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JUGEND/078: Reise aus der Krise (welt der frau)


welt der frau 9/2008 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Reise aus der Krise

Von Jutta Berger


Manchmal geht nichts mehr zwischen Mutter und Tochter. Ein Weg aus der Krise führt über sozialpädagogische Auslandsaufenthalte. Reisen helfen Jugendlichen in schweren Krisen, bei sich selbst anzukommen.


Gabi und Jill Laner sitzen lachend am Tisch. Erzählen konzentriert, keine unterbricht die andere. Sie reden über ihre große Krise, ehrlich, ungeschminkt und voll Respekt füreinander. Das war nicht immer so. Mit 16, da habe sie beschlossen, "aus der Normalität auszubrechen", erzählt Jill, heute 18 Jahre alt. Sie tauschte Schule und schönes Einfamilienhaus mit Straße und Jugendzentrum. Gemeinsam mit der jüngeren Schwester machte sie auf Totalverweigerung, daheim, in der Schule.

"Wir waren die Hip-Hop-Girlies der Gangstercrew", meint sie lachend über die frühere Jill und schüttelt den Kopf, "das klingt voll nach Klischee, aber so waren wir drauf." Keinen Respekt hatten sie vor Menschen und Sachen, sagt Jill. "Jeden Scheiß" der Clique habe sie mitgemacht. Gabi, die Mutter, kam nicht mehr an ihre Mädel ran. Jill: "Die Mama hatte es zusätzlich schwierig, weil wir zu zweit waren." Gabi Laner: "Da hast du keinen Meter mehr." Frau Laner hatte keine Scheu, Hilfe zu holen, "obwohl mich einige gewarnt haben, man würde mir dann die Kinder wegnehmen". Sie ging zum Jugendamt, zum Institut für Sozialdienste.


Therapie durch Auszeit

"Die Hälfte aller JIP-Jugendlichen sind SchulverweigerInnen", sagt Martina Gasser. Die Vorarlberger Psychotherapeutin entwickelte vor zehn Jahren das Jugendintensivprogramm JIP des Instituts für Sozialdienste, ein Therapieangebot, das dort ansetzt, "wo andere Interventionen nicht mehr greifen", geschaffen aus der Erkenntnis, "dass unser Helfersystem massiven Verhaltensauffälligkeiten gegenüber hilflos ist".

Pro Jahr gehen zwölf Jugendliche, zugewiesen von der Jugendwohlfahrt, für zehn Wochen zu zweit auf Auszeit, begleitet von einer/einem speziell geschulten BetreuerIn. Weit weg von westlicher Konsumwelt, FreundInnen und Familie suchen die Jugendlichen nach (Aus-) Wegen. Das zehnwöchige Auslandsprogramm beginnt mit einer Trekkingtour, ist aber mehr als Erlebnispädagogik, denn anschließend muss in Sozialprojekten mitgeholfen werden.

"Am Anfang wurden wir auf dem riesigen Bauernhof in Polen überhaupt nicht akzeptiert", erzählt Jill. "Wir haben dann aber begriffen, dass wir auf die Leute überheblich wirken, unser Verhalten ändern müssen." Anpacken habe sie gelernt, sagt die junge Frau: "Um sechs Uhr morgens aufstehen, stundenlang auf den Knien jäten oder vier Stunden lang Kartoffeln schälen, ohne Kartoffelschäler, nur mit einem kleinen Messer - das waren neue Erlebnisse." Gabi Laner staunt heute noch: "Daheim hat sie bei jedem Handgriff gebockt."


Fremdsein als Erfahrung

Zielländer des JIP sind Polen, Rumänien Tschechien oder Indien. Die meisten Teilnehmenden haben massive familiäre Probleme, Drogenerfahrung, keinen Job, manche wurde durch kleinere Eigentums- oder Gewaltdelikte auffällig, andere kommen aus der rechtsextremen Szene. Gerade für diese Jugendlichen sei der Auslandstrip eine besondere Erfahrung, sagt die Pädagogin Steffanie Baasch, die viermal Jugendliche nach Indien und Tschechien begleitete: "Rechtsextreme Jugendliche erleben, was es bedeutet, Fremder, Ausländer zu sein." Es gehe ihr nicht darum, jemanden "umzukrempeln, sondern einen Anstoß zu geben, die eigene Meinung zu hinterfragen".

Eine JIP-Tour ist kein "Pfadilager". Steffanie Baasch: "Die Anfangsphase kann ganz schön schwierig sein. Die Jugendlichen testen aus, wie weit sie gehen können." Jill über die erste Begegnung mit ihrer Betreuerin: "Die war so klein und zart, da haben wir uns gedacht, dass wir die ganz leicht in den Sack stecken können. War aber nicht so, die hat Gas gegeben."


Verstehen ist mehr als Grenzen setzen

Mit Bootcamps, wie sie konservative PolitikerInnen gerne hätten, ist das Jugendintensivprogramm nicht vergleichbar. Steffanie Baasch: "In Bootcamps werden nur Grenzen gesetzt, man hinterfragt nicht, warum es einem Jugendlichen so schwerfällt, sich an Regeln zu halten." Das JIP ermögliche individuelle Betreuungsformen. Es gehe ihr darum, den Jugendlichen, die oft unter unverarbeiteten Gewalt- oder Verlusterlebnissen leiden, zu vermitteln, "dass da jemand ist, der versucht, sie zu verstehen".

130 Jugendliche, davon etwas mehr als die Hälfte Mädchen, wurden seit August 1997 im JIP betreut. Der überwiegende Teil davon mit sicht- und spürbarem Erfolg für Jugendliche und Eltern. In nur acht Fällen wurden die Betreuungsziele nicht erreicht. Wesentlich für den Erfolg ist das Eltern-Coaching. Während die Jugendlichen auf der großen Reise sind, wird intensiv mit den Eltern in Gruppen- und Einzelsitzungen gearbeitet. Martina Gasser: "Die Jugendlichen kommen verändert zurück, sie brauchen auch ein verändertes Umfeld." 88 der Jugendlichen kehrten nach dem Auslandsprogramm in die Familie zurück. Um den Neubeginn zu erleichtern, Kinder und Eltern vor den gegenseitig hohen Erwartungen zu schützen, bietet JIP nach der Reise weitere zehn Wochen Trainingswohnungen an.


Weg mit Stolpersteinen

Jill schaffte die Kurve nach dem Polenaufenthalt und begann eine Maurerlehre. "Nach einem Jahr hatte ich wieder einen Aushänger, hab die Lehre geschmissen." Die Reue kam zu spät, der Lehrherr wollte keinen zweiten Versuch. Heute arbeitet Jill, mittlerweile Mutter einer 13 Monate alten Tochter, als Köchin. "Nach vier Jahren Praxis kann ich über das WIFI den Abschluss machen. Und den mach ich auch." Natürlich sei es nicht so, dass die Kids "geläutert" zurückkommen, sagt Gabi Laner. Aber: "Die Qualität ist so intensiv, dass es nach Jahren noch nachwirkt. Ich glaube, man kann den Wert für das spätere Leben gar nicht abschätzen. "

"Friede, Freude, Eierkuchen" herrsche auch nach der JIP-Erfahrung nicht, sagt Jills Mutter Gabi, "aber man kann im Gegensatz zu früher miteinander reden". Die Grundlagen dafür lerne man beim Eltern-Coaching. Gabi Laner: "Ich bin zwei Jahre lang zu den Elterntreffen gegangen. Oft haben wir uns dort gefragt, warum der Kreis so klein ist." Frau Laners Antwort: "Die meisten holen sich keine Hilfe, obwohl sie nötig wäre." Und noch eine Erkenntnis hat Gabi Laner, die vierfache Mutter, aus der Krisensituation gewonnen: "Ich hab gelernt, dass ich auch auf mich selbst achten muss."


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Was ist das Jugendintensivprogramm?

Das Jugendintensivprogramm (JIP) ist Einzelfallhilfe für Jugendliche von 12 bis 18 Jahren, die spezifische Hilfe bei der Entwicklung und/oder in schweren Krisen brauchen.
Die drei Säulen von JIP sind: Beziehungsarbeit, systemische Arbeit, Auslandsaufenthalt.
Dauer: Vorbereitung zu Hause - drei Wochen; Auslandsaufenthalt - zehn Wochen, davon vier Wochen Arbeitsprojekt; Neuorientierung nach der Rückkehr - sieben bis zehn Wochen.
Ziele: Durchhaltevermögen, Selbstwertsteigerung, Eigenverantwortung, Starthilfe, Training im Arbeitsprozess, Bewältigung psychisch-emotionaler Krisen, neuer Umgang im (Familien-)System.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 9/2008, Seite 12-14
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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Die "welt der frau" erscheint monatlich.
Jahresabonnement: 29,- Euro (inkl. Mwst.)
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Kurzabo für NeueinsteigerInnen: 6 Ausgaben 8,70 Euro
Einzelpreis: 2,42 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. September 2008