen Faustregeln. Auch sie können irren, wenn sie oberflächlich und rein formal angewendet werden. Davon künden etliche Partien auch auf Großmeisterebene. Diese und andere Beispiele aus allen Spielklassen werden im Buch auf ihren Wert bzw. Fehlgriff hin mit hoher analytischer Dichte überprüft, doch nicht als roter Korrekturstift, um ein Mißgeschick geradezurücken. Vielmehr geht es darum, die Bruchstelle, wo der Pfad der Präzision verlassen wurde, in aller Deutlichkeit hervorzuheben.

Gerade der analytische Teil wird von Meyer/Müller mit großer Geduld und Beflissenheit behandelt. Man hat nicht das Gefühl, daß einem die Lösung vor die Füße geworfen wird, die man nur noch aufheben und sich in die Tasche stecken braucht. Mit viel Bedacht, aber ohne ausufernde Detailliebe, wie man es leidvoll von einigen Endspielexperten kennt, wird man an die Dechiffrierung der Stellungsproblematik herangeführt, notfalls auch über sinnstiftende Umwege und an kritischen Stellen eingestreute Nebenvarianten, die dem strauchelnden Gedanken nachgehen und auf diese Weise aufzeigen, warum das angestrebte Ziel notwendig verfehlt werden mußte. So lernt man, einen Fehler als solchen auch zu verstehen. Das verleiht dem erörterten Problem eine größere Plastizität. Man ist mittendrin im Handgemenge und wird nicht zum Zeugen degradiert, der über den Zaun guckt.

Die Sprache im Schachspiel ist die Analyse. Textpassagen begleiten die einzelnen Kapitel allenfalls im erforderlichen Ausmaß. Und doch ist der Wortgebrauch keine bloße Überbrückungshilfe von einem Diagramm zum anderen. Sich sprachlich auf das Wesentliche zu konzentrieren, kann ganz im Gegenteil ungemein ohrengängig sein, weil man so die Spur nicht verliert. Ist der Lesestoff auch nicht umschweifig gehalten, so verblüfft Müller doch mit dem, was er an Wissenswerten aus der Schatztruhe der Endspiellehre hervorholt. Man lernt, was es heißt, einen König in den Schwitzkasten zu nehmen, geschickt mit dem Zugzwang zu operieren, die Troitzky Linie zu Rate zu ziehen, Festungen aufzubauen, die nicht eingenommen werden können, dem anderen König einen Bodycheck zu geben, Patt-Tricks und andere Rettungsmanöver ins Spiel einzuschleusen oder was es mit dem onimösen Regenschirm auf sich hat, der Schachdistanz und Vancura-Verteidigung, dem Dreiecksmanöver, den verschiedenen Formen der Opposition bzw. der Bährschen Regel.

Überhaupt werden die verschiedenen Endspielarten, trotz ihrer Kürze, gerade mit Sicht auf die vom Regelfall abweichenden Resultate umfangreich ausgeschöpft, zum Beispiel wie ein Läufer einen Springer dominiert oder umgekehrt, wie Läufer ungleicher Farbe entgegen der hohen Remistendenz Reserven freisetzen können, welche schwindelerregenden Nuancen bei einem Turmendspiel zu beachten sind, wie ein Springer gegen einen Turm das Remis halten oder vergeben kann. Auch reine Bauernendspiele können ungemein verzwickt sein. Haarsträubend ist mitunter der Rettungsweg oder von Tücken begleitet der Siegespfad.

Einen besonderen Reiz stellt der persönliche Nachruf auf C.D. Meyer dar, den Müller zum Anlaß nimmt, zwei praktische Beispiele aus dem Kadertraining, die er und die anderen Novizen der Endspielkunst fast ein Jahr lang Woche für Woche zu studieren hatten, gesondert vorzustellen. Man gewinnt dabei einen pointierten Einblick in die Tiefgründigkeit einer ernsthaften Analyse. Beim Ringen um die Quintessenz tauchen am Wegesrand mitunter fast studienartige Endspielformationen auf, die zu durchdringen und aufzuklären auf jeden Fall die taktische Versiertheit erhöht und dem Leser unschätzbare Inspirationen schenkt.

Jedem Diagramm ist ein QR-Code vorangestellt, der es ermöglicht, die Stellung mit einem Smartphone einzuscannen. Der Lernende kann dann die Züge auf dem Bildschirm studieren. Mittels eines Web-Browsers, der sich zwischen Smartphone und Desktop automatisch synchronisiert, läßt sich die Stellung auch am Rechner betrachten. Abgerundet wird die Lektüre mit 16 kniffligen Aufgaben samt Lösungsteil.

Das Buch zu studieren macht unendliches Vergnügen, man ist immer bis an die Grenzen gefordert, ohne vom schleichenden Gift der Müdigkeit heimgesucht zu werden. Manchmal scheint es, als würden Sternschnuppen auf die Erde fallen, wenn die Analyse einer Brettschlacht einen gar wunderlichen Ausgang nimmt und die gewohnten Aspekte des Denkens regelrecht vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Jede Seite bietet Augenblicke voll vertiefender Einsichten. Niemand sollte dieses Buch missen, ihm würden im wahrsten Sinne des Wortes magische Momente entgehen.

11. November 2020


Karsten Müller / Claus Dieter Meyer
Magische Endspiele
Joachim Beyer Verlag 2020
180 Seiten, 24,80 Euro
ISBN: 978-3-95920-122-3


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