AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2016
Ein Musikunterricht für alle
von Daniel Mark Eberhard
Die Etablierung eines inklusiven Bildungssystems und die damit verbundene Vision eines "Musikunterrichts für alle" stellt hohe Anforderungen an die Lehrerbildung, die Musiklehrenden und an das System Schule. Welche Aufgaben stehen an für gelebte Inklusion - speziell im Fach Musik?
Die aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit
Behinderungen aus dem Jahr 2006 und aus ihrer Ratifizierung in
Deutschland 2009 resultierende Forderung "Eine Schule für alle"
bedeutet konsequenterweise auch "Ein Musikunterricht für alle". Im
Sinne inklusiven Denkens und der damit verbundenen Wertschätzung von
Heterogenität wird darunter ein Musikunterricht verstanden, der die
Verschiedenartigkeit der Schüler als wertvolle und bereichernde
Potenziale und Chancen begreift.
Das Fach Musik kann im Zuge der aktuellen, grundständigen
Veränderungen schulischer Lernkulturen, -strukturen und -praktiken
mit dem Ziel einer "Pädagogik der Vielfalt" in besonderer Weise von
den Potenzialen der Beteiligten profitieren und gilt vielfach als
prädestiniert für inklusive Bildungprozesse. Der Wandlungsprozess von
einem integrativen Denken und Handeln zur Umsetzung des
Menschenrechts "Inklusion" bringt aber auch große Verunsicherungen
und Herausforderungen für die Lehrenden, den institutionalisierten
Musikunterricht und für das System "Schule" mit sich, die im
Wesentlichen auf einer jahrelangen Verschleppung des Diskurses und
einer völlig überstürzten Umsetzung andererseits zurück zu führen
sind.
Im Sinne des "Index für Inklusion", der 2003 von Tony Booth und Mel Ainscow in einer Urfassung veröffentlicht, zwischenzeitlich weiterentwickelt und von Andreas Hinz und Ines Boban für deutsche Verhältnisse übersetzt und adaptiert wurde, bedarf es eines grundlegenden, gesamtgesellschaftlichen und systemimmanenten Umdenkens hinsichtlich des Umgangs mit Diversität (Ebene der "Kulturen"). Gleichermaßen sind schulspezifische und fachspezifische Antworten auf Fragestellungen zu entwickeln, die sich im Rahmen der Gewährleistung barrierefreier, gleichberechtigter und individuell angepasster Bildungschancen für alle Menschen stellen (Ebenen der "Kulturen und Praktiken"). Erinnert sei diesbezüglich daran, dass sich die inklusive Sichtweise im Gegensatz zur integrativen dadurch auszeichnet, dass sich Menschen nicht an die jeweils vorfindlichen, häufig unflexiblen bis starren, Kulturen, Strukturen und Praktiken anzupassen haben, sondern eben diese für die individuellen Bedürfnisse jedes Einzelnen zugänglich gemacht werden müssen.
Da alle Menschen unabhängig von ihren Dispositionen erlebnisfähig sind und sowohl die unterschiedlichsten Erscheinungsformen von Musik(en) als auch das Schulfach Musik eine Vielzahl an Zugangsmöglichkeiten bieten, geht der Verfasser dieses Beitrags davon aus, dass grundsätzlich jeder Mensch im Sinne einer inklusiven schulischen Musikpädagogik erreicht werden kann. Dabei gilt es, verschiedene Formen von Diversität auf Basis eines breiten Inklusionsverständnisses kritisch in den Blick zu nehmen. Insbesondere bedarf es eines professionalisierten fachlichen und fachdidaktischen Umgangs mit denjenigen Diversitätsfaktoren, die eine einschlägige fachspezifische Relevanz haben. Dazu gehören im Fach Musik nicht nur unterschiedliche Formen von Behinderung, sondern auch besondere Lebensbedingungen durch Migration, Religion oder sozialen Status, unterschiedliche musikalische Vorerfahrungen, Alters- und Geschlechtsfragen oder der Aspekt "Hochbegabung". Als herausfordernd erweisen sich dabei zunächst die Besonderheiten des Faches, zu denen ästhetische Erfahrung und Emotionalität, die sehr enge Verbindung von Privatem und Unterricht, die rasante Dynamik des "Fachgegenstandes" Musik und eine von Natur aus gegebene starke Heterogenität der Schülervoraussetzungen (musikalische Interessen, Vorerfahrungen, Präferenzen, Musikbegriff, ästhetische und unterrichtsbezogene Meinungen, Einstellungen und Vorstellungen etc.) gehört
Die aktuellen Aufgaben der Musikpädagogik zum Umgang mit inklusiven Fragestellungen und Szenarien erweisen sich als vielfältig: Zum einen Bedarf es entsprechender fachübergreifender und fachspezifischer Grundlagenforschung im Hinblick auf die Forschungsfelder "Inklusive Schule", "Inklusive Pädagogik" und "Inklusiver Musikunterricht". Da die Forschung und Praxis hierzulande - im Gegensatz zu anderen Ländern, wie z.B. Italien, Frankreich, Schweden, Kanada - noch in den Kinderschuhen steckt und es aktuell dringend Antworten auf die politisch verordnete und an Schulen zu verwirklichende Inklusion bedarf, müssen zunächst auch ohne entsprechende Forschung Impulse für die Unterrichtspraxis entwickelt werden. In Bezug auf das Fach Musik bedeutet dies, dass sowohl Grundprinzipien einer inklusiven Pädagogik (individualisiertes, kooperatives, handlungsorientiertes, fächerverbindendes, inter-/transkulturelles, kreatives Lernen) als auch musikdidaktische Umgangsweisen für die veränderte Lehrerrolle, das Selbstverständnis des Faches, die Aspekte "Leistungsmessung" und "Feedbackkultur" sowie methodische und mediale Aspekte (z.B. im Hinblick auf die Erstellung von Arbeitsmaterialien und Unterstützungssystemen) neu überdacht und interpretiert werden müssen. Ein besonderes Potenzial stellt diesbezüglich der zunehmende Ausbau der Ganztagesschule dar, so dass sich künftig schulische und außerschulische Musikpädagogik in weitaus stärkerem Maße als bisher verschränken werden.
Im Bereich der Didaktik und Methodik sind Musiklehrer gefragt, die über inklusionsrelevante theoretische Kenntnisse sowie über ein reichhaltiges Handlungsrepertoire im Bereich der Musikvermittlung, das Klassenführung und des Sozialmanagements verfügen. Dies betrifft sämtliche musikalischen Umgangsweisen: Rezeption ("Musik hören"), Reflexion ("über Musik nachdenken/ Musik analysieren und notieren"), Reproduktion ("Musik machen"), Produktion ("Musik erfinden"), Transposition ("Musik umsetzen", z.B. in Bild, Bewegung). Konkret bedeutet dies, dass Lehrer z.B. über vertiefte Kenntnisse, Ideen und Erfahrungen im Bereich musikalischer (Gruppen-)Improvisation und vokaler/instrumentaler Praxis, über hohe Fähigkeiten der Differenzierung sowie der Anpassung und Weiterentwicklung von Instrumenten, über Kompetenzen im Bereich Ensemblemusizieren und -leitung, der Erstellung von Unterrichtsmaterialien oder der Messung und Bewertung von Schülerleistungen verfügen müssen.
Berührt werden mit der Reflexion eines inklusiven Musikunterrichts
aber nicht nur unmittelbar fachinhaltliche und fachdidaktische
Bereiche, sondern auch die Rahmenbedingungen des Musikunterrichts.
Ein inklusiver Musikunterricht bedarf eines geeigneten Raumes, etwa
in Bezug auf Größe, Raumausstattung, Ordnungs- bzw.
Orientierungssysteme (z.B. für Schüler mit Schwierigkeiten im
Hinblick auf die Raum-Lage-Beziehung und das Körperschema) sowie
einer dem Fach angemessenen Raumästhetik, einer reichhaltigen,
variabel einsetzbaren Ausstattung an Instrumenten, Unterrichts- und
Arbeitsmaterialien und ggf. audiovisueller Ergänzungen (z.B.
Brailleschriftlesegerät). Neben räumlichen Bedingungen bedarf es der
zeitlichen Flexibilisierung, damit sich Lehr-/Lernprozesse an die
Voraussetzungen der jeweiligen Zielgruppen anpassen können.
Zur Qualifizierung sind dabei sämtliche Ebenen der Lehrerbildung von
der hochschulischen, vorwiegend wissenschaftlich geprägten Ebene über
den damit verschränkten Vorbereitungsdienst und den Fort- und
Weiterbildungssektor. Die - auf auf hochschulischer Seite -
sukzessive zu entwickelnde Expertise umfasst in der Zielperspektive
für die Lehramtsausbildung v.a. ein vertieftes, forschungsbasiertes
fachliches und überfachliches, pädagogisches, sonderpädagogisches und
psychologisches Wissen, vertiefte fachdidaktische bzw.
künstlerischpädagogische Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten und
letztlich: ein breites Spektrum an Kreativität.
Eberhard, Daniel Mark / Höfer, Ulrike (2016): Inklusions-Material Musik. Klasse 5-10. Berlin: Cornelsen.
Eberhard, D. M. / Ruile A. M. (2013): "Each one teach one" - Inklusion und kulturelle Bildung im Kontext von Jugendszenen. Schriftenreihe des Interdisziplinären Forums Populärkultur der Universität Augsburg. Band 1. Marburg: Tectum.
Eberhard, D. M. (2012): Beiträge zur Sozialen Inklusion durch musikpädagogische Projektarbeit im Umgang mit Musik des 20./21.Jahrhunderts. In: Greuel, Thomas, Schilling-Sandvoß, Katharina (Hrsg.) (2012): Soziale Inklusion als künstlerische und musikpädagogische Herausforderung. Musik im Diskurs. Band 25. Herzogenrath: Shaker. p. 159-172.v
Prof. Dr. Daniel Mark Eberhard ist seit 2015 Inhaber der
Professur für Musikpädagogik und Musikdidaktik an der KU. Zu seinen
Arbeitsschwerpunkten gehören u.a. Heterogenität/Diversität und
Inklusion im Musikunterricht sowie die Didaktik der Populären Musik.
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Quelle:
AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2016, Seite 16-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Mai 2016
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