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SCHULE/207: Neue Ansätze für Arbeit mit lernschwachen Schülern (idw)


Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt (Main) - 04.05.2007

Wenn Lernen zum Risiko wird

Neue Ansätze für Arbeit mit lernschwachen Schülern


Jahr für Jahr verlassen 100.000 Schülerinnen und Schüler das deutsche Schulsystem, ohne richtig Lesen und Schreiben gelernt zu haben. Selbst einfachen Texten können diese Jugendlichen keinen Sinn entnehmen. Wie ist zu erklären, dass die Vermittlung eines elementaren Bildungsguts in der Schule massenhaft scheitert? Die beiden Frankfurter Professoren für Sonderpädagogik Dieter Katzenbach und Gerd Iben zeigen in einem zwei Jahre laufenden Projekt, wie Lernen auch unter ungünstigen Voraussetzungen möglich wird und Jugendliche der Förderschule ihre Lernwiderstände überwinden können. Ihr Fazit: "In Deutschland fehlt es nicht am fachlichen Know-how, aber die Unterrichtskultur muss sich ändern: Fachlehrer, Sonder- und Sozialpädagogen sowie Psychologen müssen im Team an der jeweiligen Schule zusammenarbeiten. Die Abgrenzungsdiskurse der verschiedenen Hilfssysteme bringen die Schüler nicht weiter."

In dem von der BHF-Bank-Stiftung großzügig unterstützte Projekt "Soziale Benachteiligung, Analphabetismus und Medienkompetenz", über das die beiden Wissenschaftler in der neuesten Ausgabe des Wissenschaftsmagazins "Forschung Frankfurt" (1/2007) berichten, arbeiteten die Förderpädagoginnen und -pädagogen über ein Schuljahr zwei bis vier Stunden pro Woche mit 24 lese- und schreibschwachen Jugendlichen aus dem Rhein-Main-Gebiet zusammen. 18 Schülern hatten nach dieser Zeit deutliche Fortschritte gemacht, obwohl die meisten in ihrer Schulbiographie schon eine ganze Reihe erfolgloser Alphabetisierungsversuche hinter sich hatten. Wie unterscheidet sich der Frankfurter Ansatz von den bisherigen Versuchen? Dazu Prof. Dieter Katzenbach von der Universität Frankfurt: "Wir entwickeln mit jedem Schüler ein individuelles Lernangebot, arbeiten nicht mit fertigen Maßnahmenkatalogen - und wir nutzen die 'neuen Medien' als Türöffner in die Schriftkultur." Der PC ist dabei nicht nur Trainingsgerät, sondern Werkzeug zur Textproduktion und eignet sich zudem, das Verhältnis von Nähe und Distanz in der Beziehung zwischen Schüler und Pädagoge zu regulieren. "Denn diese Schüler waren wiederholt kränkenden und entwertenden Beziehungserfahrungen im Kontext des schulischen Lernens ausgesetzt. Daher kann zu viel Nähe von den Pädagogen auf diese Jugendlichen auch bedrohlich wirken", erläutert Prof. Gerd Iben.

Um ein individuelles Lernangebot zusammenstellen zu können, haben Pädagogen und Schüler gemeinsam nach Themen gesucht, die für die Jugendlichen so reizvoll waren, dass sie sich noch einmal auf das Wagnis des Lesen- und Schreibenlernens einließen. Den Förderschülern war zwar bewusst, dass sie "eigentlich" lesen und schreiben können müssten. Aber keiner der ihren nannte zu Beginn der Förderung einen Grund dafür, warum es persönlich gewinnbringend sein könnte, diese eigentümliche Kunst zu beherrschen. Die älteren verknüpften den Schrift-Sprach-Erwerb und die Verbesserung ihrer schriftsprachlichen Fähigkeiten häufig mit konkreten - wenn auch zuweilen illusionären - beruflichen Zielen. "Das Lernen dient nicht der expansiven Erweiterung ihrer Eigenwelt, sondern primär der Vermeidung weiterer Demütigungen. Die Förderung durfte sich daher nicht darauf beschränken, die Techniken des Lesens und Schreibens zu vermitteln, sondern vielmehr den Sinn des Lesens und Schreibens für die Schülerinnen und Schüler erfahrbar zu machen. Und dies konnte wiederum nur an Themen und Inhalten gelingen, denen sie selbst eine Bedeutung beimessen", fügt Katzenbach hinzu.

Warum münden zahlreiche Förderkonzepte in einem aussichtslosen "Förderkampf"? Oft - so haben auch die Frankfurter Sonderpädagogen festgestellt - sind Lernwiderstände eine Form von Selbstschutz: Lernen ist für diese Jugendliche keine Herausforderung, sondern ein kaum kontrollierbares Risiko, das durch Misserfolg, Beschämung, Scheitern und Ausgrenzung geprägt ist. Auch das Team der Universität Frankfurt begegnete zu Beginn der Arbeit offener Verweigerung, resignativer Passivität, Lustlosigkeit und besonders häufig der Selbstbeschreibung "ich bin krank/ich bin behindert", nahm aber diese Reaktion zum Anlass, gemeinsam mit den Schülern nach den Ursachen für diese Ängste und Sorgen zu schauen und positive Impulse, wie das Erstellen einer eigenen kleinen Web-Seite, zu vermitteln. In dem integrierenden Förderansatz, der fachdidaktische Aspekte und sozialpädagogische Angebote verbindet, sieht das Frankfurter Team den Weg zu besseren Erfolgen. Doch dafür muss sich in der deutschen Schullandschaft noch einiges ändern. So sind beispielsweise Erziehungsberatungsstellen oder psychotherapeutische Dienste weder inhaltlich noch institutionell auf die Arbeit in der Schule abgestellt. "Statt Nebeneinander müssen alle Beteiligten zu einem Miteinander in der Schule finden", plädiert Katzenbach.

Nähere Information: Prof. Dr. Dieter Katzenbach
Institut für Sonderpädagogik
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Telefon 069/798 22092
E-Mail d.katzenbach@ em.uni-frankfurt.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution131


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt (Main), Ulrike Jaspers,
04.05.2007
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Mai 2007