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SCHULE/419: Das klickende Klassenzimmmer (Leibniz-Journal)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 1/2015

Das klickende Klassenzimmmer

von Ricarda Breyton


eBook statt Schulbuch, Tablet statt Tafel: Digitale Unterrichtsmaterialien drängen weltweit ins Klassenzimmer. In Deutschland begleiten Wissenschaftler den Prozess, damit Schüler und Lehrer nicht im digitalen Chaos verloren gehen.

Im Chemiebuch der Zukunft tanzen die Moleküle. Sie sind rot und fünfeckig und schwirren durch einen Fahrradreifen. Wenn man den zusammenpresst oder auf eine Pumpe drückt, beginnen die roten Luftteilchen zu drängeln. Mit einem "Energie-Regler" kann man ihnen auch Feuer unterm Hintern machen. "Teilchen unter Druck" heißt dieses Kapitel des "eChemBooks". Das wurde für Tablets und Smartboards, also digitale Schultafeln, entwickelt. Und es ist der Anfang vom Ende des gedruckten Schulbuchs.

Der hat in Deutschland lange auf sich warten lassen. Spätestens seit die PISA-Studie 2005 festgestellt hat, dass Schüler mit Computern besser lernen, arbeiten Länder in den verschiedensten Teilen der Erde an der Digitalisierung ihrer Klassenzimmer. Finnland ist dabei, die Schreibschrift abzuschaffen und in den Niederlanden gibt es sogenannte iPad-Schulen, in denen Wissen ausschließlich über Apps vermittelt wird. In Südkorea sollen Stifte und Papier noch vor Ablauf dieses Jahres sogar komplett aus den Klassenzimmern verschwinden.


Neue Medien, neue Perspektiven

Hierzulande stecken große Teile des Schulwissens noch immer in gedruckten Büchern und in den Heften der Kinder. Dabei sind die Nachteile bekannt. Es ist nicht nur die Masse des Materials, die negativ ins Gewicht fällt. "Im Prinzip ist Schulbuchwissen immer veraltet", sagt Inga Niehaus vom Georg-Eckert-Institut - Leibniz-Institut für internationale Schulbuchforschung (GEI) in Braunschweig. "Für Fächer wie Politik, Geographie oder Gesellschaftslehre, die auf aktuelle Ereignisse eingehen müssen, ist das ein Riesenproblem." Ein Problem sei auch, dass Schulbücher immer nur eine begrenzte Auswahl an Quellen präsentieren. Digitale Medien bieten da mehr Möglichkeiten, zum Beispiel im Geschichtsunterricht. "Man kann Audiosequenzen aus Zeitzeugeninterviews einspielen oder historisches Filmmaterial zeigen", so die Forscherin.

Schon seit einiger Zeit gibt es am GEI das Projekt "Zwischentöne", das Lücken im klassischen Schulbuch füllt und dabei auf multimediale Unterrichtsmaterialien setzt.

Von der Online-Plattform können Lehrer Lerneinheiten herunterladen, die Themen aus Politik, Ethik, Religion und Geschichte aus einer neuen Perspektive beleuchten. Die 1920er Jahre etwa werden als Geschichte der Frauenbewegung in Deutschland, der Türkei und den arabischen Ländern erzählt. Diese Onlinemodule sind an den Lehrplan angedockt und sollen das gedruckte Schulbuch im Unterricht ersetzen.

Das eChemBook hingegen soll irgendwann nicht nur Bücher ersetzen, sondern auch Unterrichtshandlungen ergänzen. "Wir binden Videos von realen Experimenten ein", erklärt Katharina Scheiter vom Leibniz - Institut für Wissensmedien in Tübingen (IWM). Mit ihrem Team hat sie den Prototypen des Kapitels mit den tanzenden Teilchen erstellt. "In zwischen haben die Lehrer häufig keine Zeit mehr, jedes Experiment selber durchzuführen oder auch Angst, vor einer unruhigen Klasse mit Chemikalien zu hantieren", sagt die Psychologin. In solchen Situationen oder auch, wenn es darum geht, Inhalte zu wiederholen und Klausuren vorzubereiten, können die Videos ein sinnvolles Angebot sein. Ersetzen sollen sie die Durchführung eigener Experimente aber nicht. Im eChemBook findet sich deshalb zu jedem gezeigten Experiment eine Anleitung.


Nicht im digitalen Chaos versinken

Das digitale Buch soll in einem klassischen Verlag erscheinen und wird dort auch entwickelt. Die Forscher am IWM, die Leibniz Universität Hannover und das IT-Unternehmen Smart Technologies begleiten diesen Prozess jedoch intensiv. Das eChemBook soll so auch tatsächlich besser werden als herkömmliche Lehrmittel. Die Schüler sollen nicht im digitalen Chaos versinken. "Die Videos sind deshalb alle interaktiv, das heißt, man kann sie stoppen und an das eigene Lerntempo anpassen", erklärt Scheiter. Links zu weiterführenden Inhalten sind sparsam dosiert, denn zu viele Verweise stiften meist Verwirrung. Und auch dynamische Elemente wie die im Fahrradreifen tanzenden Luftteilchen kommen bewusst nur in wenigen Fällen zum Einsatz.

Noch ist die Schere groß zwischen den digitalen Möglichkeiten und der Realität im Klassenzimmer. Zwar gibt es an einigen Schulen inzwischen Notebook- und Tabletjahrgänge. Aber Scheiters Erfahrung zeigt, dass nicht alles besser wird, bloß weil auf einmal ein Computer im Klassenzimmer steht.


Digitales Potenzial nicht ausgeschöpft

Dass es im Gegenteil erst einmal ziemlich holprig zugehen kann, hat man am GEI herausgefunden. Seit 2012 begleiten dort Wissenschaftler wie Inga Niehaus die Einführung von Notebooks an drei Braunschweiger Schulen. Ihr Zwischenfazit am Ende der ersten Studie ist ernüchternd: Technische Schwierigkeiten machen Schülern wie Lehrern zu schaffen und rauben Unterrichtszeit. Ist das Notebook dann doch einmal im Einsatz, wird das Potenzial der digitalen Welt kaum ausgeschöpft. "Wenn überhaupt, haben Schüler wie Lehrer das Gerät genutzt, um Informationen aus dem Internet zusammenzutragen", sagt Niehaus. Gruppenarbeit habe dagegen nur selten stattgefunden, multimediale und interaktive Angebote wurden kaum in den Unterricht eingebunden.

Es ist die Unsicherheit, nicht mehr Herr der Lage zu sein, die manche Lehrer vor den digitalen Medien zurückschrecken lässt. "Und auch die Strukturen sind nicht ideal", erklärt Annekathrin Bock vom GEI, die im Rahmen einer Folgestudie den Geschichts-, Mathe-, und Englischunterricht einer Braunschweiger Notebook-Klasse verfolgt. Die Lehrer müssten einfach zu viele Schulstunden bespielen, und hätten kaum Zeit, den Unterricht mit digitalen Medien vorzubereiten. "Wer sich wie ein Hamster im Laufrad dreht, kann einfach nicht sagen: 'So jetzt hab' ich mal Lust, etwas komplett Neues zu machen.'"

Wenn sich ein Lehrer dennoch in die digitale Welt wagt, nimmt der Unterricht mitunter schnell neue Formen an. Bock hat Klassen erlebt, deren Schüler mithilfe der Laptops ganze Unterrichtseinheiten selbst organisierten. Die Lehrerin wurde zur beratenden Moderatorin. "Da war Platz für kooperatives und eigenverantwortliches Lernen", sagt Bock. "Kinder, die eher fertig wurden, lösten weitere Aufgaben oder wurden ermuntert, ihren Mitschülern zur Hand zu gehen."

Eine Lernumgebung, die direkt auf die Fähigkeiten der Schüler abgestimmt ist und ihnen auch Freiräume beim Lernen einräumt, hat es schon vor der Einführung des Laptops gegeben, an Montessori-Schulen etwa, aber auch an immer mehr Regelschulen. Digitale Geräte vereinfachen diesen Prozess, denn sie können dem Lehrer Tests und die Zuordnung passender Aufgaben abnehmen. "Das ist ein Szenario, das technisch schon jetzt realisierbar ist", sagt Scheiter. "Man braucht nur Firmen, die sich daran setzen."


EEG im Klassenzimmer

Am IWM gehen die Überlegungen sogar noch weiter. Was wäre, wenn man gar keine Tests mehr bräuchte, um herauszufinden, wo ein Schüler gerade steht? Könnte nicht automatisch erfasst werden, ob er sich bei einer Aufgabe langweilt - oder daran verzweifelt?

Die Tübinger Forscher basteln an so einer automatisierten Abfrage. Mit EEG-Messmethoden erfassen sie die Hirnstromaktivität von Versuchsteilnehmern und versuchen daraus abzuleiten, wie sie mit Aufgaben zurechtkommen. Und auch die Fingerbewegungen auf dem Tablet könnten Auskunft darüber geben, ob jemand gerade engagiert bei der Sache ist oder gedankenverloren durch die Aufgaben streicht. Wer früher geistesabwesend ins Schulbuch kritzelte, wurde im Zweifelsfall nicht bemerkt. In der Tablet-Klasse kommt er damit nicht mehr durch.

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Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 1/2015, Seite 24-26
Herausgeber: Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Mai 2015

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