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RATGEBER/054: Liebe verleiht Flügel (welt der frau)


welt der frau 10/2009 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Liebe verleiht Flügel

Von Christina Repolust


Woran orientieren wir uns, wenn wir Entscheidungen treffen? Der Entwicklungsbiologe und Hirnforscher Gerald Hüther meint, es sind unsere inneren Bilder. Sie motivieren uns, unser Gehirn so zu nutzen, dass wir unser Ziel erreichen.


Innere Bilder sind im Gehirn herausgebildete Muster der Vernetzung von Nervenzellen. Sie sind es, die bestimmen, wie und wofür Menschen ihr Gehirn benutzen. Sie sind die Summe aller Vorstellungen, die Menschen in sich tragen und die ihr Fühlen, Denken und Handeln bestimmen. »Visionen können das Gehirn, die Menschen und schließlich die Welt verändern«, mit diesen Worten motiviert Gerald Hüther Menschen dazu, ihre innere Bildersammlung - das Destillat aller Erlebnisse und Erfahrungen - regelmäßig zu aktualisieren. Denn es sind die inneren Bilder, die in Form bestimmter Vorstellungen und Einstellungen maßgeblich darüber bestimmen, wie und wofür Menschen ihr Gehirn benutzen.


WELT DER FRAU: Was bewirken innere Bilder - in den einzelnen Menschen, in einer Gesellschaft?

GERALD HÜTHER: Menschen haben Visionen und Ideen von dem, was sie sind, was sie erstrebenswert finden, was sie einmal erreichen wollen. Diese Visionen haben eine enorme Kraft, sie können sich ausbreiten und zu Visionen und Leitbildern einer Gesellschaft werden. So gesehen ist Barack Obama mit seinen Visionen von »Change« und »Yes, we can« zur richtigen Zeit bei den richtigen Menschen angekommen. Er hat Gleichgesinnte erreicht, Barrieren durchbrochen, Hindernisse überwunden. Das ist ein schöner Beleg dafür, welche Kraft innere Bilder entfalten können.

WELT DER FRAU: Das klingt sehr positiv. Könnte das auch in die andere Richtung - in Richtung Ausgrenzung, Gewaltbereitschaft und Hass - geschehen?

GERALD HÜTHER: Gerald Hüther Das ist in beide Richtungen möglich, schließlich ist alles, was formbar ist, auch verformbar. Innere Bilder können den Horizont eines einzelnen Menschen oder einer menschlichen Gemeinschaft erweitern und stärken, sie können aber auch einengen, Angst einjagen und damit wieder Einzelne und eine ganze Gesellschaft verunsichern und schwächen. Es ist keineswegs belanglos, wie die inneren Bilder beschaffen sind, weder die, die sich ein Mensch von sich selber, noch die, die er sich von seiner Umwelt und der Gesellschaft macht.

WELT DER FRAU: Innere Bilder bestimmen also als Vorstellungen und Einstellungen das Leben, die Nutzung des Gehirns und die Gestaltung der Lebenswelten. Sie bezeichnen das Gehirn als soziales Organ, das sich in achtsamer und liebevoller Atmosphäre am besten entwickeln kann. Wie kann man sich das vorstellen?

GERALD HÜTHER: Im Gehirn bilden sich aufgrund der im Leben gemachten Erfahrungen bestimmte Muster von Nervenzellverknüpfungen heraus. Die wichtigsten Erfahrungen machen wir im Zusammenleben mit anderen Menschen. Von ihnen übernehmen wir als Kinder und später auch noch als Erwachsene so ziemlich alles, was wir wissen und können, sogar die Sprache, den aufrechten Gang und natürlich die Fähigkeit zu lesen, zu schreiben, eine Vorstellung von uns selbst und so etwas wie Bewusstsein zu entwickeln. Das kann kein Gehirn aus sich heraus, das geht nur mithilfe anderer Menschen. So hat zwar jeder Mensch ein einzigartiges Gehirn, weil er ganz einzigartige Erfahrungen in seinem Leben gemacht hat, aber all diese Erfahrungen hat er nur machen können, weil er in einer menschlichen Gemeinschaft aufgewachsen ist, in der all das als Kulturleistung über viele Generationen hinweg entwickelt und weitergegeben worden ist.

WELT DER FRAU: Krisen und Existenzängste prägen stark die Gegenwart. Die Menschen haben Angst: um ihre Arbeitsplätze, um ihre Sicherheit, um ihren Wohlstand. Wie wirken sich Ängste im Gehirn aus?

GERALD HÜTHER: Angst ist immer eine Mitteilung an uns selbst. Da ist einer gerade von seiner Frau verlassen worden, eine andere wird gekündigt, jemand ist mit einer Aufgabe überfordert: Die Reaktionen sind gleich und lassen in Form von Herzrasen, Übelkeit und dem im Ohr pochenden Pulsschlag alle Alarmglocken im Gehirn läuten. Können die Betroffenen die Situation schließlich doch kontrollieren, wird aus der Bedrohung eine Herausforderung, die anfängliche Ohnmacht wird zu einem starken Willen und aus Angst wird Mut bzw. Zuversicht. Ganz anders geht es in uns weiter, wenn wir die Gefahr nicht abzuwenden vermögen: Ratlosigkeit wird zu Ohnmacht; Unzufriedenheit, Wut und Unglück breiten sich aus. Krisenhafte Situationen und die damit einhergehende Verunsicherung und Angst bieten also immer auch eine Chance zur Veränderung. Krank werden wir dann, wenn wir diese Chancen nicht sehen und nutzen.

WELT DER FRAU: Wie gelingt das in konkreten Alltagssituationen?

GERALD HÜTHER: Medien und Werbung schüren schon lange die Angst der Menschen, ihr Leben zu verfehlen. Wenn man dieses Produkt nicht erwirbt, dieses Auto nicht besitzt, dann hat man es einfach nicht geschafft. Die Angst, ausgeschlossen zu sein bzw. zu werden, ist enorm; mit dem Schüren von Angst sind Menschen am besten zu manipulieren. Je schwächer sie in ihrer Persönlichkeit gereift und an Herausforderungen gewachsen sind, umso besser funktioniert das. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns gegenseitig nicht schwächen, sondern stärken, wertschätzen und achten. Und unseren Kindern müssten wir bessere Möglichkeiten bieten, Aufgaben im Leben zu finden, an denen sie wachsen können. Sie brauchen auch Gemeinschaften, zu denen sie sich zugehörig fühlen, und Vorbilder, an denen sie sich orientieren können. Es ist immer das vorherrschende »Betriebsklima« - im Mutterleib während der Schwangerschaft, in der Kindheit das Klima in der Familie, im Kindergarten, in der Schule -, das darüber bestimmt, welche Erfahrungen ein Kind bzw. später ein Erwachsener machen kann. Jeder Mensch hat zwei Grundbedürfnisse: Das eine ist die tiefe Sehnsucht nach Nähe und Verbundenheit, das andere das Streben nach Autonomie und Freiheit. Wurzeln und Flügel entwickeln zu lassen, nicht zu beschneiden, das ist die Kunst der Liebe. Und die macht Menschen stark und damit auch nicht länger manipulierbar.

WELT DER FRAU: Wie leben Sie selbst Liebe und Zuversicht bei so viel Wissen um deren Bedeutung?

GERALD HÜTHER: Auch als Hirnforscher kann man, wie auch als Experte in anderen Disziplinen nicht jedes Wissen immer gleich anwenden. Aber man ist lernfähiger, kann mehr Bezüge herstellen. Ein bisschen ist es wie mit den Menschen, die durch einen Wald gehen. Manche laufen durch und der Wald erscheint ihnen ebenso nutzlos oder belanglos wie die darin lebenden Vögel. Und dann gibt es andere, die hören die Vogelstimmen, können sie unterscheiden, zuordnen, sind ganz begeistert von allem, was sich im Wald regt und dort wächst. Sie gehen eine Beziehung mit ihrer Umgebung ein. Sie hören einzelne Vogelstimmen und sehen die Buchfinken vor ihrem geistigen Auge singen, die anderen hören nur Gepiepse. Wenn man also mehr weiß, sieht man auch mehr. Und wenn man mehr sieht, ist die Welt reicher und das Leben beglückender.


Buchtipps:

Gerald Hüther: »Biologie der Angst«, Wie aus Stress Gefühle werden, Vandenhoeck & Ruprecht, 130 Seiten, 16,40 Euro

Gerald Hüther: »Die Macht der inneren Bilder«, Vandenhoeck & Ruprecht, 137 Seiten, 15,40 Euro

Gerald Hüther, Inge Michels: »Gehirnforschung für Kinder«, Kösel, 64 Seiten, 13,40 Euro


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 10/2009, Seite 38-39
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Oktober 2009