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FORSCHUNG/161: Eltern-Kind-Bindung - Das emotionale Band (welt der frau)


welt der frau 7+8/2011 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Das emotionale Band

Von Erika Müller


Eine sichere Bindung zwischen Säugling und Eltern schützt vor diversen Widrigkeiten des späteren Lebens. Die Bindungsforschung boomt - und kann so manche Verletzung der Seele erklären.


Eine Szene in einem Haushalt mit Nachwuchs: Die Mutter steht am Wickeltisch, das Baby reckt ihr erwartungsvoll seine nackten Füßchen entgegen. Die Mutter führt beide an ihre Lippen, prustet auf die Sohlen. Das Baby gluckst beglückt und strahlt die Mutter an. Diese strahlt zurück, fragt, ob ihm das gefalle, prustet nochmals, das Baby jauchzt, rudert mit den Armen, scheint zu sagen: "Mehr, mehr", die Mutter lacht, wiederholt das Spiel. Eine Wonne für das Paar, eine Wonne, dabei zuzuschauen. KleinkindforscherInnen würden die Note "Eins" in Sachen Feinfühligkeit vergeben.

Feinfühlig zu sein heißt: die Signale des Babys wahrzunehmen, sie richtig zu interpretieren und angemessen und prompt zu reagieren. Feinfühligkeit ist ein Muss im Aufbau der Beziehung zum jungen Nachwuchs. Sie ermöglicht eine sichere Bindung, auf die der heute kleine Mensch morgen als großer in Krisen zurückgreifen kann. Bindung schützt und hilft, den Widrigkeiten des Lebens leichter zu widerstehen.

Anders bei folgendem Paar: Auch diese Mutter wickelt ihr Kind. Doch dies passiert mechanisch, ihr Gesichtsausdruck ist verschlossen. Das Baby liegt teilnahmslos, den Kopf von der Mutter abgewandt, den Blick an die Wand gerichtet. Es steckt die ganze Hand in den Mund - als wollte es sich festhalten, sich selber trösten. Wäre dies die Regel und nicht die Ausnahme, würden Warnlampen hier rot blinken. Verordnet würde wohl eine therapeutische Intervention, um den Bindungsaufbau zu unterstützen - und das sehr rasch. Denn das Zeitfenster ist klein: Ohne Hilfen stehen die Chancen für die weitere Entwicklung - die körperliche, intellektuelle und soziale - des Säuglings schlecht.


Geburt der Bindungstheorie

Es ist die Bindungstheorie, die das Augenmerk auf die Bedeutung der ersten Lebensmonate des Menschen lenkt. Sie entscheiden oft - aber nicht ausschließlich - darüber, wie sich die Persönlichkeit entwickelt, darüber, ob die Sozialisation gelingt. Sie lehrte uns, dass es ohne emotionale Zuwendung kein gesundes seelisches und kognitives Gedeihen des Kindes geben kann. Man erinnere sich an Bilder aus Waisenhäusern: Kinder, die mechanisch auf und ab wippen, den Kopf gegen den Boden schlagen. Ihre Pflegerinnen hatten sie zwar gefüttert, gewaschen, gewickelt. Im Arm gehalten, mit ihnen liebevoll gesprochen, Blickkontakt gesucht, das war nicht passiert - sie waren ihnen kein "sicherer Hafen".

Als Hospitalismus bezeichnete der Arzt und Psychoanalytiker René A. Spitz bereits um 1940 die horrenden Auswirkungen von emotionaler Vernachlässigung auf kleinkindliche Seelen. Zeitgleich arbeitete Anna Freud, die Tochter des Begründers der Psychoanalyse, in London mit Kriegswaisen. Aber erst mit John Bowlby wurden die Beobachtungen empirisch untermauert. Der britische Arzt und Psychoanalytiker gilt heute als der Vater der Bindungstheorie.

Bowlbys zentrale These: Das Bedürfnis von Kindern nach Bindung ist angeboren, Kinder brauchen die Bindungsperson zu ihrem Schutz. Bindung ist der Schlüssel für das seelische und geistige Überleben für den sonst so hilflosen Säugling. Erst wenn das Gefühl der Sicherheit durch die Anwesenheit der Bindungsperson, des "sicheren Hafens", gewährleistet ist, kann das Kind seine Umwelt erkunden, sich entfalten. Eine sichere Bindung ist gleichsam Basis für Neugierde und Freude am Lernen - im Zeitalter von miserablen Ergebnissen bei PISA-Studien ein nicht unwichtiger Faktor.


Teufelskreise ...

50 Jahre nach Bowlby kommen seine Nachfolger in Sachen Bindung in Wien zusammen. "Was Kinder überleben lässt. Der (Wirk)Faktor Liebe in der frühen Kindheit" heißt der Kongress, veranstaltet im Februar von der "Gesellschaft für seelische Gesundheit in der frühen Kindheit". Einer dieser Bindungsforscher ist Karl Heinz Brisch, sein Spezialgebiet die therapeutische Arbeit mit emotional gestörten Kindern und Jugendlichen, aber auch Erwachsenen. Deren Trauma reicht meist in die frühe Kindheit zurück, sie werden als desorganisiert gebunden bezeichnet. Im Gegensatz zu sicher gebundenen Kindern sind sie kaum empathiefähig, wenig stressresistent, noch weniger flexibel. "Sie zeigen mir", erzählt Brisch, "ihre Aggressionen offen, beschimpfen mich während der Therapiestunden wüst - oder aber sie sind verschlossen, emotional nicht erreichbar." Die Bindungsstörungen haben längst ihre Seelen verletzt. Die Gründe sind häufig in ihren selbst traumatisierten Eltern zu finden: Wie können diese einen Säugling emotional versorgen, wenn sie selber nie diese Erfahrung gemacht haben? Und ebenso wenig ihre Eltern vor ihnen.


... und Gespenster aus der Vergangenheit

Die Weitergabe dieser Bindungsunfähigkeit von einer Generation zur nächsten stellt eines der größten Probleme dar. Mechthild Papousek, Pionierin in Sachen Säuglings-Eltern-Therapie in Deutschland, betreut in der "Münchner Sprechstunde für Schreibabys" Elternpaare, deren "intuitive Elternschaft" beeinträchtigt ist. Oft durch "Gespenster" aus der Vergangenheit der Eltern, also unaufgearbeitete, unbewusste Konflikte und Traumata der eigenen Kindheit. "Es sind vor allem Risikogruppen, die uns Sorgen machen", sagt Papousek. Sie meint Menschen, die von Armut betroffen sind, sehr junge Eltern oder Familien mit einem psychisch kranken Elternteil. Die Risikokinder der Risikokinder der Risikokinder. Die Forschung zeigt hier: Längst nicht alle Risikokinder entwickeln sich ungünstig. Schutzfaktoren sind die Kompetenzen des Kindes sowie - einmal mehr - die positive Beziehung des Kindes zu seinen Eltern. Wo aber die Feinfühligkeit der Eltern eingeschränkt ist, stehen die Prognosen für ein gelungenes Leben schlecht.

Prävention heißt das Zauberwort, das diese Teufelskreise unterbrechen soll. Und zwar schon in der Schwangerschaft. Denn bereits das Ungeborene ist von der seelischen Befindlichkeit seiner Mutter geprägt. "Babys von Müttern mit Ängsten sind schon in der Gebärmutter schreckhafter. Sie leiden nach der Geburt häufiger an Ess-, Schrei- und Schlafstörungen", so Brisch. Schuld sind die Stresshormone der Mutter, die den Fötus im Mutterleib negativ prägen. Mit dem von ihm entwickelten Programm "SAFE" möchte Brisch die Bindung schon während der Schwangerschaft fördern. Eltern mit einer schwierigen Kindheit könnten so frühzeitig individuelle Hilfe erhalten, "damit sich ihre manchmal traumatischen Erfahrungen nicht mit ihrem Baby wiederholen", so Brisch.


Bindungshemmer Brutkasten

Szenenwechsel: Auf der Säuglingsintensivstation des Preyer'schen Kinderspitals in Wien liegen winzige Babys in ihren Brutkästen. In ihren kleinen Körpern stecken Schläuche, Monitore überwachen ihre Atmung. Manche liegen ruhig, andere zucken mit den Ärmchen, winden sich. Unter dramatischen Umständen gleich nach der Geburt von ihrer Mutter getrennt, fehlt ihnen jetzt der mütterliche Geruch, das Saugen an der Brust. Viele haben Schmerzen. Auch die Mutter fühlt sich meist leer. "In solchen Situationen schießt das Oxytocin ins Nichts", sagt Katharina Kruppa, Leiterin der Baby-Care-Ambulanz im Spital. Oxytocin ist das Hormon, das die Bindung der Mutter an ihr Kind verstärkt. In solchen Fällen Muss der Vater - sofern vorhanden - einspringen. "Der Vater wird zum Bindeglied zwischen Mutter und dem Säugling", erzählt Kruppa. Denn geht es der Mutter zu schlecht, um ihr Baby auf der Station zu besuchen, überbringt er die abgepumpte Muttermilch, kommt mit Fotos und Erzählungen vom Säugling zur Mutter zurück. Nicht ideal, aber besser als nichts. Kann die Mutter ihr Baby besuchen, wird ihr möglichst Gelegenheit zu Körperkontakt gegeben. Kangarooing heißt es, wenn die Eltern das nackte Baby auf ihre nackte Haut legen. Dennoch: Monitore, Schläuche und Brutkästen bringen Distanz zwischen Eltern und Kind. Frühgeburtlichkeit wird so zu einem Risikofaktor. Vor allem dann, wenn Krankenschwestern nicht unterstützend beim Bindungsaufbau eingreifen - oder Mütter als "Störfaktoren" auf der Station empfunden werden.


Psychologische Elternschaft vs. biologische

Egal ob Mutter, Vater, Oma, Opa oder Pflegeeltern: Der Säugling bindet sich an jene Person, die ihn feinfühlig versorgt. Deshalb steht außer Frage, dass Väter ebenso die "Mutterrolle" übernehmen können - wenn man sie nur lässt. Oder dass die psychologische Elternschaft vor der biologischen kommt - Blutsverwandtschaft spielt da keine Rolle. Besser sicher an die Pflegemutter gebunden als unsicher an die leibliche - aus Sicht der Kinder und der Bindungstheorie besteht darüber kein Zweifel.

Ab circa sieben Monaten beginnt das Baby mit dem Bindungsverhalten, es "fremdelt". Ab 18 Monaten hat sich die Bindung zu den engsten Bezugspersonen gefestigt. Je sicherer diese ist, desto eher bewältigen Kinder Krisen, die die Sozialisation mit sich bringt.

Beispielsweise die Eingewöhnung in der Krippe. Sie bedeutet einen für das Kleinkind ungeheuren Kraftakt, um die Trennung von Mama oder Papa anfänglich zu verkraften. Die Kleinen brauchen nun andere Bindungspersonen, die ihnen Halt geben. KindergartenpädagogInnen kommt dabei eine immens wichtige Rolle zu.


Keine Bildung ohne Bindung

"Auch ein kleines Kind kann", sagt Lieselotte Ahnert, "neben der Beziehung zu seiner Mutter weitere Beziehungen eingehen." Jakob ist gerade zwölf Monate alt. Es ist sein erster Tag, den er ohne Mutter in der Krippe verbringt. Er beginnt plötzlich zu weinen und schaut zur Tür, durch die seine Mutter entschwunden ist. Kurz darauf ist die Kindergärtnerin zur Stelle, hebt ihn hoch, tröstet ihn. Sein Weinen lässt nach: Die Erzieherin hat feinfühlig reagiert, Stress reduziert und Sicherheit gegeben. "Sie ist zu einer zusätzlichen Bindungsfigur geworden", sagt Ahnert, Bindungsforscherin an der Uni Wien. Denn auch in der Krippe können sichere Bindungen zwischen Erzieherin und Kind entstehen - und sind wegweisend für die späteren schulischen Leistungen.

So kommt Ahnert in einer Studie zum Schluss, dass Lernfreude und -motivation von Erstklässlern eng mit ihren Bindungserfahrungen verwoben sind. "Eine sichere Mutter-Kind-Beziehung wirkt auf die Selbstmotivierung der Kinder, die Erzieherinnen-Kind-Bindung ist bedeutsam für die allgemeine Motivation." Wobei die Mutter in erster Linie Sicherheit gibt und die Erzieherin beim Explorieren unterstützt.

Das wenig überraschende Ergebnis: Die sicher gebundenen Kinder brachten am Ende der ersten Klasse bessere Noten nach Hause. Aufklärung über die Bedeutung von Bindung könnte helfen, den Frühförderwahn, dem so manche Eltern erliegen, zu stoppen. Feinfühligkeit und Achtsamkeit statt Englischkurse für Einjährige oder naturwissenschaftliche Experimente für Dreijährige?


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Juli+August 2011, Seite 26-29
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. August 2011