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SCHULE/217: Sprachlos machen (planet)


planet - Zeitung der Grünen Bildungswerkstatt # 50
Oktober, November 2007

Sprachlos machen

Von Herbert Langthaler


Einem Grossteil der Kinder aus Migrantenfamilien wird in Österreich die Alphabetisierung in ihrer Muttersprache verweigert. Die Schuld an der dadurch beförderten gesellschaftlichen Desintegration wird den so Diskriminierten auch noch angelastet.


"Einsprachigkeit ist heilbar," verkündet die Homepage des Wiener Stadtschulrates unter der Rubrik "Bilingualität". Fragt sich nur - um im medizinischen Bild zu bleiben - mit welcher Therapie. Vor allem, wenn es sich bei dem Patienten, wie im Falle Österreichs, um einen Hypochonder handelt, der Einsprachigkeit nur vortäuscht. So stoßen Medienberichte, in denen die Einsprachigkeit in Österreich beklagt wird, bei den Lehrerinnen in der (Europa)Volksschule in der Vorgartenstraße im 20. Wiener Gemeindebezirk auf Unverständnis. "Das ist absurd", ärgert sich Monika Kerschbaumer, "weil ich habe in meiner Klasse allein 15 Sprachen, da muss man nur wenig investieren um diese Sprachen zu aktualisieren. Nur wird das nicht anerkannt."

Während die österreichische Wirtschaft - seit Jahren auf erfolgreichem Expansionskurs Richtung Ost- und Südosteuropa - um teueres Geld BeraterInnen mit der nötigen sprachlichen Kompetenz anheuert, verkümmern an Österreichs Schulen sprachliche Ressourcen und, was noch viel schlimmer ist, junge Menschen werden in ihrer Entwicklung behindert und in ihrem Selbstwertgefühl beschnitten.


Vom Wert der Sprachen

Spätestens seit den niederschmetternden PISA-Ergebnissen sind mangelnde Deutschkenntnisse bei SchülerInnen aus migrantischen Familien und wie man diese beheben könne, ein zentrales Thema der Bildungspolitik. An Grundlagenforschung mangelt es dabei nicht, wie Spracherwerb in der Migration funktioniert, darüber wird seit Jahrzehnten eifrig geforscht. Unbestritten ist dabei die Bedeutung der Erstsprache. Nur wer seine Muttersprache gut beherrscht, ist auch im Stande eine Zweitsprache gut zu erlernen. Der Erwerb der Erstsprache ist allerdings mit dem Schuleintritt nicht abgeschlossen. Wesentliche Bereiche der Grammatik, des Wortschatzes und die Rechtschreibung werden erst in der Schule erlernt. Natürlich nur, wenn in der Schule (auch) die Muttersprache unterrichtet wird. Ein Bruch im Spracherwerb ist den Fähigkeiten eine Zweitsprache zu erlernen massiv abträglich.

Zwar können diese Erkenntnisse in den Informationsblättern des Referats für interkulturelles Lernen(1) nachgelesen werden, Ansätze zur konkreten Umsetzung blieben aber bislang in Schulversuchen oder Pilotprojekten stecken. Ein Grund ist, dass Sprachen unterschiedlichen Status zugewiesen bekommen und die von der Mehrzahl der MigrantInnen in Österreich gesprochenen Sprachen sind so genannte "statusniedere" Sprachen, wie Gabriele Lener, Lehrerin an der VS-Vorgartenstraße, erläutert. Der Status dieser Sprachen muss aufgewertet werden und das geht nur, wenn man auch in der Öffentlichkeit von diesem Defizit-Ansatz wegkommt." Auch im geltenden Lehrplan für die Mittelstufe wird dazu aufgerufen, Zwei- oder Mehrsprachigkeit positiv zu besetzen und die SchülerInnen zu ermuntern, Kenntnisse in der Muttersprache im Unterricht sinnvoll einzubringen.

Allein der Ruf des Lehrplans verhallt allzu oft ungehört auf den Schulgängen. Zwar erhielten im Schuljahr 2005/06 in ganz Österreich über 26.000 SchülerInnen von 314 Lehrerinnen muttersprachlichen Zusatzunterricht,(2) aber das ist nicht viel mehr als der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Wie eine Studie der Ethnologin Susanne Binder aufzeigt, finden die Erstsprachen der SchülerInnen kaum Beachtung. Das geht oft so weit, dass SchülerInnen in den Pausen nicht in ihrer Muttersprache kommunizieren sollen. Binders Resumee: "Die Erstsprache wurde (...) oft nur als Vehikel zum Deutschlernen benutzt statt als eigenständige, vollwertige und erlernenswerte Sprache vermittelt."


Systematische Benachteiligung

Besonders betroffen von den Problemen, die sich letztendlich in einem Mangel an Deutschkenntnissen manifestieren, sind Kinder, deren Familien aus der Türkel zugewandert sind. Das hat mehrere Gründe. In erster Linie sind dies gesellschaftspolitische, wie Gabriele Lener meint: eine systematische Benachteiligung, weil man auch möchte, dass es Leute in sozial schlechten Lagen gibt, die sich politisch nicht wehren können, und da sind in Österreich die Türken dazu erwählt."

Ein anderer Grund ist die schlechte Stellung der sprachlichen LehrerInnen im österreichischen Schulsystem: Sie haben schlechte Dienstverträge und werden in Schulen an den Rand gedrängt. Türkische LehrerInnen sind zusätzlich benachteiligt, weil es in Österreich keine Lehramtsausbildung für Türkisch gibt, weshalb es auch nicht möglich ist, sich als TürkischlehrerIn nostrifizieren zu lassen. Diese systematischen Diskriminierungen betreffen immerhin eine Sprachgruppe mit ca. 200.000 SprecherInnen.

Viele Kinder, deren Familien aus der Türkei stammen, leiden auch an der mangelnden Beherrschung der türkischen Sprache in den Familien. Als der kemalistische Nationalstaat aus den Trümmern des Osmanischen Reiches geschaffen wurde, sollte die türkische Sprache als Klammer für den gemeinsamen Staat dienen. Die Dutzenden verschiedenen Ethnien der Türkei wie Kurden, Araber, Tscherkessen, Griechen, Georgier, Lasen, Armenier, Albaner, Bulgaren, um nur einige zu nennen, die keine Turksprachen sprechen, wurden einer rigiden Assimilierungspolitik unterworfen, die soweit reichte, dass 1924 das Sprechen der Muttersprache unter Strafe gestellt wurde. Das führte zu einer schwachen muttersprachlichen Basis - und zu geringem sprachlichen Selbstbewusstsein, was sich in der Migration verstärkte.


Wege aus dem Abseits

Wie gering das sprachliche Selbstvertrauen der türkischstämmigen Bevölkerung ist, zeigen die Erfahrungen, die an der Volkschule in der Vorgartenstraße mit bilingualem türkisch/deutschem Unterricht gemacht wurden.

Gabriele Lener und ihr Kollege Ercan Özcan unterrichteten sämtliche Gegenstände im bilingualen Teamteaching. Dieses Unterrichtsmodell wurde an der Schule gleichwertig neben bilingualem Italienisch angeboten, um den Standort, aber auch das gesellschaftliche Ansehen der türkischen Sprache zu heben.

Leider gelang es nur eine Klasse bilingual zu führen. "Viele der türkischen Familien fürchten sich dermaßen vorm österreichischen Staat und den in der Integrationsvereinbarung festgelegten Sprachtests, dass sie Angst haben, ihre Kinder könnten nicht schnell genug Deutsch lernen", erzählt Gabriele Lener.

Das bilinguale Italienisch-Modell läuft hingegen immer noch, auch wenn, wie Projektlehrerin Natalie Bartoli erzählt, nur wenige Kinder muttersprachlich Italienisch sprechen. Italienisch hat (zumindest in Wien) nicht den Status einer "GastarbeiterInnensprache".

Neue Impulse für den bilingualen Unterricht erhoffen sich die LehrerInnen aus dem seit vergangenem Schuljahr laufenden Projekt "Mama lernt Deutsch". Die VS-Vorgartenstraße ist einer von 75 Standorten, wo Mütter an den Schulen ihrer Kinder Deutsch lernen können. Trotz Anlaufschwierigkeiten zeigt das von der MA 17 gestartete Projekt, welche Möglichkeiten ein verstärkter Kontakt zu den Eltern bietet. Als zusätzliches Angebot zum Empowerment migrantischer Eltern planen die LehrerInnen ein "Kulturcafé" für Eltern einzurichten. Ein verbesserter Kontakt zu den Eltern könnte mittelfristig auch zur Wiederbelebung des bilingualen Unterrichts führen.

"Gesellschaft lässt sich sehr schwer durch Bildungspolitik verändern," gibt Gabriele Lener zu bedenken, es muss sich vor allem die soziale und ökonomische Situation der migrantischen Bevölkerung verbessern, wenn gesellschaftliche Integration stattfinden soll.


Anmerkungen:

(1) Informationsblätter des Referats für interkulturelles Lernen Nr. 3/2006 Spracherwerb in der Migration, verfasst von Dr. Rudolf de Cillia

(2) In erster Linie in Bosnisch/Kroatisch/Serbisch und Türkisch, aber auch vereinzelt in anderen Sprachen wie Albanisch, Polnisch, Ungarisch, Persisch oder Russisch.


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Quelle:
planet - Zeitung der Grünen Bildungswerkstatt # 50,
Oktober/November 2007, S.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2007