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FRAGEN/029: 22. Berliner Kolloquium - Internet und seelische Gesundheit (idw)


Daimler und Benz Stiftung - 24.04.2018

22. Berliner Kolloquium: Internet und seelische Gesundheit

Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung am 25. April 2018


Internet und seelische Gesundheit - Forschung jenseits von Technikangst und Bedenkenlosigkeit

Ein Interview mit Prof. Dr. Tobias Matzner

Internettechnologien durchdringen unseren Alltag in allen Lebensbereichen. Dies wirkt sich auf unser psychisches Befinden aus. Aber was bedeutet das für den Einzelnen und welche Konsequenzen ergeben sich für moderne Gesellschaften? Besteht Handlungsbedarf - und falls ja, für welche Akteure? Beim 22. Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung diskutieren Forscher und Denker über den Umgang mit technischem Fortschritt in einer schnelllebigen Zeit und erörtern die Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft. Wissenschaftliche Leiter der Veranstaltung sind der Mediziner Jan Kalbitzer, der Kommunikationswissenschaftler Thorsten Quandt und der Medienethiker Tobias Matzner.

Stiftung: Herr Prof. Matzner, welche gesellschaftliche Rolle nehmen Internettechnologien gegenwärtig ein? Weshalb ist "Internet und Psyche" überhaupt ein Thema?

Matzner: Vernetzte Technologien durchdringen inzwischen unser gesamtes Leben. Es gibt Bereiche, in denen wir nicht mehr entscheiden können, ob wir sie nutzen wollen oder nicht. Deshalb sind wir gezwungen, uns damit auseinanderzusetzen. Das Internet der Dinge wird darüber hinaus vollkommen neue Anforderungen an uns stellen: Es ist ununterbrochen präsent, wirkt im Hintergrund und erzeugt unwillkürlich Verunsicherung.

Stiftung: Der Mensch musste sich seit jeher mit neuen Entwicklungen und Techniken auseinandersetzen. Was unterscheidet heute von gestern?

Matzner: Surfen im Internet oder die Nutzung sozialer Medien sind neue und sich extrem schnell entwickelnde Technologien, die den Alltag enorm verändern. Dazu kommt, dass der Umgang mit digitalen Medien sich in der Art, dem Umfang und der Geschwindigkeit von Mensch zu Mensch stark unterscheidet. Manche Technologien gibt es erst wenige Jahre, sodass wir als Gesellschaft noch keine Regeln und Gewohnheiten im Umgang mit ihnen entwickeln konnten. Es fehlt an Orientierung und hier kommt die Psychologie ins Spiel. Im Vergleich dazu verlief zum Beispiel die Einführung des Fernsehens innerhalb der Gesellschaft sehr viel gleichmäßiger.

Stiftung: Bestehen Ähnlichkeiten mit der Industrialisierung und ihren psychologischen Folgeerscheinungen um die Jahrhundertwende? Können wir daraus etwas lernen?

Matzner: Das ist schwer abzuschätzen, weil wir uns noch mitten in der Digitalisierung befinden. Damals hatten viele Menschen Angst vor den Fabriken, der Dampfmaschine oder der Eisenbahn. Rückblickend waren manche Sorgen berechtigt, andere überzogen. Technik und Gesellschaft beeinflussen sich gegenseitig, es ist ein komplexes Zusammenspiel. Unser Ziel sollte es sein, einen ausgewogenen und zufriedenstellenden Umgang mit den neuen Technologien zu finden. Eine gesellschaftliche Diskussion, die diesen Umgang polarisierend als "gesund" oder "krank" einstuft, halte ich für problematisch.

Stiftung: Wie objektiv ist die gegenwärtige Diskussion? Gibt es einen Medienhype?

Matzner: Tatsächlich gibt es viele Diskussionsebenen aufgrund der bereits angesprochenen Ungleichheit, mit der die Digitalisierung unsere Gesellschaft durchdringt - von Weltverbesserung bis hin zu moralischer Panikmache. Am differenziertesten ist vielleicht der Diskurs zum Thema Datenschutz und Privatsphäre, weil hier an bestehende Probleme und Debatten angeknüpft werden konnte. Problematisch sehe ich besonders die Erwartung, schnelle Antworten darauf haben zu wollen, wann es sich um eine gute Mediennutzung handelt und wann nicht. Stattdessen müssen erst einmal die richtigen Fragen gestellt werden.

Stiftung: Welche psychologischen Auswirkungen für Individuen sind zu erwarten? Welches Nutzerverhalten kann als kritisch und welches als förderlich erachtet werden?

Matzner: Darauf kann es keine eindeutige Antwort geben, weil die Bewertungskriterien kontextabhängig sind. Derzeit findet ein gesellschaftlicher Aushandlungsprozess statt, wobei für jeden Menschen der unterschiedliche Bildungshintergrund, die soziale Herkunft, die ökonomische Situation und auch die Erfahrungen mit digitalen Medien zu berücksichtigen sind. Hilfreich wäre, wenn Menschen eine offene, aber kritische Haltung einnähmen und sich eigene Urteile zutrauen, statt einfache und schnelle Antworten aus der Psychologie zu erwarten. Sobald aber das persönliche Wohlbefinden beeinträchtigt ist, muss etwas unternommen werden.

Stiftung: Betrifft die Thematik "Internet und seelische Gesundheit" alle Menschen rund um den Globus?

Matzner: Wir forschen vor allem mit einer europäischen bzw. nordatlantischen Brille. In anderen Gesellschaften unterscheiden sich die sozialen Strukturen und technischen Bedingungen erheblich. In Afrika beispielsweise haben manche Regionen den Entwicklungsschritt des Festnetztelefons komplett übersprungen, sodass die Digitalisierung dort also auf andere Voraussetzungen und Probleme trifft.

Stiftung: Gemeinsam mit Ihren Kollegen sagen Sie, dass die psychiatrische Forschung der technologischen Entwicklung lange Zeit hinterherhing. Hat die Psychologie als Wissenschaft versagt?

Matzner: Es ist schwer, für ein ganzes Fach zu sprechen - an unserem Forschungsprojekt sind ja auch Psychologen beteiligt. Allerdings hatte die Psychologie stellenweise sehr schnelle Antworten parat, statt erst einmal mehr zu einem besseren Verständnis der Thematik beizutragen. Es ist wichtig, ausführlich mit Menschen zu sprechen und die Problemstellungen im Umgang mit neuen Medien in Einzelfallstudien herauszuarbeiten.

Stiftung: Genügt die psychologische Betrachtung überhaupt oder müssten andere Wissenschaften einbezogen werden?

Matzner: Psychologisches Wissen ist in diesem Zusammenhang von grundlegender Bedeutung. Gleichzeitig sind aber auch Kommunikationswissenschaftler, Medienethiker und Philosophen gefordert, um die umfassende Thematik einzuordnen und die anstehenden Probleme zu lösen. Dies können Informatik und Technikwissenschaften allein nicht leisten.

Stiftung: Für welche Akteure besteht derzeit Handlungsbedarf?

Matzner: Die Politik ist beispielsweise gefragt, Technologien für Kinder entsprechend zu regulieren. Man kann nicht erwarten, dass Eltern und Kinder alle Probleme alleine lösen. Auch bei der Digitalisierung in Schulen ist dafür zu sorgen, dass das Marktangebot privater Firmen nicht in die Klassenzimmer getragen wird. Gleichzeitig ist das Erlernen von Medienkompetenz in allen Altersklassen notwendig - ob in Schulen, Universitäten oder anderen Bildungseinrichtungen. Bei alldem ist stets zu berücksichtigen, dass wir Menschen nicht nur rationale Wesen sind und die sozialen Medien viele Emotionen hervorrufen: Wir flirten über sie, wir trennen uns mit ihrer Hilfe, aber sie halten auch Freundschaften und Familien zusammen.

Stiftung: Was kann das Individuum für sich und sein direktes Umfeld tun?

Matzner: Jeder Einzelne kann seinen Blick öffnen und versuchen, sich ein Urteil zu bilden. Auch in persönlichen Experimenten kann man viel über sich selbst lernen: Wie geht es mir bzw. was verändert sich, wenn ich meine Handynutzung steigere oder das Gerät für ein paar Tage beiseite lege? Ist der Umgang mit der Technik das eigentliche Problem oder kristallisiert es sich lediglich daran? Im Zweifel ist es natürlich stets sinnvoll, sich psychologische Unterstützung zu suchen.

Stiftung: Weshalb interessieren Sie sich persönlich für dieses Forschungsfeld?

Matzner: Ursprünglich komme ich aus der Informatik. Allerdings bemerkte ich schnell, dass Probleme mit der Technik nicht technisch gelöst werden können. Es ist notwendig, Normen und Werte zu verstehen - und so gelangte ich zur Technikphilosophie und dann zur Medienethik. Neue Technologien stellen einerseits gesellschaftliche Gestaltungsfaktoren mit enormem Potenzial dar, andererseits sind sie aber auch problembehaftet. Ich möchte dazu beitragen, diesen Zwiespalt zu erforschen und vielleicht sogar ein Stück weit aufzulösen.

Stiftung: Welche Zielsetzung verfolgen Sie gemeinsam mit Dr. Kalbitzer und Prof. Quandt als wissenschaftliche Leiter des Berliner Kolloquiums der Daimler und Benz Stiftung?

Matzner: Wir starteten mit einem durch die Daimler und Benz Stiftung geförderten Forschungsprojekt, weil es eine Vielzahl neuer Fragen im Bereich "Internet und seelische Gesundheit" gab, die jedoch nicht allein mithilfe der Psychologie bearbeitet werden können. Im interdisziplinären Team trägt nun jeder aus seinem Fachbereich bei. Darüber hinaus wollten wir den Diskurs mit der Öffentlichkeit suchen und hierfür bietet sich das Format des Berliner Kolloquiums an. Unser Ziel ist es, ein neues Bewusstsein für das Thema "Internet und seelische Gesundheit" zu schaffen.


Berliner Kolloquium
Experten aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik treffen sich einmal im Jahr zum Berliner Kolloquium. Die fachübergreifenden Themen dieser Veranstaltungsreihe wechseln jährlich und werden vor dem Hintergrund des Spannungsfelds Mensch, Umwelt und Technik behandelt. Seit 20 Jahren ist das Berliner Kolloquium der Daimler und Benz Stiftung fest etabliert und zählt zu den gefragten wissenschaftlichen Veranstaltungen der Hauptstadt.

Daimler und Benz Stiftung
Impulse für Wissen - die Daimler und Benz Stiftung verstärkt Prozesse der Wissensgenerierung. Ihr Fokus richtet sich dabei auf die Förderung junger Wissenschaftler, fachübergreifende Kooperationen sowie Forschungsprojekte aus sämtlichen wissenschaftlichen Disziplinen. Die operativ tätige und gemeinnützige Stiftung zählt zu den großen wissenschaftsfördernden Stiftungen Deutschlands.

Weitere Informationen unter:
www.daimler-benz-stiftung.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution671

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Daimler und Benz Stiftung, Dr. Johannes Schnurr, 24.04.2018
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 26. April 2018

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