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FORSCHUNG/114: Die Gedankenleser (forsch - Uni Bonn)


forsch 4/2008 - November 2008
Bonner Universitäts-Nachrichten

Die Gedankenleser
Ein internationales Forscherteam will das Unmessbare messen

Von Frank Luerweg


Was empfindet ein Kunstliebhaber beim Betrachten der Mona Lisa? Ein internationales Forscherteam unter Bonner Beteiligung will mit ausgeklügelter Technik Emotionen "messbar" machen. Profitieren könnte davon auch die Medizin.


Katharina Roths Kopf ruht auf einer Kinnstütze. Ein schmales Metallband stabilisiert ihre Stirn. Frei beweglich sind lediglich ihre Augen. Sie fixieren den Flachbildschirm vor ihr, auf dem alle sechs Sekunden ein neues Foto aufleuchtet: Die Mündung einer Pistole. Ein Bügelbrett. Ein Liebespaar in inniger Umarmung. Eine mit Kotspuren verunreinigte Toilette.

Die Szene erinnert an den Roman Uhrwerk Orange. Dort wollte man die Hauptperson zu einem besseren Menschen erziehen, indem man sie zwang, sich Gewaltszenen aus Filmen anzusehen. Wer sich in dem schmucklosen Raum auf dem Bonner Venusberg die rund 80 Bilder zu Gemüte führt, tut dies jedoch freiwillig und im Dienste der Wissenschaft: Die Arbeitsgruppe um Professor Dr. Dr. Henrik Walter möchte herausfinden, mit welchen Emotionen Menschen auf bestimmte Bilder reagieren. Dabei verlassen sie sich nicht auf Selbstauskünfte: "Wir möchten Bewusstseinszustände objektiv messbar machen", erklärt Katharina Roth und beendet ihre Demonstration.

Zu diesem Zweck erfasst die junge Wissenschaftlerin unter anderem die Augenbewegungen ihrer Versuchspersonen: Zwei am Flachbildschirm befestigte Videokameras zeichnen jedes Zucken der Pupillen auf. Eine Software setzt das in Computerdaten um. Bei der Auswertung des Experiments lässt sich so beispielsweise in jedem Bild einblenden, welche Regionen der jeweilige Proband wann und wie lange angesehen hat.


Das Auge tänzelt wie ein Boxer

Die Augenbewegungen verraten Eingeweihten viel über die Empfindungen des Betrachters: Wir fixieren Dinge, die uns erschrecken - genau wie das sprichwörtliche Kaninchen die Schlange. So starren die Versuchspersonen die Pistolenmündung regelrecht an. Bei ekelerregenden Bildern tänzelt das Auge dagegen wie ein Boxer. Kontrollieren lässt sich das nicht. "Wenn wir mit einem neuen optischen Reiz konfrontiert werden, können wir die Bewegungen unserer Augen zumindest in den ersten zwei Sekunden danach nicht willkürlich steuern", sagt Katharina Roth.

Das Bonner Team ist eine von acht Arbeitsgruppen aus sechs Ländern, die mit Geldern der EU "das Unmessbare messen" möchten - so der Titel der entsprechenden Förderlinie im 6. EU-Rahmenprogramm. Das "Eyetracking" ist dabei nur eine Methode. "Wir erfassen zusätzlich Änderungen des Hautwiderstands", erklärt Professor Walter. "Außerdem machen wir im Magnetresonanz-Tomographen sichtbar, wie sich während des Experiments die Durchblutung in verschiedenen Hirnarealen ändert." Die anderen Projektpartner werten beispielsweise Hirnströme aus oder führen Verhaltensstudien durch. 2,5 Millionen Euro fließen in das Projekt, das von der Uni Dresden geleitet wird.

Dass Menschen herauszufinden versuchen, was ihr Gegenüber wirklich denkt und fühlt, ist nicht neu: So konstruierte ein gewisser Cesare Lombroso bereits 1895 ein Gerät, mit dem er Lügner entlarven wollte. Sein primitiver Lügendetektor erfasste Blutdruck und Pulsschwankungen der Testpersonen. Professor Walter erhofft sich vom EU-Projekt Percept Fortschritte auf einem ganz anderen Gebiet: "Wir wollen unter anderem die Diagnostik psychischer Erkrankungen verbessern", erklärt der Direktor der Abteilung für Medizinische Psychologie. Denn diese lassen sich mitunter nur grob voneinander abgrenzen. Doch vielleicht muss ein Spinnenphobiker, der beim Anblick der Gliedertiere vor allem mit Ekel reagiert, ganz anders behandelt werden als jemand, der in panische Angst verfällt.

Auch für die Beurteilung hirnchirurgischer Eingriffe sind die Ergebnisse von Percept von Bedeutung. So untersucht Walters Mitarbeiterin Ann-Katrin Herbold Patienten, denen im Rahmen einer Epilepsie-Therapie oder einer Tumorerkrankung die so genannte Amygdala entfernt wurde. Diese Hirnregion, auch Mandelkern genannt, ist wesentlich an der Entstehung von Angst und anderen negativen Emotionen beteiligt. "Die genauen Auswirkungen einer solchen Operation auf das Gefühlsleben von Epilepsie-Patienten wurden bislang aber kaum untersucht", betont Herbold. "Auch deshalb, weil sich Gefühle schlecht objektiv quantifizieren lassen."


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Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten Nr. 4, November 2008, Seite 20-21
Herausgeber:
Rektorat und Senat der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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forsch erscheint viermal pro Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Dezember 2008