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BERICHT/024: Interview - Den Umgang mit Medien lernen (Bi.research - Uni Bielefeld)


BI.research 33.2008
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Den Umgang mit Medien lernen
Ein Gespräch mit dem Medienpädagogen Uwe Sander über Medienkompetenz, Gewaltdarstellungen und die "mediale Kluft"


BI.research: Von Pädagogen wird "Medienkompetenz" als "Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts" bezeichnet. Was muss man sich darunter vorstellen?

Uwe Sander: Der Begriff "Medienkompetenz" geht auf den Bielefelder Erziehungswissenschaftler Dieter Baacke zurück. Zur Entwicklung dieser Kompetenz haben wir seinerzeit zusammen Forschungen bezogen auf Werbung durchgeführt. Da ging es vor allem darum, wie sich Kritikfähigkeit gegenüber Werbung bei Kindern und Jugendlichen im biografischen Prozess entwickelt. Die Diskussion über Medienkompetenz wurde seit den 70er Jahren parallel zu der über Schlüsselqualifikationen geführt. Zu Anfang ging es bei den Schlüsselqualifikationen darum, mit flexibel einsetzbaren Metaqualifikationen auf einen immer unprognostizierbareren Beschäftigungssektor zu reagieren. Ungeklärt blieb aber, mit welchen didaktischen Maßnahmen diese Fähigkeiten gefördert werden können. Dasselbe Problem stellt sich heute bei der Medienkompetenz. Man weiß, dass sie wichtig ist, man weiß, dass sie ungleich verteilt ist, aber es stellt sich als sehr schwierig heraus, die 'Problemgruppen' adäquat zu fördern.

BI.research: Gleich zu einem praktischen Beispiel altersspezifischer Medienkompetenz: Gibt es auch für Kinder einsehbare gute Argumente, warum sie bestimmte Sendungen nicht sehen dürfen, oder macht man das als Eltern notgedrungen einfach strikt über Verbote?

Uwe Sander: Entscheidend ist weniger die Auswahl der Sendungen als vielmehr die Art und Weise, wie in der Familie über Fernsehsendungen kommuniziert wird. In unseren Forschungen zur Werbung ist deutlich geworden, in welch hohen Maße Kinder in jungem Alter zuerst die Deutungsmuster ihrer Eltern gegenüber Werbung übernehmen. Der Einfluss des Elternhauses ist hier viel größer als der der Schule. Motiviert das Kommunikationssetting der Familie die Kinder später, die von den Eltern adaptierten Deutungsmuster argumentativ zu belegen bzw. zu reflektieren, entwickelt sich nach und nach eine eigene Position der Kinder. Aber nicht in allen Elternhäusern existiert eine solche kommunikative Atmosphäre. Für die Entwicklung von Medienkompetenz ist also nicht nur der altersspezifische kognitive Stand der Kinder verantwortlich, sondern auch das Anregungspotenzial der Familie.

BI.research: Welches sind die größten Probleme im Zusammenhang mit Medien, vielleicht Gewaltdarstellungen? Oder ist das selbst ein medial hochstilisiertes Thema?

Uwe Sander: Im wissenschaftlichen Diskurs über Medien wird seit Jahrzehnten ein wichtiges Problem benannt, und das ist die Tatsache einer immer größeren Wissenskluft in der Gesellschaft. Diese Kluft hängt eng mit den Zugangsmöglichkeiten zu Medien und mit differenten medialen Nutzungsstilen zusammen und bewegt sich im großen Kontext sozialer Ungleichheit. Im außerwissenschaftlichen Mediendiskurs allerdings scheint das Thema 'Gewalt' attraktiver zu sein. Hier finden wir in periodisch wiederkehrenden Konjunkturen immer wieder die platten, aber öffentlichkeitswirksam erfolgreichen Thesen eines direkten Zusammenhangs zwischen Mediengewalt und realer Gewalt.

BI.research: Trotzdem noch einige Nachfragen: Besteht durch Gewaltdarstellungen tatsächlich die Gefahr von Abstumpfung und mangelnder Empathie?

Uwe Sander: Es gibt so etwas wie Gewalt als Habitus, der in bestimmten Szenen oder Milieus beheimatet ist. Wer diesen Habitus pflegt, hat - das zeigen Forschungen eindeutig - auch eine hohe Affinität zu medialen Gewaltdarstellungen. Allerdings darf man das nicht einseitig auf Jugendliche mit niedrigem Bildungsniveau und Sozialstatus beziehen. Auch Personen aus der privilegierten Schichten oder Milieus mit Bildungshintergrund haben ihre spezifischen kulturellen 'Genussformen' medialer Gewalt entwickelt . Denken Sie an Filme wie "Pulp Fiction" oder "A Clockwork Orange". Also: Wenn auch unklar ist, wie mediale Gewalt 'wirkt', klar ist ihre starke Anziehungskraft quer zu den sozialen Schichten und Milieus.

BI.research: Wie kann man unter Jugendlichen die Einsicht fördern, dass Gewalt alles andere als "cool" ist, wenn ihre Bildschirmhelden gerade damit Erfolg haben?

Uwe Sander: An dieser Stelle gibt es eine gewisse Hilflosigkeit. 'Einsicht' benötigt ja als Voraussetzung die Fähigkeit autonomer Selbstsicht und Selbsteinschätzung. Existiert die, dann kann Reflexion über Gewalt und den eigenen Mediengewaltkonsum so etwas wie einen ethischen oder zivilisatorischen Schutz vor einer potenziellen Anwendung realer Gewalt erzeugen. Nun ist allerdings Reflexionsbereitschaft auch wieder ein sozialkulturelles bzw. milieuspezifisches Phänomen. Reflexion bedarf nicht nur kognitiver, sondern auch kulturell-habitueller Rahmenbedingungen. In bestimmten Jugendszenen jedoch gibt es einen bewussten Widerstand gegen eine reflexive Welt- und Selbstsicht. Wenn dort Gewalt und Gewaltdarstellungen als etwas Positives erlebt werden, dann wird diese Haltung stabilisiert durch eine intuitive Abwehrreaktion gegen die Infragestellung dieser Disposition. Als präventive Maßnahme wäre zum Beispiel eine (medien-)pädagogische Beratung von Eltern ideal. Es ist allerdings eine idealistische Vorstellung, die nicht nur bildungs-, sondern auch beratungsfernen Problemgruppen damit ohne weiteres erreichen zu können. Und so dreht sich ein Circulus vitiosus vor dem Hintergrund eines relativ direkten Zusammenhangs zwischen niedrigem Bildungsniveau, daraus resultierender Perspektivlosigkeit und Gewaltbereitschaft. Konsequenz daraus wäre natürlich, die Bildungschancen unterprivilegierter Schichten zu erhöhen, da Bildung nicht nur eine Grundvoraussetzung für sozialen und beruflichen Erfolg, sondern auch für Refexivität ist. Das derzeitige Bildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland schafft diese Aufgabe allerdings gerade nicht, ist doch selbst 40 Jahre nach den letzten großen Bildungsreformen der unmittelbare Zusammenhang zwischen Herkunft und Bildungsstatus in Deutschland ungebrochen.

BI.research: Und welchen Sinn hat die Eindämmung medialer Gewalt über Gesetze?

Uwe Sander: Dazu gibt es Deutschland eine lange Tradition. Die Bundesrepublik ist hier international ein Vorreiter. Der rechtliche Medienschutz beginnt im Kaiserreich, als nämlich das Kino etabliert wurde. In dieser Zeit wird der Kampf gegen, wie es damals hieß, "Schmutz und Schund" aufgenommen. Heute haben wir einen ausdifferenzierten Jugendmedienschutz, der grundsätzlich zu begrüßen ist. Es ist übrigens bemerkenswert, dass es in den 50er Jahren dazu unter dem Stichwort "Amerikanisierung" in beiden deutschen Staaten die gleichen Sorgen um die Zerstörung der deutschen Hochkultur und eine kulturelle Verflachung gab. Demgegenüber richtet sich der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag seit 2003 stärker an anderen Kriterien aus, etwa der 'Entwicklungsbeeinträchtigung' Heranwachsender.

BI.research: Zurück zur "medialen Kluft": Wie sieht es mit der Vermittlung von Medienkompetenz in der Schule konkret aus? Könnte man sich angesichts der Allgegenwart von Medien vielleicht sogar ein neues Fach "Medienpädagogik" vorstellen?

Uwe Sander: Die Lehramtsausbildung hat auf den Bedarf von Medienkompetenz reagiert, gerade an der Universität Bielefeld beeinhaltet das obligatorische Nebenfach Erziehungswissenschaft starke medienpädagogische Anteile. Auch durch Programme wie "Schulen ans Netz" sind inzwischen viele Schulen technisch gut ausgestattet. Allerdings fehlt es gerade älteren Lehrern an dieser Stelle oft an Kompetenzen. Ein eigenes Fach "Medienpädagogik" gibt es nirgendwo in Deutschland und wird auch nicht gewollt. Es muss aber noch mehr mediale Angebote für Schülerinnen und Schüler geben, auch um die erwähnte Wissenskluft zu verringern. Zudem bedarf es neben theoretischen Zugängen auch medienpraktischer Erfahrungen. In Bielefeld kooperieren deswegen medienbezogene Studiengänge der Universität mit Medienunternehmen und Medienanbietern. Beispiele dafür finden sich in der etablierten Kooperation mit dem "Deutschen Kinder- und Jugendfilmzentrum" (Remscheid), mit dem (Fernseh-) "Kanal 21" und Radio "Hertz 87,9" (beide Bielefeld) mit seinem Programm "Hertz Junior", das von Kinderreportern gestaltet wird. Für solche Aktivitäten sehe ich im Rahmen der Ganztagsschule mehr Möglichkeiten. Generell wäre eine Einbindung der außerschulischen Medienarbeit in die schulische wünschenswert, um den Umgang mit Medien an ganz konkreten Beispielen zu lernen.

BI.research: Und wie ist die Mediensituation an der Universität?

Uwe Sander: Im Vergleich zu den Schulen haben in den Hochschulen in Deutschland die Neuen Medien durchgängig Eingang gefunden. Verwaltung, Lehre, Bibliothek, aber auch die tagtägliche wissenschaftliche Arbeit sind ohne Medieneinsatz heute nicht mehr denkbar. Allerdings geht es noch immer in der Lehre darum, adäquate Formen für einen sinnvollen Medieneinsatz zu finden. Ich denke da besonders an den Online-Bereich, wo noch viel Systematisierungsarbeit zu leisten ist. Frühere Aktivitäten wie die "Virtuelle Hochschule" haben sich dagegen als Sackgasse erwiesen. Heute denkt man differenzierter. Sehr sinnvoll ist zum Beispiel das Elektronische kommentierte Vorlesungsverzeichnis der Universität Bielefeld (eKVV), das mit seinem sehr breit angelegten interaktiven Informationsangebot weit über das hinausgeht, was der Name verspricht. Weitere Einsatzmöglichkeiten für Medien werden sich mit Sicherheit ergeben, das Potenzial der Neuen Medien für den universitären Einsatz ist noch lange nicht ausgeschöpft.

Die Fragen stellte Hans-Martin Kruckis


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Quelle:
BI.research 33.2008, Seite 30-35
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld
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BI.research erscheint zweimal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Januar 2009