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FORSCHUNG/143: Berlin ist bunt und das ist auch gut so (idw)


Humboldt-Universität zu Berlin - 14.10.2015

Berlin ist bunt und das ist auch gut so

Berlin beweist sich als postmigrantische Metropole, die offen gegenüber kultureller und religiöser Vielfalt ist - bei gleichzeitiger ambivalenter Haltung gegenüber der religiösen Gleichstellung von Musliminnen und Muslimen


Eine neue Studie des "Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)" der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) verweist auf überwiegend positive Einstellungen gegenüber Musliminnen und Muslimen in Berlin - jedoch bei gleichzeitiger Präsenz von Stereotypen und Abwehr religiöser Gleichstellung bei einem Teil der Bevölkerung. Die mehrheitlich positiven Einstellungen sollten als Ausgangspunkt genommen werden, um fehlendes Wissen auszubauen und die ambivalenten Haltungen gegenüber religiöser Gleichstellung aufzufangen. Dies sollte durch den symbolischen Akt eines Berliner Staatsvertrags mit den Musliminnen und Muslimen auf den Weg gebracht werden.


Die öffentliche Debatte um Flüchtlinge und Deutschlands Willkommenskultur birgt sowohl Offenheit als auch zunehmende Abwehr. Das Thema Islam ist durch die Geflüchteten aus muslimischen Ländern des Nahen und Mittleren Ostens wieder stärker präsent. "Muslimische Einzelpersonen, aber auch Moscheevereine und weitere Organisationen engagieren sich als Dolmetscherinnen und Dolmetscher, als ehrenamtliche Helferinnen und Helfer, als professionelle Hilfsorganisatorinnen und Hilfsorganisatoren und zeigen damit, dass sie mitten in der Gesellschaft verankert und mit dieser zusammen bereit sind, eine Willkommenskultur anzubieten.

Gleichzeitig sind Musliminnen und Muslime aber auch Neuankömmlinge, Geflüchtete und Menschen in Not, die untergebracht und in die Gesellschaft der Vielen integriert werden müssen. Ihre Präsenz löst eine große Debatte um den Umgang mit Asyl und Einwanderung aus und darum, wie wir uns als Gesellschaft begreifen wollen," so Prof. Dr. Naika Foroutan, stellvertretende Direktorin des BIM der HU. "Umso wichtiger ist es, Einstellungen der Bevölkerung gegenüber Musliminnen und Muslimen zu kennen". Eine repräsentative Umfrage mit 569 Berliner Befragten, die durch die Stiftung Mercator am BIM gefördert wurde, kommt für Berlin zu positiven Ergebnissen. Die Umfrage wurde vergangenes Jahr von der JUNITED-Forschungsgruppe im BIM durchgeführt, die auch die "Junge Islam Konferenz - Deutschland" wissenschaftlich begleitet. Die Umfrage wurde zu einem Zeitpunkt durchgeführt, der nicht von gesellschaftlichen Verunsicherungen gekennzeichnet war wie derzeit durch die Fluchtdebatten und könnte daher eine Grundstimmung der Berliner Bevölkerung auffangen. Die Einstellungen zu Islam und Musliminnen und Muslimen sollten nicht auf Basis einer momentanen politischen Situation alarmistisch bewertet werden.


Die Einstellung der Berliner Bevölkerung gegenüber Musliminnen und Muslimen ist mehrheitlich positiv

Ein Großteil der Berlinerinnen und Berliner empfindet die muslimische Kultur als eine Bereicherung für Deutschland (70 Prozent). Nur 16 Prozent sehen Musliminnen und Muslimen als "Belastung für das soziale Netz", obwohl gerade dieses Argument im Zuge der Sarrazin-Debatten um Unproduktivität und Sozialtransfers im öffentlichen Raum stark vertreten wurde. Auch die damit verknüpften Debatten um hohe Kriminalitätsraten oder kulturelle Inkompatibilität haben offenbar nur bei 18 Prozent der Berlinerinnen und Berlinern das Gefühl hergestellt, "Muslime in Deutschland bedrohen viele Dinge, die ich für gut und richtig halte". Vielmehr finden zwei Drittel, Musliminnen und Muslimen sollte mehr Anerkennung entgegengebracht werden.

Auf Basis der Studienergebnisse lassen sich folgende Handlungsempfehlungen ableiten: In dieser transformativen Situation ist es wichtig, institutionelle Stabilität zu garantieren, Wissen auszubauen und das positive Einstellungsklima zu nutzen, um gesetzliche Ungleichheiten abzubauen. Die Einführung eines Staatsvertrags könnte religiöse Rechte von Musliminnen und Muslimen in Berlin institutionalisieren und rechtliche Verbindlichkeit schaffen. Somit könnte die derzeitige positive Einstellung gegenüber Musliminnen und Muslimen durch einen politischen Akt der symbolischen Zugehörigkeit bestärkt werden, der sich sowohl auf die muslimische als auch auf die nicht-muslimische Bevölkerung auswirkt.


Wenig Wissen über Musliminnen und Muslimen vorhanden und Stereotype bei ca. einem Drittel der Berlinerinnen und Berlinern verankert - Wissensaufbau über Musliminnen und Muslimen stärken und institutionalisieren

Trotz der hohen Anerkennung schätzt ein Großteil der Befragten ihr Wissen über Musliminnen und Muslime als gering ein (69 Prozent). Der Anteil der Musliminnen und Muslimen an der deutschen Bevölkerung, der bei ca. 5 Prozent liegt, wird von zirka 72 Prozent der Berliner Bevölkerung überschätzt. Davon überschätzen 22 Prozent der befragten Berlinerinnen und Berliner den Anteil deutlich um das Doppelte, Dreifache und sogar Vierfache, indem sie diesen zwischen 11 und 20 Prozent vermuten. Ein Viertel der Berlinerinnen und Berliner glaubt sogar, dass über 20 Prozent der Bevölkerung Deutschlands muslimisch sei. Außerdem werden Stereotype der Bildungsferne und Gewalt von 28 bzw. 30 Prozent der Berliner Bevölkerung als etwas typisch Muslimisches gesehen. Dieses mangelnde Wissen und die bestehenden Stereotype zeigen, dass die verhältnismäßig hohe Kontakthäufigkeit mit Musliminnen und Muslimen in Berlin allein noch kein Wissen schafft.

Daher sollte das Thema Islam und Musliminnen und Muslimen, aber auch Islamfeindlichkeit in Schulen stärker aufgegriffen werden. Zusätzlich ist die Gründung eines Berliner Zentrums für islamische Theologie stark zu befürworten, um Bedarfe nach religionstheoretischem oder theologischem Wissensausbau gerecht zu werden. Hierbei würde es nicht nur um die Ausbildung des akademischen Nachwuchses und die theologische Ausbildung von Imamen gehen, sondern auch um die Ausbildung von islamischen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern, die sich in der Alten- und Krankenpflege, als Streetworkerinnen und Streetworker und als Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen in Schulen engagieren und darüber eben auch Wissen in den sozialen Raum einspeisen können, welches sie an einem universitären Standort in Berlin erworben haben. Auch die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern für den islamischen Religionsunterricht, der von 66 Prozent der Befragten befürwortet wird, könnte durch ein Zentrum für Islamische Theologie in Berlin gewährleistet werden.


Ambivalente Positionierung bei religionspolitischen Fragen

Während zwei Drittel der Berlinerinnen und Berliner zwar der Meinung sind, dass Musliminnen und Muslimen mehr Anerkennung entgegengebracht werden sollte, was auf eine hohe abstrakte Akzeptanz schließt, sieht es bei der konkreten Umsetzung von religiösen Rechten als einem Symbol für gesellschaftliche Gleichstellung nicht mehr so deutlich aus. Dennoch ist die Zustimmung bei religionspolitischen Fragen in Berlin - trotz der insgesamt stärkeren Säkularisierung - immer noch höher als im restlichen Bundesgebiet. In Berlin sprechen sich 53 Prozent der Bevölkerung gegen die Beschneidung aus und 34 Prozent würden den Moscheebau einschränken. Gegen das Kopftuch bei Lehrerinnen sprechen sich 42 Prozent aus, allerdings ist eine Mehrheit dafür: 54 Prozent der Berlinerinnen und Berliner finden, dass es das Recht muslimischer Lehrerinnen sein sollte, im Unterricht ein Kopftuch zu tragen. Dies sind mehr Befürworterinnen und Befürworter als im restlichen Bundesgebiet, wo sich Befürworterinnen und Befürworter und Gegnerinnen und Gegner eines Kopftuchverbots ungefähr die Waage halten.

Vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts und der Einstellungen der Berlinerinnen und Berliner, die das Recht auf individuelle Auslebung von Religiosität auch im öffentlichen Raum offensichtlich akzeptieren, empfehlen wir eine Anpassung des Neutralitätsgesetzes an die empirischen Realitäten der Vielfalt und Pluralität in dieser Stadt.


Fazit - Berliner Staatsvertrag mit den muslimischen Gemeinschaften schließen und Neutralitätsgesetz anpassen

"Es wird deutlich, dass auch in einer Stadt wie Berlin, die sich durch größere Offenheit teilweise sogar signifikant vom restlichen Bundesgebiet unterscheidet, was Einstellungen zu kultureller und religiöser Vielfalt angeht, dennoch keine Gleichheit von Religionsgemeinschaften in Bezug auf deren Rechte gesehen wird. Es muss daher deutlicher erklärt werden, dass eine plurale, offene Demokratie auch die gleichen Rechte, Positionen und Partizipationen aller Bürgerinnen und Bürgern bedeutet, ganz gleich, ob sie religiös sind oder nicht, ob sie eingewandert sind oder schon immer hier gelebt haben. Denn der Grundsatz der Demokratie heißt eben nicht, wer zuerst da war, mahlt zuerst," so Prof. Dr. Naika Foroutan, Leiterin der Studie.

Die vorliegenden Empfehlungen, die aufgrund der Studienergebnisse formuliert wurden, zielen darauf ab, die mehrheitlich offene Einstellung der Berlinerinnen und Berliner gegenüber Musliminnen und Muslimen zu festigen und an den nötigen Stellen nachzubessern, um zu verhindern, dass die Einstellung der Bevölkerung kippt. Das Wissen sollte daher in die Breite getragen werden, um Stereotype zu beseitigen, ein Staatsvertrag sollte rechtliche und institutionelle Sicherheit und Gleichheit für Musliminnen und Muslime gewähren und das Neutralitätsgesetz an die Realitäten der Vielfalt und Pluralität in dieser Stadt angepasst werden.

Die Studie:
http://junited.hu-berlin.de/berlin-postmigrantisch-2015

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Das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM)

Das BIM der Humboldt-Universität zu Berlin wird durch die Gemeinnützige Hertie-Stiftung (Förderpartner), den Deutschen Fußball-Bund (DFB), die Bundesagentur für Arbeit (BA) und die Beauftragte der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration gefördert und unterstützt.
www.bim.hu-berlin.de>

Die Forschungsgruppe JUNITED

Die Forschungsgruppe JUNITED - Junge Islambezogene Themen in Deutschland untersucht das Reaktionsspektrum auf das sich wandelnde Einwanderungsland Deutschland in Bezug auf die Themen Islam und Muslime aus transdisziplinärer Perspektive. Die Forschungsgruppe ist unter der Leitung von Prof. Dr. Naika Foroutan im Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität zu Berlin angesiedelt. JUNITED ist ein Förderprojekt der Stiftung Mercator:
http://junited.hu-berlin.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution46

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Humboldt-Universität zu Berlin, Hans-Christoph Keller, 14.10.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Oktober 2015

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