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SOZIALES/128: Geschwisterbeziehungen im Wandel (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97

Geschwisterbeziehungen im Wandel
Wie sich Lebensalter und Familienkonstellationen auf das Verhältnis zwischen Geschwistern auswirken

Von Horst Petri



Die Rangfolgentheorie über Geschwisterkonstellationen, lange Zeit der führende Erklärungsansatz für unterschiedliche Charakterstrukturen von Geschwistern, hat weitgehend ausgedient. Sie hatte uns so einfach und verständlich innerfamiliale Beziehungsgefüge erklärt - das erste Kind verantwortungsvoll, angepasst-konservativ und dominierend, das zweite Kind experimentierfreudig und oppositionell und das dritte das verwöhnte, abhängige Nesthäkchen. So oder so ähnlich lauteten die Verkürzungen.

Heute wissen wir, dass es kaum verlässliche Variablen gibt, die im Einzelfall die Regeln im Subsystem der Geschwister vorhersagbar machen. Im Gegenteil: Das Durcheinander wird immer größer, seit in den westlichen Gesellschaften durch die hohe Kinderlosigkeit und die Zunahme der Ein-Kind-Familie die Geschwisterzahl weiter abnimmt beziehungsweise seit die Geschwister infolge der Kernfamilie durch eheliche oder nicht eheliche Halb- und Stiefgeschwister ersetzt werden. Über die Dynamik von solchen Patchwork-Familien nachzudenken, gehört zu den dringenden Aufgaben der Geschwisterforschung. Auf diese Komplexität kann der vorliegende Beitrag nicht eingehen. Er beschränkt sich, um Bodenhaftung zu behalten, auf eine idealtypische intakte Familie mit zwei Kindern, die heute immer noch die Hauptform der Familie repräsentiert.

Der erste Parameter für ihre Beziehung ist das Lebensalter der Geschwister. Es wird in der Regel unterschätzt beziehungsweise zu wenig gesehen, wie sehr sich Geschwisterbeziehungen im Laufe der verschiedenen Lebensphasen verändern. Auf das Kindes- und Jugendalter bezogen lassen sich qualitativ zwei Phasen unterscheiden: die Phase der Intimität von der Geburt des Geschwisters bis zur beginnenden Pubertät und die Phase der Distanz ab der Pubertät bis ins mittlere Erwachsenenalter. Ihnen folgt die Wiederannäherungsphase bis zum Lebensende, die ich hier ausklammere.


Die intensive Verbindung in den ersten gemeinsamen Jahren

Die Phase der Intimität konstituiert das, was ich die Geschwisterliebe nenne, das Fundament einer lebenslang verlässlichen und haltgebenden Bindung. Die Intimität entsteht unter folgenden Bedingungen: Durch die Identifizierung mit der schwangeren Mutter entwickelt sich eine vorgeburtliche Bindung des älteren Kindes an den Fötus. Sie wird durch die nachgeburtliche Identifizierung mit dem Säugling als reines Naturwesen vertieft.

Die Intensität des körperlichen Kontaktes, der räumlichen Nähe und des zeitlich nahezu unbegrenzten Zusammenseins der Geschwister mit dem ständigen Austausch von Abenteuer und gemeinsamen Spiel in den ersten Lebensjahren schafft ein enges Zusammengehörigkeitsgefühl in der gesamten Kindheit. Die wechselseitigen Identifizierungsprozesse in dieser Zeit beschleunigen die entwicklungsfördernde Dynamik bei allen Geschwistern. Hervorzuheben ist dabei die gegenseitige Unterstützung bei den notwendigen Ablösungsschritten aus der elterlichen Abhängigkeit und bei der Überwindung anstehender Entwicklungsaufgaben und Konflikte. Das dazu notwendige Vertrauen, die Erfindung einer eigenen Sprache und das Mitteilen und Teilen von Geheimnissen verankern ein fundamentales Gefühl wechselseitiger Dankbarkeit. Diese komplexen Erfahrungsmuster führen nach psychoanalytischem Verständnis zur Verinnerlichung des Geschwisters und zu seiner Etablierung als gute Geschwisterrepräsentanz, die einen unschätzbaren Beitrag zur Stabilisierung des Selbst-Systems leistet.


Der Weg zu einer eigenen Individualität

Die zweite Phase, die Phase der Distanz, zu verstehen, ist wichtig, weil anderenfalls die auftretenden Turbulenzen zu erheblichen Belastungen nicht nur des Geschwisterverhältnisses, sondern des gesamten innerfamiliären Beziehungsgefüges führen können. Psychodynamisch entscheidend für diese Phase ist die wechselseitige De-Identifizierung (siehe Lexikon unten). Sie ist nach der langen Phase der Intimität notwendig, um die enge Bindung an das Geschwister aufzulösen. Nur so lässt sich der Weg zur Individuation mit dem Ziel einer eigenen Identität einschlagen.

Nicht zufällig fallen diese Separationsschritte mit der Ablösung von den Eltern zusammen. Wie bei diesen kann der Kampf um Autonomie zwischen Geschwistern dramatische Ausmaße annehmen oder zu langandauernden und schmerzvollen Trennungsdepressionen führen. Je symbiotischer die Bindung in der Phase der Intimität war, umso mehr Kraft erfordert die Befreiung aus ihr. Da diese in der Regel nicht gleichzeitig verläuft, stehen krasse Ablehnung des meist jüngeren Geschwisters durch das ältere neben anklammernder Idealisierung und reaktiver Enttäuschung des jeweils anderen.

Die Konflikte in der Phase der Distanz lösen sich in der Regel mit zunehmendem Alter selbst auf. Zur Zerstörung der äußeren Beziehung und des guten inneren Introjekts (siehe Lexikon unten) des Geschwisters kommt es nur, wenn die Eltern einen parteiischen Einfluss auf den Ablösungsprozess ausgeübt haben oder die biografische Weiterentwicklung der Geschwister gravierende Unterschiede in mehreren lebensbestimmenden Variablen aufweist, die ein unabwendbares Auseinanderdriften bewirken.


Drei theoretische Ansätze zur Familiendynamik

Das innerfamiliäre Beziehungsgefüge ist nicht als statisches Gebilde zu erfassen, sondern einem ständigen Prozess des Wandels unterworfen. Neben dem Lebensalter mit seinen geschilderten Auswirkungen auf das geschwisterliche Bindungsverhalten spielt der Wandel der Familiendynamik als weiterer Parameter eine entscheidende Rolle für die innerfamiliäre Balance.

Aus systemischer Sicht ist eine Familie dann im Gleichgewicht, wenn die beiden Subsysteme Eltern und Kinder in ihren Regeln harmonisch aufeinander bezogen sind, das heißt ein einheitlich funktionierendes System bilden. Konkret bedeutet das: Die Eltern müssen sich gegenseitig akzeptieren und ihre Kinder gerecht behandeln, während diese die Regeln der Eltern respektieren und untereinander immer wieder einen friedlichen Ausgleich ihrer Interessen erreichen.

Aus bindungstheoretischer Sicht ist eine Familie dann im Gleichgewicht, wenn beide Eltern zu allen Kindern eine - in der Fachsprache - »sichere« Bindung aufbauen konnten und die Kinder ihrerseits durch ihr Verhalten das Bindungsrepertoire der Eltern immer wieder neu stimulieren können. Aus psychoanalytischer Sicht gilt eine Familie als stabil, in der beiden Eltern eine feste Triangulierung mit jedem der Geschwister gelungen ist und deren Beziehung auf einer starken libidinösen Besetzung des jeweils anderen beruht. Die Triangulierung, die Dreiecksbildung Mutter, Vater, Kind entspricht einem relativ neuen Paradigma in der Psychoanalyse, durch das der Vater als früher »Dritter« in seiner Bedeutung für die psychosexuelle Entwicklung des Kindes ab dem ersten Lebensjahr erstmalig erkannt wurde.


Ein Beispiel für einen Wandel in den Eltern-Kind-Beziehungen

Man könnte bei allen dreien, hier in äußerster Knappheit benannten Theorien annehmen, dass sie ein konstantes Koordinatensystem beschreiben. Leider sitzt man in der Praxis solchen Fehlannahmen allzu leicht auf. Realistisch ist es, von einem permanenten Wandel der Familiendynamik auszugehen. Unter Dynamik versteht man im vorliegenden Zusammenhang bewusste und unbewusste Trieb- und Affektverschiebungen in den Beziehungen zueinander, die mit unbewussten Abwehrvorgängen gekoppelt sind.

Am Beispiel: In unserer als idealtypisch angenommenen Zwei-Kind-Familie ist das erste Kind ein Junge, das zweite ein drei Jahre jüngeres Mädchen. Beide Eltern bilden in der Anfangsphase ihrer Ehe ein harmonisches Paar und haben zu dem Jungen in dessen Kleinkindalter eine sichere Bindung aufgebaut. Als das Mädchen hinzukommt, bemerkt die Mutter, wie sich ihr Mann von dem Sohn entfremdet und sich mit wachsender Intensität der Tochter zuwendet. Aus der primär geschlechtsneutralen Vater-Sohn-Beziehung ist eine klassische ödipale Situation entstanden. Was der Mutter bei ihrer Beobachtung entgeht, dem Vater aber auffällt, ist der umgekehrte Tatbestand. Sie vertieft ihre Beziehung zu dem Sohn in auffälliger Weise, während sie die Tochter ambivalent erlebt.

Dieser noch keineswegs spektakuläre Wandel in den Eltern-Kind-Beziehungen entsteht nicht nur aus einer veränderten libidinösen Besetzung der Kinder; er kann auch Folge oder der Beginn eines sich aus anderen Gründen anbahnenden Wandels in der Partnerschaft sein. Die mit der Disharmonie einhergehenden Abwehrvorgänge betreffen bei beiden Eltern die Verleugnung ihrer ödipalen Verstrickung und die projektive Abwertung des anderen als verirrter Elternteil. Ihre Paarbeziehung nimmt unter dieser Voraussetzung weiter Schaden.

Die Kinder sind in diese Dynamik insofern eingebunden, als sie die libidinösen Präferenzen ihrer Eltern erkennen, genießen und mitagieren, während sie auf das Geschwister mit Gefühlen von Neid und Eifersucht reagieren. Damit wird auch ihre Beziehung einer Belastungsprobe ausgesetzt. Der Wandel der Familiendynamik betrifft also beide Subsysteme, die jetzt vor der Aufgabe stehen, Lösungen aus diesen Konfliktlagen zu finden.

Das klassische Beispiel der ödipalen Situation beschreibt ein ubiquitäres Phänomen in Familien und sagt noch nichts über ihre pathogene Bedeutung aus. Darüber hinaus gibt es zahllose andere Ereignisse bei einem oder mehreren Familienmitgliedern, die die Familiendynamik verändern. Im Sinne des Systemgesetzes, nach dem kein Einzelteil eines Systems seine Regeln umschreiben kann, ohne dass nicht alle anderen Teile ihre Regeln ebenfalls ändern müssen, sind alle Beteiligten in der Familie davon betroffen. Häufige Auslöser sind bekannte Schwellensituationen wie Geburt eines dritten Geschwisterkindes, Kindergarten- und Schuleintritt oder der Pubertätsbeginn, weiterhin schwere Krankheiten eines Kindes oder eines Elternteils, Arbeitslosigkeit eines oder beider Eltern oder - in den meisten Fällen, mit denen wir es in der Jugendhilfe zu tun haben - die Trennung der Eltern. Hier wird am dramatischsten erkennbar, welchen grundlegenden Wandel Geschwisterbeziehungen unter dem Einfluss eines zerstörten innerfamiliären Beziehungsgefüges erfahren können.


Die Geschwisterbindung als wertvoller Schutz

Abschließend nenne ich drei Schlussfolgerungen für die Praxis der Jugendhilfe. Erstens: Auffällig gestörte Geschwisterbeziehungen im Kindes- und Jugendalter sind in aller Regel ein deutlicher Hinweis auf eine dysfunktionale Familiendynamik. Hier den richtigen Fokus der ursächlichen Störfaktoren zu finden, setzt differenzierte Kenntnisse familiendynamischer Krankheitsprozesse voraus. Zweitens: Bei Vernachlässigung, Missbrauch und Gewalt in der Familie, die eine Herausnahme der Kinder erfordern, gehört die Trennung der Geschwister zu den gravierendsten Fehlentscheidungen der Jugendhilfe. Die Ressource Geschwister für ein Restgefühl an Sicherheit, Schutz und Zusammengehörigkeit und damit für den Erhalt eines ausreichend stabilen Selbst-Systems kann überhaupt nicht hoch genug eingeschätzt werden. Drittens: Die aktuell geführte Debatte über Vaterentbehrung und das »parental alienation syndrom« (elterliches Entfremdungssyndrom) ist auch vor dem Hintergrund der Geschwisterthematik von einiger Brisanz. Ein fehlender Vater hat immer traumatische Auswirkungen auf die Gesamtfamilie. Aber unter Berücksichtigung der Bedeutung der Geschwisterbindung wird durch den Verlust auch deren Subsystem in Mitleidenschaft gezogen, wodurch eine zusätzliche Destabilisierung eintritt. Die wenn auch noch so partielle Anwesenheit des Vaters zu garantieren, wäre somit ein wichtiger Beitrag zum Erhalt einer stabilisierenden Geschwisterbeziehung.

  • LEXIKON
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  • De-Identifizierung: die Zurücknahme und Auflösung des Identifizierungsvorgangs
  • Introjekt: die Aufnahme und Umwandlung eines äußeren Objekts zu einem inneren Objekt
  • Triangulierung: die Dreiecksbildung zwischen Mutter, Vater, Kind

DER AUTOR

Prof. Dr. med. Horst Petri ist Nervenarzt, Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychoanalytiker in freier Praxis. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Familien-, speziell Geschwister- und Vaterforschung und Psychotherapieforschung.
Kontakt: 030/6941213 (Telefon und Fax)


LITERATUR

KASTEN, HARTMUT (2003): Geschwister, Vorbilder, Rivalen, Vertraute. München

PETRI, HORST (2006): Geschwister - Liebe und Rivalität. Stuttgart

PETRI, HORST (2011): Das Drama der Vaterentbehrung. München

SOHNI, HANS (2011): Geschwisterdynamik. Gießen


DJI Impulse 1/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97, S. 28-30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Juni 2012