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REZENSION/011: Karsten Müller - Die Endspielkunst der Weltmeister (SB)


Karsten Müller


Die Endspielkunst der Weltmeister



Band 1 Von Steinitz bis Tal

Band 2 Von Petrosjan bis Carlsen

Was für ein wunderbares Gefühl, ein Buch im Hardcoverformat in Händen zu halten und unter dem Druck der Finger die Trotzigkeit einer verdichteten Gegenwart zu spüren. Erwartungsvoll wie die Freude auf eine Entdeckungsreise in ein unbekanntes Land richtet man sich gemütvoll darauf ein, in seinen verheißungsvollen Inhalt einzutauchen. Nur Bücher vermitteln eine Bedeutung davon, was es heißt, wenn das Schweigen im Kopf mit den Mitteln der Schrift zum freien Flug der Gedanken inspiriert wird.

Ein Blick auf das Titelblatt mit den Köpfen der Weltmeister von Wilhelm Steinitz bis Magnus Carlsen verrät, dass in dem Werk das angehäufte Wissen ihrer Endspielkunst versammelt ist. Proben von exzellenter Tiefe und analytischer Reinheit, die kein Geringerer als der renommierte Endspielexperte Karsten Müller mit viel Gespür für ihren didaktischen Wert zu zwei Lehrbüchern zusammengetragen hat. Schachbegeisterten aller Spielklassen einen begehbaren Weg zu weisen durch den mit Abstand kryptischsten und komplexesten Abschnitt einer Schachpartie, darum wird auf diesen Seiten gerungen.

Ohne jede Umschweifigkeit gesprochen: Nirgends sonst als im Endspiel liegt das Wesenhafte des Schachspiels so gebündelt und greifbar vor. Während die Wahl der Eröffnung letzten Endes nichts anderes darstellt als einen Kompromiss in einem Aushandlungsprozess zwischen zwei verschiedenen Charakteren, Pläne im Mittelspiel, bei denen einseitige Vorteile bzw. strukturelle Schwächen kombinatorisch miteinander verzahnt werden, nur eine befristete Dauer haben und sich zudem wandelbar zeigen wie ein Chamäleon im Geäst, sind im Endspiel die Kriterien von Logik und präziser Berechnung wie die Klarheit eines Kristalls unbestechlich. Die kleinste Ungenauigkeit genügt mitunter, um meilenweit vom Ziel abzuirren, einen Sieg zu vergeben oder das rettbare Remis aus dem Fenster zu werfen.

Freilich sind Endspiele ihrer Natur nach ein widerspenstiges Garn, weil sie sich nur selten einem routinierten Vorgehen fügen und von Faustregeln nur bedingt einfangen lassen. Ob ein Bauer auf a2 oder a3 steht, macht im Ernstfall den Unterschied zwischen Himmel und Hölle. Was auf dem ersten und zweiten Blick zielgerichtet erscheint und zur Suggestion einlädt, unseren gewohnten Erfahrungen vertrauen zu können, kann sich in der konkreten Nachprüfung als Holzweg oder Blindflug ins Leere erweisen. Wie oft schon hat ein einzelnes Detail, von der Kalkulation als nebensächlich verworfen, den Ausgang des Kampfes auf den Kopf gestellt. Selbst anerkannten Meistern unterlaufen auf diesem Felde Missgeschicke oder gar eklatante Fehler. Ohne die hohe Zahl an Fehlentscheidungen aus der Meisterpraxis bliebe jedes Endspielbuch so schmal wie ein Tortenboden. Nicht zufällig besitzen sie die Dicke von Enzyklopädien.

Beim Verfassen eines Endspiellehrbuchs ist sich Karsten Müller der didaktischen Herausforderung, die damit einhergeht, Sachverhalte zu vermitteln, die weit über das ungeübte Auge hinausgehen, in vollem Umfang bewusst. Tatsächlich ist er auf diesem Gebiet in der Vergangenheit sehr umtriebig gewesen. Viele seiner Bände stehen im Ruf von Klassikern, weil er es wie kaum ein anderer versteht, die Fülle an Problematiken, der typischen Manöver und regelbasierten Vorgehensweisen, je nach Figurengattung und Kräftekonstellation auch aus dem unverzichtbaren Blickwinkel der Ausnahmefälle zu durchleuchten.

2019 erschienen von ihm bei ChessBase die DVDs zu lehrreichen Endspielen der Weltmeister von Bobby Fischer bis Magnus Carlsen und von Wilhelm Steinitz bis Boris Spassky. Auf diesem schwierigen Terrain hat Müller die Möglichkeiten, die das audiovisuelle Format bietet, in aller Tüchtigkeit ausgereizt. Der Mehrwert aus dieser Arbeit diente denn auch als Grundlage für die jüngst veröffentlichten Doppelbände. Sicherlich bietet ein Buch hinsichtlich der Gliederung der Themen und Fixierung der Inhalte mehr Raum als jedes andere Medium. Allein deshalb macht es Sinn, in ein Buchformat zu übertragen, was vor wenigen Jahren noch als DVD vorlag. Aber der Autor geht in seiner Stoßrichtung noch einige Schritte weiter.

Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass Müller die einzelnen Lektionen zur Endspieltheorie kenntnisreich erweitert und vieles auf den Punkt gebracht hat, wo Klärungsbedarf nötig war, und auch der Kunstgriff, in die laufende Analyse der Weltmeisterpartien, ihrer Fehler und Glanzmomente, gezielt Fragen und Aufgaben für den Leser hineinzustreuen, die sodann in einem gesonderten Lösungsteil ausgiebigst behandelt und aufgeklärt werden, verdient uneingeschränkt Respekt. Ein Lehrstoff ist erst dann vollständig, wenn Anreize für die eigene Kopfarbeit geboten werden. All das leistet Müller in den beiden Bänden mit ausgezeichnetem Geschick.

Natürlich eignen sich die gekrönten Häupter in der Schachgeschichte bestens dazu, ihre Endspieltechnik zum normativen Ausgangspunkt für die Erforschung des letzten Partieabschnitts zu machen. Die Weltmeister von Steinitz bis Carlsen haben auf ihre jeweils individuelle Art der Epoche ihres Wirkens einen Stempel aufgedrückt, haben die Theorie bereichert, strategische Denkansätze vorangetrieben und mitunter ganz neue Aspekte zur Durchdringung des Schachkomplexes geschaffen. Dies gilt zweifelsfrei auch für das Endspiel mit seinen subtilen und verschlungenen Fragestellungen. Hierin waren und sind Weltmeister immer schon Leuchttürme der Orientierung gewesen.

Um die Endspielkunst zu erlernen bzw. die daraus resultierenden Erkenntnisse in die eigene Praxis sinnvoll einzubringen, muss man sich jedoch zuallererst von der Vorstellung verabschieden, dass Faustregeln und typische Manöver wie Opposition, Zugzwang, Turm hinter den Freibauern oder dergleichen Versatzstücke aus dem Sammelsurium der Endspielprinzipien per se einen essentiellen Lernschritt bedeuten würden. Kein Laie oder fortgeschrittener Spieler wird aus dem Nachahmen von Großmeisterpartien irgendeinen bleibenden Nutzen ziehen können. Darin zeichnete übrigens die "Schachnovelle" von Stefan Zweig ein rundum falsches Bild, indem dem Leser vorgegaukelt wurde, durch das perpetuierliche Nachspielen von Meisterpartien ließe sich Meisterschaft erzwingen. Und wenn man hundert Jahre die Mona Lisa begaffen und bestaunen würde, wäre man aller eitlen Hoffnung zum Trotz am Ende doch kein zweiter Leonardo da Vinci.

Kein Endspiel lässt sich von A bis Z berechnen. Aus einem Guss sind Endspiele nie, geschweige denn mit einem Lineal zu durchmessen. Die Vehemenz taktischer Kombinationen, wie sie im Mittelspiel häufig vorkommen und nicht selten gleichbedeutend sind mit einem entscheidenden Durchbruch, trifft man im Endspiel nicht an. Hier folgt Etappe auf Etappe, ein zäher Kampf um schweißtreibende Nuancen und verborgene Pointen - das Ziel hat einen langen Schweif. Wer sich die Geduld nicht zum Freund gemacht hat, wird über seine langen übereilten Schritte stolpern.

Von einem Endspiel spricht man, wenn der zuvor schutzbedürftige König, der sich lange hinter seinen Rochadebauern verschanzt hat, selbst aktiv ins Brettgeschehen eingreift und zentrale Aufgaben bei der Verteidigung bzw. Gewinnführung übernimmt. Aus dem Eckensteher wird dann ein Feldherr. Bis dahin haben sich die Reihen gelichtet, und das taktische Element der Vorstöße tritt hinter langfristigen strategischen Überlegungen zurück. Das Endspiel markiert auch die Phase einer Partie, wo die Bauern eine weitaus größere strategische Bedeutung erlangen, als sie es in der Eröffnung oder im Mittelspiel je hatten. Die drohende Umwandlung in einen Offizier beim Erreichen der gegnerischen Grundreihe verleiht den Bauern eine das Spielgeschehen prägende Kraft. Durchbrüche sind immer zu fürchten. Davon künden die reinen Bauernendspiele.

In gemischten Endspielpositionen kommt es dagegen im wesentlichen auf die Wirkkraft der einzelnen Figuren an, die durch die bestehende Bauernstruktur entweder gehemmt oder befördert werden. Vereinfacht gesagt: Ein Läufer braucht Platz, um sich entfalten zu können, während ein Springer, bedingt durch seine Gangart, eher verschachtelte Formationen bevorzugt. Dieser Widerstreit zwischen der Bauernformation und den übrigen Figuren auf dem Brett, also zwischen statischen und dynamischen Faktoren, gibt der Endspielstrategie die Richtung vor.

Endspiel bedeutet in diesem Sinne, bei verminderter Figurenzahl auf dem Brett einen bestimmten engumgrenzten Vorteil, sei er materieller oder positioneller Art, so konsequent zu verstärken, dass der Gegner keinen Ausweg mehr aus der strategischen Umzingelung findet und so mit jedem weiteren Zug der eigenen Niederlage Vorschub leisten muss. Das setzt natürlich die Beharrlichkeit voraus, einen Vorteil, der das Moment einer situativen Einschätzung der Lage markiert und allenfalls den Wert einer Signatur besitzt, nach und nach mit präzisen Manövern bei gleichzeitig die Gegenseite einschnürenden Maßnahmen zum dominanten Faktor im Brettgeschehen zu wandeln. Die Verwertung eines Endspielvorteils meint demnach die auf lange Sicht planmäßige Verstärkung eines Vektors, daran selbstverständlich alle übrigen Steine mehr oder minder mitwirken. Dass der bestimmbare Vorteil im Zuge seiner Aktivierung das Druckspiel der eigenen Figuren erhöht und so mit dem Würgegriff eines achtarmigen Kraken den Gegner nachhaltig in die Enge treibt, ist ein Grundmotiv von Initiative.

Indem Müller auf das Spiel der Weltmeister verweist und ihre charakteristischen Stärken und Schwächen hervorhebt, teilweise unter Zuhilfenahme der vier Spielertypen Theoretiker, Pragmatiker, Aktivspieler und Reflektor - zu diesem Komplex ist vom Autorengespann Müller und Luis Engel im Jahr 2020 ein hochinteressantes Buch im Joachim Beyer Verlag erschienen -, macht er den Leser darauf aufmerksam, dass es im Endspiel weniger auf das geradlinige Berechnen von Varianten ankommt als vielmehr auf das Erwecken von Potentialen, die in einem verwickelten Endspiel stecken. Das macht auch die Quintessenz dieser Arbeit aus.

Auf einem aufgeräumten Brett mit weniger Steinen ist die Frage nach dem, was einen Vorteil ganz konkret ausmacht, von essentieller Bedeutung. Dadurch, dass Müller diesen Punkt immer wieder umkreist und mit gebotener Sachlichkeit erörtert als auch durch instruktive Beispiele vertieft, lenkt er den Blick des Lesers darauf, dass der konkrete Zug nicht einem genialen Einfall entspringt, sondern stets in der Tiefe der Logik eingebettet ist in einen strategischen Plan. Es geht ihm darum, verständlich zu machen, dass in einem Endspiel wenigstens ein Stein auffindbar ist, der die Stärke der eigenen Stellung betont. Das kann ein Läufer sein, der seinem Widerpart überlegen ist, ein Turm auf einer offenen Linie, ein aktiv postierter König oder ein Bauer mit dem Potential zum Durchbruch. Manchmal liegt der eigene Vorteil in einer strukturellen Schwäche im Lager des anderen begründet.

Dieser sicherlich nur oberflächliche Blick auf eine Endspielposition, der darum nicht weniger nötig ist, wird von Müller durch eine feine Abstimmung zwischen analytischer Beweislast als auch inhaltlicher Erläuterung in einer Weise fundiert, die es dem Leser ermöglicht, das strategische Grundproblem bis in die Nervenbahnen hinein zu begreifen. Die Breite der Beispiele und Aufgaben zu den einzelnen Themen dient dann dem Zweck, den Blick auf ein Endspiel und die Methodik der Einzelschritte wurzelfest zu machen.

Jeder Weltmeister hat auf dem Feld der Endspieltheorie Meilensteine gesetzt und in seiner Praxis aufgezeigt, wie ein griffiger Vorteil dank minutiöser Manöver zum Erfolg geführt oder eine kritische Stellung durch alle Stürme und Unwuchten hinweg gehalten werden kann. Sie besaßen ein untrügliches Gespür für den Zeitpunkt des richtigen Abtausches, verstanden sich darauf, die Initiative wie einen Degen zu führen und den gegnerischen Widerstand mittels Dominanz- und Restriktionsmethoden zu brechen.

Beispielsweise brillierte Wilhelm Steinitz mit dem Läuferpaar gegen Läufer und Springer. Unübertroffen war Emanuel Laskers zähe Verteidigungskunst, wenn er mittels Bauernopfer die Aktivität seiner Figuren maximal erhöhte, um ein Remis zu sichern oder Gewinnpotentiale im Schwange zu halten. José Raúl Capablanca und Wassili Smyslow beeindruckten in Turmendspielen mit kapriziösen Manövern, die noch heute Vorbildcharakter haben. Das Angriffsgenie Alexander Aljechin verzichtete auch im Endspiel mit Schwerfiguren nicht auf das Motiv des Mattangriffs und Max Euwe vertiefte den Blick auf die Kraft und Bedeutung von Freibauern. Wertvoll sind auch die aktuellen Studien zu Klassikern der Turniergeschichte, die sie in einem neuen Licht aufstrahlen lassen.

Müller hat die Spezialgebiete, auf denen die Weltmeister in Fragen des Endspiels unterwegs waren, seziermesserscharf analysiert und auf den neusten Kenntnisstand gebracht, er zeigt auf, welche Verlockungen durch trügerischen Sirenengesang umschifft werden mussten, aber auch, welchen Irrtümern die Weltmeister aufgesessen sind. Eine rundum gelungene Arbeit aus der Feder des Endspielexperten, die um so mehr begeistert, als der Leser am Ende tatsächlich sagen kann, ich habe von den Weltmeistern gelernt.

16. August 2021

Karsten Müller
Die Endspielkunst der Weltmeister
Band 1
Von Steinitz bis Tal
Joachim Beyer Verlag 2021
228 Seiten, 29,80 EUR
ISBN: 978-3-95920-141-4

Karsten Müller
Die Endspielkunst der Weltmeister
Band 2
Von Petrosjan bis Carlsen
Joachim Beyer Verlag 2021
224 Seiten, 29,80 EUR
ISBN: 978-3-95920-142-1


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 166 vom 21. August 2021


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