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RATGEBER/052: Stopp - Hier ist meine Grenze! (welt der frau)


welt der frau 6/2009 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Stopp: Hier ist meine Grenze!

Von Christina Repolust


Gefahren einschätzen, Angreifer abwehren, sich der eigenen Kraft bewusst werden: Auch für Frauen über 60 machen Selbstverteidigungskurse Sinn.


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Krimis zeigen sie als hilflose, schwache Opfer, die zu gruseliger Filmmusik beraubt, niedergeschlagen oder sogar getötet werden. Diese Medienerfahrungen prägen - nicht nur - Frauen der Generation 60+. "Ich bin ja mit meinen 70 Jahren wirklich nicht mehr so fit wie noch vor zehn Jahren, aber ich will nicht daheim bleiben müssen, nur weil mich der Mut verlassen hat", zieht jene Dame Bilanz, die mit ihrem Rollator gerade ins Theater kommt.


Angst im Alltag

Theatervorstellungen, Kinobesuche, Treffen mit FreundInnen sind in jedem Alter Bereicherungen im Alltag. Doch körperliche Beeinträchtigungen durch künstliche Gelenke, Osteoporose, starke Fehlsichtigkeit und Kreislaufschwankungen lassen viele Frauen das Risiko des Auf-die-Straße-Gehens nicht mehr eingehen. "Dagegen trete ich mit meinen Selbstverteidigungskursen für Frauen 60+ energisch an. Ich ermutige die Teilnehmerinnen, ihr Leben so zu gestalten, dass es ihnen möglichst gut geht. Dazu gehören auch soziale Kontakte außerhalb der eigenen vier Wände. Sobald die Teilnehmerinnen die Kraft des Schreiens und des klaren Neins im Kurs erfahren, öffnen sich im wahrsten Sinne unzählige Türen für sie", sagt die Salzburger Künstlerin, Kabarettistin, Schauspielerin und Trainerin Gabriele Weinberger.

Ihre Selbstverteidigungskurse sind gerade bei Frauen über 60 am Beginn zumeist geprägt von starker Unsicherheit der Teilnehmerinnen: Was wird die Kursleiterin wohl von uns verlangen? Erfüllen wir ihre Erwartungen? "In den ersten Halbtagen erfahren wir viel voneinander. In den Frauen wächst das Gefühl, dass ihre Empfindungen normal sind, sein dürfen, dass sie sehr wohl Grenzen haben und diese auch verteidigen sollen", fasst Gabriele Weinberger zusammen. Für sie ist das Ziel die Steigerung von Lebensqualität - unabhängig vom Alter. "Die Generation der Frauen über 60 wurde überwiegend dazu erzogen, die Wünsche der anderen vor die eigenen zu stellen, stillzuhalten, bei verbalen Übergriffen höflich zu lächeln, mit zusammengebissenen Zähnen Haltung zu bewahren. Dieser Druck nimmt im Laufe unseres Kurses ab, die Teilnehmerinnen beginnen sich zu verabreden und entscheiden dann, ob sie ein Taxi nehmen, allein mit dem Bus fahren oder zu Fuß nach Hause gehen, auch wenn es schon finster ist."


Lächeln einstellen und handeln

Frauen lächeln lange, häufig zu lange über schlechte Witze und über andere Formen verbaler Übergriffe. "Schluss mit Lächeln. Stellen Sie das verbindliche Lächeln ein!", so der Impuls der Trainerin. "Vielen Frauen fällt es ungemein schwer, nicht freundlich zu lächeln. Aber: Verhaltensänderungen sind niemals schmerzfrei zu haben. Wir müssen uns immer wieder, in jeder Lebens- und Altersphase, neu einstellen, Abschied nehmen." Gabriele Weinberger arbeitet in ihren Kursen stärkend: "Ich ermuntere die Frauen dazu, zu sehen, was sie bereits in ihrem Leben geschafft haben." So kann eine Teilnehmerin den Satz "Ich bin gut genug" als Geschenk mit nach Hause in die kriselnde Beziehung in der Familie nehmen. "Selbstverteidigung ist eine Haltung. Wenn ich mir etwas zutraue, dann drücke ich das mit meiner Körperhaltung, mit meiner Stimme aus: Von der Stimmübung bis zum abschließenden Zertreten oder Zerschlagen eines Holzbretts begleite ich die Frauen. Jede bestimmt ihr Tempo und ihren Aktionsradius selber."


Auf Plan B zurückgreifen

Die Teilnehmerinnen wissen bereits nach wenigen Kursstunden, dass Mut zu haben nicht bedeutet, sich selbst in Gefahr zu bringen. "Wir trainieren hier, Gefahrensituationen zu erkennen und richtig einzuschätzen: Wer vernünftig reagiert, ist noch lange kein Feigling", sind sich die Frauen einig. Gabriele Weinberger: "In meinen Kursen zeige ich den Teilnehmerinnen die Möglichkeiten auf, die sie haben. Passt heute Plan A oder besser doch Strategie C? Plan A kann für die richtig frechen Tage gut passen und C für jene Momente, in denen frau gerade noch kann", beschreibt die Trainerin die Bandbreite der Handlungsmöglichkeiten. Selbstbehauptung, Selbstbewusstsein und Selbstverteidigung gehören zusammen. Konfrontation passt nicht immer, wenn sie aber sein muss, dann gibt es kein Zurück mehr - so die Philosophie.


In die Flucht schlagen

Die Kraft des Schreiens hat die 67-Jährige Dietrun Zagel am eigenen Leib erlebt. Sie hat 2002 einen Selbstverteidigungskurs bei Gabriele Weinberger besucht. "Gleich am Wochenende drauf sind mein Mann und ich mit unseren Freunden nach Mexiko geflogen. Und dort habe ich das Erlernte umgesetzt. Nicht vom Kopf ging dieser Impuls aus, sondern von den Schreien meines Mannes während eines beschaulichen Ausflugs. Seine Rufe 'Schleich dich, geh weg, schleich dich!' galten einem jungen Mann, der mit seinem Messer den Rucksack meines Mannes aufschlitzen wollte. Weit und breit waren nur wir vier Touristen und der Angreifer, ein weiterer stand Schmiere." Noch sieben Jahre später wird die damalige Wut spürbar: "Ich bin förmlich von einer Urgewalt erfasst worden, bin auf den jungen Mann losgestürmt - vorbei an den Freunden - und habe laut 'Zurück, zurück' sowie 'Polizia! Bandito! Polizia!' gerufen." Beim Erzählen hat Dietrun Zagel erneut die Fäuste geballt - dass sie den jungen Räuber allein mit ihrer Körperhaltung und Stimme in die Flucht geschlagen hat, ist plötzlich sehr verständlich. Die Grenzziehung ist in der Körperspannung, im Blick, in der gesamten Person deutlich und unmissverständlich zu spüren. "Meine Generation ist ja gar nicht zum Schreien erzogen worden. Wir brauchen diese Kurse, so wie sie Frauen jeden Alters besuchen sollten." Dietrun Zagel macht immer wieder Auffrischungskurse: "Auch wenn ich mich nie besonders fürchtete, bin ich aufgrund der Kurse doch auch wachsamer geworden, ich schau mir mein Umfeld heute bewusster an."

Im Kurs lernen die Frauen unter anderem, ein Holzbrett zu zertreten oder zu zerschlagen. Gabriele Weinberger freut sich mit allen, denen das gelingt: "Hier wird die Kraft der Frauen sichtbar und für die Einzelne auch unwiderruflich spürbar."


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 6/2009, Seite 50-51
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Juli 2009