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FORSCHUNG/141: Wissenschaftskulturen im Dialog (Spektrum - Uni Bayreuth)


Spektrum 1/2015 - Universität Bayreuth

Wissenschaftskulturen im Dialog
Von interdisziplinärer Zusammenarbeit und der Kunst des Experimentierens

Von Uli Beisel


Wissenschaft und Kultur: In den Ressorts der Medien und der Politik werden sie in der Regel klar voneinander getrennt. In den letzten Jahrzehnten haben jedoch zahlreiche Forschungsarbeiten völlig neue Sichtweisen auf das Verhältnis von Wissenschaft und Kultur angeregt. Von besonderer Bedeutung ist dabei der Ansatz, Wissenschaft als Kultur zu thematisieren - oder, genauer, wissenschaftliche Disziplinen als Fachkulturen zu begreifen, die in gesellschaftliche Strukturen und Prozesse eingebettet sind.


Wissenschaft als fremde Kultur

Im Jahr 1979 erschien in den USA eine vielbeachtete Studie der Soziologen Bruno Latour und Steve Woolgar, die sich mit Prozessen sozialer Organisation in naturwissenschaftlichen Laboren befasst.(1) Etwas überspitzt schlagen die Autoren darin vor, diese Stätten der Wissensproduktion so zu erforschen, als handle es sich um eine fremde Kultur. Analog zu ethnologischen Untersuchungen, die sich mit fremden Volksstämmen befassen, analysieren sie die Praktiken von Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftlern als ein System kultureller Routinen, Konventionen und Überzeugungen. Es geht ihnen dabei um das Verständnis der alltäglichen Forschungspraxis, die naturwissenschaftliches Wissen etabliert und sichtbar macht.

Über die 'Bewohner' der naturwissenschaftlichen Labore schreiben die beiden Soziologen: "Während andere Stämme an Götter oder komplizierte Mythologien glauben, bestehen die Mitglieder dieses Volksstamms darauf, dass ihre Aktivitäten nichts mit Glauben, Kultur oder Mythologie zu tun haben. Stattdessen behaupten sie, dass sie sich nur mit 'harten Fakten' befassen."(2) Latour und Woolgar hingegen lesen genau diese Fakten als Produkte einer Kultur: einer Wissenschaftskultur. Dies ist allerdings nicht als Denunzierung oder voreingenommene Kritik naturwissenschaftlicher Wissensproduktion zu verstehen. Denn die Autoren wollen mehr über Vorgänge erfahren, die sie als "microprocessing of facts" beschreiben; als Prozesse, die an der Entstehung von Fakten beteiligt sind.

  • Was wird als Tatsache wissenschaftlich anerkannt und was nicht?
  • Wie hängt es mit den Produktionsbedingungen des Wissens zusammen, dass etwas als wissenschaftliche Tatsache Autorität erlangt?

Diesen Fragen wollen Latour und Woolgar auf den Grund gehen: nicht um Fakten als unzutreffend oder subjektiv zu demaskieren, sondern um zu rekonstruieren, wie unsere Welt durch die Naturwissenschaften gewusst und geformt wird. So haben ihre Untersuchungen, die auf zweijährigen ethnographischen Untersuchungen in einem amerikanischen Labor beruhen, ein neuartiges Verständnis von Wissenschaft als Kultur (science as culture) auf den Weg gebracht.


"Teilnehmende Beobachtung" und transkulturelle Prozesse

Das Standardwerk hat schon bald nach seinem Erscheinen einen Paradigmenwechsel in den Science and Technology Studies (STS) ausgelöst. Dieser Forschungszweig befasst sich mit den Wechselwirkungen zwischen wissenschaftlicher Forschung, technologischen Innovationen sowie kulturellen, sozialen und politischen Wertvorstellungen. Die meisten Arbeiten auf diesem Gebiet waren lange Zeit von historischen und soziologischen Methoden geprägt. Doch Laboratory Life hat eine Vielzahl ethnographischer Studien inspiriert, die sich mit Laboren und anderen Orten der naturwissenschaftlichen Wissensproduktion befassen. Sie folgen dem Grundsatz der "teilnehmenden Beobachtung". Dies bedeutet, dass diejenigen, die solche Studien konzipieren und umsetzen, den von ihnen erforschten Zusammenhängen nicht mit starrer Distanz gegenüber stehen, sondern aktiv daran teilzuhaben versuchen.

Naturwissenschaftlerinnen und Naturwissenschaftler, deren Verhaltensweisen beobachtet und analysiert werden, sind deshalb niemals nur Studienobjekte. Sie sind Partner in einem wechselseitigen Austausch über die Praxis wissenschaftlicher Forschung. Diese Ausrichtung von Science and Technology Studies hat Sozial- und Naturwissenschaften auf neue Weise in interdisziplinären Projekten zusammengeführt. Mit Latour und Woolgar sind diese partnerschaftlichen Kooperationen als transkulturelle Begegnungsprozesse verschiedener Fachkulturen lesbar.


Abschied von alten Rollenverteilungen

Damit steht die Tür für Formen der interdisziplinären Zusammenarbeit offen, die sich von tradierten Rollenzuschreibungen lösen. Zweifellos haben Naturwissenschaften weiterhin die Aufgabe, natürliche und technische Prozesse zu erkennen, zu analysieren und darzustellen. Des Weiteren verfügen sie, im Speziellen die Ingenieurwissenschaften, über besondere Kompetenzen beim Entwickeln technologischer Lösungen. Aber die Rolle der Sozialwissenschaften beschränkt sich nicht auf das Erklären gesellschaftlicher Prozesse, die zur Akzeptanz oder zum Widerstand gegenüber neuen Technologien führen. Wer darin ihre alleinige oder vorrangige Funktion sieht, verlangt von sozialwissenschaftlicher Forschung im Kern lediglich gute Marktforschung: nämlich die Bedürfnisse der Verbraucherinnen und Verbraucher zu verstehen und - im Idealfall - die Akzeptanz neuer Technologien zu erhöhen.

Eine solche Rollenzuschreibung behandelt Sozialwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler primär als Dienstleister der Natur- und Ingenieurwissenschaften. Komplexe Gesellschaftsanalysen gelten dann nur in dem Maße als relevant, wie sie die Implementierung bestimmter Technologien fördern können.


Produktive Kontraste: Natur- und Sozialwissenschaften im Dialog

Sobald man jedoch fächerübergreifende Kooperationen als Kulturbegegnungen, ja als Prozesse der Transkulturalisierung versteht, ändert sich das Verhältnis von Natur-, Ingenieur- und Sozialwissenschaften entscheidend. Denn Interdisziplinarität bedeutet jetzt, dass die Beteiligten ihre jeweiligen Kompetenzen und Fachkulturen wechselseitig ernst nehmen. Statt grundlegende Differenzen einfach zu ignorieren, sind sie bereit, Kompromisse auszuhandeln - so mühsam dies im Einzelfall sein mag. Derartige Kompromisse beruhen auf der Einsicht, dass verschiedene Fächer unterschiedliche epistemologische und ontologische Grundlagen haben und dass auch ihre Interessen voneinander abweichen. Sie sind von der Erkenntnis bestimmt, dass Unterschiede und antagonistische Sichtweisen sich nicht abschaffen, sondern bestenfalls in intellektuell produktive Kontraste verwandeln lassen.

Die Wissenschaftsphilosophin und Chemikerin Isabelle Stengers beschreibt diesen Vorgang so: "Kontrasten eine Chance zu geben, die dort, wo Gegensätze vorherrschen, auf kreative Weise geschaffen werden: Dies bedeutet, dass man eine gemeinsame Basis in Form eines Kompromisses herstellt. Es geht nicht darum, Unterschiede abzumildern, indem man einen Mittelweg beschreitet oder eine durchschnittliche Position formuliert. Der Kompromiss sollte vielmehr eine Basis zum Ausprobieren und Experimentieren sein, damit Kontraste nicht aus abgeschwächten Unterschieden, sondern aus Unterschieden hervorgehen, die man auf kreative Weise neu definiert hat." (3)

Die zentralen Stichworte sind hier Experimentieren und Kreativität. Sie signalisieren: Aus interdisziplinären Forschungsprojekten werden transdisziplinäre Kulturbegegnungen, wenn die Disziplinen kreativ miteinander experimentieren - auch in ihrer Rollen- und Aufgabenverteilung. Für die Natur- und Ingenieurwissenschaften bedeutet dies, dass sie sich ungewohnten, 'seltsam' anmutenden und unbequemen Fragen öffnen. Für die Sozialwissenschaften folgt daraus, dass sie aus ihrer tradierten Beobachterrolle heraustreten und sich darauf einlassen, ihre Methoden der Herausforderung gemeinsamer Experimente anzupassen. Beide Seiten müssen willens und imstande sein, Forschungsansätze und -ergebnisse einander geduldig zu erklären - auch um den Preis, die eigene Forschung manchmal vereinfacht darzustellen.


Auf dem Weg zu demokratischer Teilhabe

In seinem einflussreichen Werk The New Production of Knowledge: The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies hat ein internationales Wissenschaftsteam zwei Arten der Wissensproduktion unterschieden:(4)

  • Mode 1 vollzieht sich im Rahmen disziplinärer Forschung innerhalb eines hierarchisch organisierten akademischen Betriebs. Gesellschaftliche Kontexte und Perspektiven der Anwendung bleiben weitgehend ausgeblendet.
  • Mode 2 ist hingegen eine Form der Wissensproduktion, die sich auf genuin interdisziplinäre Forschungspartnerschaften stützt. Naturwissenschaftliche Erkenntnisprozesse und Fakten werden dabei mit Methoden der reflexiven Sozialwissenschaft auf ihre gesellschaftliche Relevanz hin befragt und in breite sozialpolitische Prozesse eingebunden. So entsteht reflexives, transdisziplinäres Wissen.

Die Autoren - darunter Michael Gibbons, Helga Nowotny und Peter Scott - vertreten die Auffassung, dass allein dieses letztere Wissen in heutigen Gesellschaften demokratische Legitimation und Autorität erlangt.

Diese Konzeption widerspricht der konventionellen Rollenverteilung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Denn im Mode 2 verhält es sich nicht mehr so, dass Wissen zunächst im "Elfenbeinturm" produziert und dann in der Gesellschaft angewandt wird. Vielmehr wird die Öffentlichkeit konsequent in den Erkenntnis- und Schaffensprozess einbezogen. Bürgerinnen und Bürger werden so zu Mitproduzenten des Wissens, zu citizen scientists. Genuine Interdisziplinarität überwindet in dieser Sichtweise nicht nur herkömmliche Abgrenzungen von Fachkulturen, sondern geht mit einer Demokratisierung des Wissens einher. Die Unterscheidung zwischen Experten- und Laienkulturen wird aufgeweicht. So können Fragen des öffentlichen Wohls auf neue Weise ins Blickfeld derer rücken, die an Prozessen der Wissensproduktion teilhaben.


Anmerkungen

(1) Bruno Latour and Steve Woolgar: Laboratory Life. Beverly Hills 1979.

(2) "Whereas other tribes believe in gods or complicated mythologies, the members of this tribe insist that their activity is in no way to be associated with beliefs, a culture, or a mythology. Instead, they claim to be concerned only with 'hard facts.' " (ebd., S. 70).

(3) Wörtlich: "Giving a chance for contrasts to be created where oppositions rule implies producing a middle ground but not a medium or average mitigating differences. It should be a middle ground for testing, in order that the contrasts evolve not from tamed differences but from creatively redefined ones" (deutsche Übers. Chr. Wißler). Isabelle Stengers: Beyond Conversation. The Risks of Peace. In: Catherine Keller and Anne Daniell (eds.): Process and Difference: Between Cosmological and Poststructualist Postmodernisms . New York, 2002; hier S. 236-237.

(4) Michael Gibbons et al.: The New Production of Knowledge: The Dynamics of Science and Research in Contemporary Societies. London 1994.


Autorin

Prof. Dr. Uli Beisel ist Juniorprofessorin für Kultur und Technologie in Afrika und Mitglied der Facheinheit Ethnologie an der Universität Bayreuth.


Hinweis der Schattenblick-Redaktion:
Bildunterschriften von im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

- Bruno Latour in Göteborg, 2006

- Mitglieder des CREATE-Netzwerks bei einer Exkursion im Kakagema Forest, einem Regenwald im Westen Kenias


KASTEN
 
Energie- und Umweltforschung an der Universität Bayreuth: Transdisziplinäre Initiativen mit Bezug auf Afrika

Fächerübergreifende Projekte, in denen sich die Beteiligten bewusst miteinander - also mit den Methoden und epistemologischen Voraussetzungen der jeweils anderen Fachkulturen - auseinandersetzen, sind nach wie vor eine große Herausforderung. Genau dieser Herausforderung stellen sich Mitglieder der Bayreuth International Graduate School of African Studies (BIGSAS), des Bavarian Institute for African Studies (BRIAS) und des Profilfelds "Energieforschung und Energietechnologie" an der Universität Bayreuth. In einem kreativen experimentierenden Austausch zwischen Ingenieur- und Sozialwissenschaften versuchen sie Fragestellungen zu entwickeln, die alle Beteiligten spannend und relevant finden. Dabei geht es beispielsweise um die Aneignung von Energietechnologien in Afrika und deren Einbettung in ökologische Zusammenhänge. So fand 2014 auf dem Bayreuther Campus ein internationaler Workshop zum Thema "Burning questions: The quest for 'modern' energy sources in/for Africa" statt.

Im Jahr 2014 haben die Universität Bayreuth und zwei kenianische Universitäten, die Moi University in Eldoret und die Maseno University in Maseno, gemeinsam das Forschungsnetzwerk CREATE gegründet. Im intensiven Austausch zwischen Natur-, Umwelt-, Kultur- und Sozialwissenschaften befassen sich die Partner gemeinsam mit der Frage: Was ist zu tun, damit in den ostafrikanischen Ländern rund um den Viktoriasee natürliche Ressourcen wie Wasser, Böden und Luft erhalten bleiben und lebenswichtige Ökosysteme - auch im Hinblick auf ihre Nutzung durch den Menschen - nicht beschädigt werden?

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Quelle:
Spektrum-Magazin der Universität Bayreuth
Ausgabe 1 - Juni 2015, Seite 26-29
Herausgeber: Universität Bayreuth
Redaktion: Pressestelle der Universität Bayreuth, 95440 Bayreuth
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Internet: www.uni-bayreuth.de
 
Spektrum erscheint ein- bis zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. August 2015

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