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FRAGEN/003: Was die Dinge Kinder lehren (welt der frau)


welt der frau 11/2010 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Was die Dinge Kinder lehren
Frühkindliche Bildung

Interview von Julia Kospach


Donata Elschenbroich, Expertin für frühkindliche Bildung und Bestsellerautorin, über Alltagsgegenstände als Lehrmeister, die Wirkkräfte von Wäscheklammern, spielzeugfreie Kindergärten, warum die Welt nun einmal nicht kindersicher und das gut so ist.


WELT DER FRAU: "Messer, Gabel, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht." Stimmt das Sprichwort?

ELSCHENBROICH: Wer sagt das? Alle Alltagsgegenstände, alle Werkzeuge interessieren die Kinder. Die ganze Welt ist eine Aufgabe. Und stellt sich in den Dingen immer wieder neu. Nicht alle sind harmlos. Die Welt ist nicht "kindersicher"!

WELT DER FRAU: Was spielt sich ab bei den ersten Begegnungen, die Babys mit Dingen haben?

ELSCHENBROICH: Wir sehen die Kinder "von einer Welt der Dinge umstanden". Aber für sie selbst kristallisieren sich die Dinge erst allmählich durch ihr aktives Tun heraus. Die Grenze zwischen Selbst und Ding wird immer wieder erforscht. Augen, Mund und Hände sind für die Erwachsenen die sichtbarsten Navigationsinstrumente des Kindes. Aber auch Gehör und die Nase arbeiten mit bei der Einarbeitung in die Welt.

WELT DER FRAU: Wie unterscheidet sich diese Sach-Kunde vom Erlernen von Sprache?

ELSCHENBROICH: Die Sach-Kunde geht der Sprache voraus, das ist ja klar. Einjährige können oft höchst geschickt einen Brummkreisel in Gang setzen, aber das Wort wird erst später nachkommen. Dann aber wird die Sprache zu einem eminent wichtigen Werkzeug des Weltwissens - dadurch gibt es Gesprächs-Gegenstände! Der verlorene Ball ist im Gespräch anwesend, das ist ein großes Erlebnis.

WELT DER FRAU: Welche Alltagsgegenstände sind für Kleinkinder besonders anregend?

ELSCHENBROICH: Was sich rollen lässt. Was sich werfen, schieben, verstecken lässt. Dinge, auf die die Erwachsenen dialogisch reagieren. Das Handy zum Beispiel halten schon sehr junge Kinder erwartungsvoll ihrem Gegenüber ans Ohr.

WELT DER FRAU: Was genau lernen Kinder im Umgang mit den Dingen?

ELSCHENBROICH: Der italienische Dichter und Regisseur Pier Paolo Pasolini hat gesagt: "Was mich mit Worten gelehrt wurde, kann ich mit einiger Anstrengung vergessen. Aber ich werde nie vergessen, was mir die Dinge beigebracht haben." Das ist das Motto meines Buchs. Die Kinder erschließen sich von Ding zu Ding den Erfindungsreichtum der menschlichen Kultur.

WELT DER FRAU: Sie schreiben: Kleinkinder lernen im Umgang mit den Dingen zugleich auch die Gesten, die sich zu einem Habitus, einer sozialen Gruppenzugehörigkeit addieren. Wie funktioniert das?

ELSCHENBROICH: In den Dingen steckt mehr als nur neutral-funktionaler Gebrauchswert. Sie können uns vergrößern - damit lockt die Werbung -, und sie können uns beschämen, weil sie unsere Schicht- und kulturelle Zugehörigkeit offenbaren. Wenn man Kindern beim Rollenspiel genau zuschaut, kann man oft ihren scharfen Blick für die feinen sozialen Unterschiede erkennen. An der Geste zum Beispiel, mit der sie eine Handtasche über die Schulter werfen oder eine scheinbar schwere Einkaufstüte schleppen.

WELT DER FRAU: Was sind denn aus Ihrer Sicht als Expertin für Bildung in frühen Jahren die großen pädagogischen Versäumnisse der letzten Jahre und Jahrzehnte?

ELSCHENBROICH: Es hat reichlich lang gedauert, bis man das große Erkenntnispotenzial der frühen Lebensjahre anerkannt hat. In den vergangenen zehn Jahren ist da viel nachgeholt worden, und es geht nun weiter, in der Forschung und in der Praxis von Krippen und Kindergärten. Der Anregungshorizont in Kindergärten hat sich deutlich erweitert. Dadurch kann ein Kind besser erfahren, was ihm selbst liegt.

WELT DER FRAU: Stichwort Kaputt-Experimente: Was versteht man darunter und was macht sie so wesentlich?

ELSCHENBROICH: Ein freundlicher Begriff! Er erkennt an, dass es nicht nur Ungeschicklichkeit des Kindes ist oder Sadismus, wenn dem Teddy hinter die Augen gebohrt wird. Kinder wollen unter die Oberfläche schauen, ins Innere, hinter die Dinge, das ist ein wichtiger Impuls. Erwachsene stoßen da mit Kindern oft an ihre Grenzen. Aber es gelingt Eltern heute eher als in vorangegangenen Generationen, in der Überschwemmung im Badezimmer nicht nur eine Schweinerei, sondern ein Experiment zu erkennen.

WELT DER FRAU: Gibt es Länder, Orte oder Bildungseinrichtungen, an denen Ihre Idealvorstellungen von frühkindlicher Bildungsförderung bereits - weitgehend optimal - verwirklicht sind?

ELSCHENBROICH: Das ist eine interessante Frage. Ich bin immer wieder überrascht, wie unterschiedlich die Schwerpunkte für Kinder in verschiedenen Kulturen oder Weltgegenden gesetzt werden. In japanischen Krippen zum Beispiel beeindruckt mich der intensive Austausch zwischen Müttern und Erzieherinnen in sorgfältig geführten Tagebüchern. In den skandinavischen Naturkindergärten das Vertrauen der Erwachsenen in die Konstruktionskraft der Kinder: dass sie aus dem ungestaltet Vorgefundenen "Dinge" entstehen lassen können und dabei erfahren, dass es auf sie selbst ankommt.

WELT DER FRAU: Sie schreiben, die nachhaltigste Lernhilfe für ein kleines Kind ist es, es nicht bei seiner Erforschung von Alltagsdingen durch vorschnelles elterliches Eingreifen um das Erfolgserlebnis zu bringen.

ELSCHENBROICH: Wenn ein zehn Monate altes Kind sich abmüht, den unters Sofa gerollten Sahnebesen wieder hervorzuangeln, fällt es uns schwer, ihm das Ding nicht schnell zuzuschieben. Aber der Mensch, vor allem am Anfang des Lebens, will es ja keineswegs nur möglichst bequem haben. Er sucht sich seine Aufgaben, oft möglichst herausfordernde. Wir müssen uns zurücknehmen und uns einfühlen: Kann er, kann sie es schaffen?

WELT DER FRAU: Wie lenkt man in Zeiten der Reizüberflutung die kindliche Aufmerksamkeit auf ganz normale Alltagsgegenstände?

ELSCHENBROICH: Erst einmal: Die jungen Kinder zeigen uns Erwachsenen ständig die Alltagsdinge wieder neu. Wie faszinierend, das Rührgerät, der Zahnspiegel, der Schlüsselbund! Sie bringen durch ihr Interesse die Alltagsgegenstände in unser Leben zurück. Das sollte man so lange wie möglich fortsetzen. Mit den "Weltwissen-Vitrinen", den Ausstellungen von Alltagsgegenständen in Kindergärten und Grundschulen zur Ausleihe an den Familientisch, regen wir das an.

WELT DER FRAU: Sind Alltagsgegenstände Kinderspielzeugen überlegen?

ELSCHENBROICH: Alltagsgegenstände haben in der Hand der Kinder viele überraschende Dimensionen. Sie verleiten vielleicht auch weniger dazu, das Kind abzuspeisen. Sie fordern mehr Dialog zwischen Erwachsenen und Kindern heraus. Aber für Kinder sind Spielzeuge ja gewissermaßen auch Alltagsgegenstände. Und natürlich haben wir uns über die Jahrhunderte immer wieder auch interessante Spielsachen ausgedacht.

WELT DER FRAU: Im Spiel mit den Dingen wird zweierlei geübt, schreiben Sie: "die zweckgebunden funktionale und die alternative Dimension der Dinge". Wofür ist das aus pädagogischer Sicht wichtig?

ELSCHENBROICH: In Alternativen denken zu können - das kann man gar nicht genug üben. So entstehen neue Ideen und Lösungen. Kinder sind noch nicht so auf die Sachlogik in einem Ding festgelegt wie Erwachsene. Ein umgekippter Stuhl wird gleich ein Eisenbahnwagen. So entstehen Erfindungen.

WELT DER FRAU: Es gibt immer mehr "spielzeugfreie Kindergärten". Bewährt sich diese Idee?

ELSCHENBROICH: Eindeutig! Die Kinder machen in den "spielzeugfreien Wochen" die wesentliche Erfahrung, dass weniger auch mehr sein kann. Danach kehren sie in einer veränderten Haltung zu ihrem "in den Urlaub geschickten" Kindheits-Zubehör zurück.

WELT DER FRAU: Das Thema Manieren findet keine Erwähnung in Ihrem Buch. Gerade im Umgang mit Dingen könnte das doch eine große Rolle spielen?

ELSCHENBROICH: Vielleicht nenne ich es nur anders. Die Pflege der Dinge ist durchaus ein Thema im Buch. An den Kindern erleben wir mit, was uns ja auch selbst oft ein Problem ist: wie wir bedrängt werden von übervielen Dingen. Nicht anders als auch von übervielen Informationen. Auswählen lernen, nicht von einem Ding zum anderen nomadisieren, sondern "bei der Sache bleiben", dieses Gedanken erweckende Beobachten können wir üben, wenn wir uns gelegentlich mit einem Kind vertiefen in die Frage, welche Kräfte in einer Wäscheklammer wirken.


Donata Elschenbroich arbeitet am Deutschen Jugendinstitut auf dem Gebiet der international vergleichenden Kindheitsforschung. Ihr Buch "Weltwissen der Siebenjährigen" (2001) stand viele Jahre auf den Bestsellerlisten. "Die Dinge" ist der Titel ihres neuen Buches.

"Die Dinge"
Expeditionen zu den Gegenständen des täglichen Lebens

(Verlag Kunstmann, 209 Seiten, EUR 19,4O)


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
November 2010, Seite 16-19
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Dezember 2010