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BERICHT/022: Quo vadis Sozialarbeit? - Für die Starken (SB)


Die Freiheit, die wir meinen

Workshop des Bundeskongresses Soziale Arbeit zum Thema "Menschenrechte und Verwirklichungschancen - zwischen Paternalismus, Empowerment und Demokratie"


Eingangsbereich der HAW Alexanderstr. 1 mit Kongreß-Plakaten - Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf zu neuen Ufern - Das Departement Soziale Arbeit der HAW Hamburg
Foto: © 2012 by Schattenblick

Es gibt eine Menge Fragen, die im politischen wie öffentlichen Diskurs tunlichst vermieden werden, weil sie nicht plausibel beantwortet werden können, ohne die dominierenden Meinungen, sprich die den herrschenden gesellschaftlichen Verhältnissen zweckdienlichen Auffassungen, zu verletzen. Ein solches Tabu wäre beispielsweise die Frage danach, wie es eigentlich angehen könne, daß arbeitslosen Menschen vorgehalten wird, durch ein wie auch immer geartetes Fehlverhalten ihre mißliche Lage verursacht zu haben, wenn doch ihre Zahl bei weitem die der verfügbaren offenen Stellen übersteigt. Würde das Millionenheer derjenigen, die aus dem Produktions- und Reproduktionsbetrieb aussortiert wurden und an deren Arbeitskraft offenbar kein Verwertungsinteresse mehr besteht, die vermeintlichen Mängel mit einem Schlag abstellen, wo wären dann ihre künftigen Arbeitsplätze?

Der soziale Frieden, der mit tatkräftiger Unterstützung vornehmlich der bundesdeutschen Sozialdemokratie und ihr positionsverwandter Gewerkschaften in der Nachkriegszeit geschlossen werden konnte, wäre nicht für eine wenn auch nur befristete Zeit realisierbar gewesen ohne das ökonomische wie politische Wiedererstarken Deutschlands, das sich, festeingebunden in den US-geführten westlichen Block, an der fortgesetzten, weltweit organisierten ökonomischen Ausplünderung der Trikont-Staaten gütlich tun konnte. Im Kampf um die "Hirne und Herzen", sprich der ideologischen Systemauseinandersetzung mit den unter sozialistischem Banner segelnden Herausforderern, waren die alteingesessenen kapitalistischen Staaten gut beraten, sich ein menschenfreundliches Antlitz zu geben. Die soziale Frage wurde wie kaum eine andere zum Prüfstein erhoben, um Anspruch und Wirklichkeit voneinander zu trennen, und so waren das Sozialstaatsprinzip und damit auch die Sozialarbeit, wie die staatliche Fürsorge für die Gestrauchelten der Klassenherrschaft damals noch hieß, die stärksten Argumente, um der Idee einer sozialistischen Gesellschaftsutopie unter Aufrechterhaltung der herrschenden Verhältnisse etwas Greifbares entgegenzusetzen.

Die Fristen, in denen eine solche Mogelpackung im großen Stil ihren herrschaftsstabilisierenden Zweck erfüllen konnte, neigen sich längst ihrem absehbaren Ende zu, die Brüche treten deutlich zutage. Das mit dem Sozialstaatsprinzip im Grundgesetz verankerte Versprechen sozialer Sicherheit hält immer weniger, was es verspricht, immer rigoroser greift stattdessen die kontrollierende und sanktionierende Hand, und so verschärft sich von Tag zu Tag auch das Dilemma, in dem sich die Profession Soziale Arbeit seit jeher befand. Wer vermag da auszuschließen, daß auf dem 8. Kongreß Soziale Arbeit, der vom 13. bis 15. September in Hamburg durchgeführt wurde mit dem Ziel, angesichts der Ökonomisierung des Sozialen die Eigenständigkeit der Sozialen Arbeit wieder in den Mittelpunkt zu rücken, auch Aspekte, Konzepte und Fragestellungen aufgeworfen wurden, die im Grunde genommen darauf abstellen, die berufsständischen Interessen der Profession dadurch zu wahren, daß sie sich angesichts zunehmender sozialer Nöte und womöglich drohender Armutsrevolten als unverzichtbarer Bestandteil eines sozialtechnokratischen Befriedungs- und Kontrollmanagements bewährt?

Prof. Dr. Dieter Röh in Großaufnahme - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Dieter Röh
Foto: © 2012 by Schattenblick

Völlig abwegig ist dieser Gedanke nicht, bedenkt man beispielsweise den großen Stellenwert, den der sogenannte Befähigungsansatz bzw. Capabilities Approach, der 1979 von dem indischen Wirtschaftswissenschaftler und Philosophen Amartya Sen entwickelt wurde, in der Sozialen Arbeit einnimmt. Sen ist Professor der Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University in Cambridge/Massachusetts und erhielt 1998 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften für seine Arbeiten im Bereich der Wohlfahrtsökonomie und zur Theorie wirtschaftlicher Entwicklung und zum Lebensstandard. Der Befähigungsansatz ist also keineswegs neueren Datums, stammt er doch aus einer Zeit, die noch ganz im Zeichen der Systemauseinandersetzung zwischen kapitalistischer und realsozialistischer Welt stand, in der er allerdings nicht annähernd eine seiner späteren internationalen Karriere vergleichbare Relevanz aufwies.

Worum es sich dabei handelt, ist schnell erzählt. War es bis dato üblich gewesen, den sozialen Entwicklungsstand eines Staates anhand des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens seiner Bevölkerung zu messen und zu vergleichen, gilt es als das Verdienst Amartya Sens, diesen eindimensionalen Maßstab erweitert zu haben um mehrere Kenngrößen, mit deren Hilfe präzisere Aussagen über den in einer Gesellschaft anzutreffenden Wohlstand (und selbstverständlich auch die Armut) erstellt werden können. Den Capabilities Approach als ein durch weitere Erfassungskomponenten modizifiertes statistisches Konzept zu bezeichnen, griffe allerdings zu kurz, enthält er doch einen mit der empirischen Anwendung eng verknüpften, wenn man so will, ideologischen Anteil und Überbau.

Da wäre der Begriff eines "guten, gelingenden Lebens" zu nennen, der nach Ansicht der Vertreter dieses Konzeptes mit weltweiter Gültigkeit in vereinheitlichter Form definiert werden müsse. Derlei Definitionen liegen selbstverständlich bereits vor, wobei an dieser Stelle die von der US-amerikanischen Moralphilosophin Martha Nussbaum erstellte Capabilities-Liste zu nennen wäre. Nussbaum arbeitete von 1986 bis 1993 eng mit Sen zusammen in einem Projekt der Weltuniversität, einer Einrichtung der Vereinten Nationen, die 1973 zu dem Zweck gegründet worden war, Zukunftsfragen der Menschheit in allen Lebensbereichen auf kompetentester wissenschaftlicher Basis zu erarbeiten. Am dortigen Weltinstitut für entwicklungsökonomische Forschung (UNU-WIDER) hat sie einen mit Sens Ansatz engverwandten, aber doch eigenständigen Capabilities Approach entwickelt. Mögen die Akzente auch durchaus unterschiedlich gesetzt sein, ist diesem Konzept doch immanent, die materielle Versorgung zwar als wichtig anzuerkennen, aber dann die Frage nach den Befähigungen bzw. Verwirklichungschancen (capabilities) in den Vordergrund zu stellen dergestalt, daß Forderungen an die Gesellschaft gestellt werden, aktiv zur Entwicklung eines besseren Lebens all ihrer Mitglieder beizutragen.

Was zunächst vielleicht ansprechend und im engsten Wortsinn vielversprechend klingen mag, da staatliche Stellen mehr noch als bisher in die Pflicht genommen werden, in sozialen Fragen aktiv zu werden, scheint jedoch einen dicken Hinkefuß zu haben, nämlich das "gute, gelingende Leben". Wenn der Staat - oder, in seinem Sinne, die Profession Soziale Arbeit - definiert und vorgibt, was darunter zu verstehen ist, bedeutet dies angesichts der darauf gestützten administrativen Folgen bei der Realisierung dieses Konzepts einen bislang politisch nicht durchsetzbaren Eingriff in die allgemeinen Freiheitsrechte. Der Befähigungsansatz steht somit in dem Verdacht, eine soziale Interventionspflicht des Staates zu begründen und in vermeintlich sozialverträglicher Weise zu rechtfertigen.

Angehefteter Zettel mit der Aufschrift 'Der Capabilities Approach ist ein Angebot an die Soziale Arbeit, sich ihrer normativen Grundlagen zu vergewissern.' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Soziale Arbeit - Ein Berufsstand verfolgt berufständische Interessen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Allem Anschein nach treffen Sens Thesen und die mit diesem Ansatz verknüpften Behauptungen und konzeptionellen Vorstellungen inzwischen den Nerv der Zeit. 2004 gründeten Sen und Nussbaum die "Human Development and Capability Association", an der 700 Wissenschaftler in über 40 Staaten beteiligt sind zu dem Ziel, "die Forschung zu Schlüsselproblemen wie Armut, Gerechtigkeit, Wohlfahrt und Ökonomie in zahlreichen Disziplinen voranzubringen" [1]. Bei einer Zahl von rund einer Milliarde hungernder Menschen ist die Annahme, der mit einer solchen Forschung befaßte Wissenschaftlertroß würde das Interesse verfolgen, all diesen Menschen nicht nur das nackte Überleben zu ermöglichen, sondern ihnen wie allen übrigen auch noch zu einem "guten, gelingenden Leben" verhelfen zu wollen, nicht unbedingt plausibel. Steht nicht zu befürchten, daß auf diesem Wege noch differenzierter als bisher und damit effizienter selektiert werden soll? Dienen die erfaßten Informationen über Befähigungen und Befähigungspotentiale, ja sogar über die soziale und politische Zufriedenheit nicht eher den vielschichtigen Interessen der nach optimalen Verwertungsbedingungen suchenden Großunternehmen und keineswegs, wie behauptet, der Bekämpfung von Armut und Hunger?

Der Capabilities Approach ist in der Ausformulierung von Amartya Sen bereits in die mit globaladministrativen Fragestellungen und Funktionen befaßte Arbeit der Vereinten Nationen eingegangen. Auf Sens Vorschläge hin wurde der Human Development Index eingerichtet, den das UN-Entwicklungsprogramm seit 1990 in regelmäßig aktualisierter Form herausgibt. Über den Human Poverty Index ist der Capabilities Approach ebenfalls in die Weltentwicklungsberichte des UN-Entwicklungsprogramms (UNDP) sowie die internationale Forschung eingeflossen. Doch auch in den von der deutschen Bundesregierung herausgegebenen Armuts- und Reichstumsberichten wird dieser Ansatz berücksichtigt. Mit Beschluß des Bundestages vom 19. Oktober 2001 wurden die Rahmenbedingungen dieser Berichterstattung konzeptionell nach dem Capabilities-Ansatz des Wirtschaftsnobelpreisträgers Amartya Sen ausgerichtet. "Im Rahmen einer differenzierten Armuts- und Reichtumsberichterstattung wird nicht nur nach den verfügbaren Ressourcen gefragt, sondern vor allem danach, was die Menschen damit und daraus machen können", heißt es dementsprechend im 2. Armuts- und Reichtumsbericht vom April 2005 [2].

Prof. Dr. Dieter Röh steht vor Tafel - Foto: © 2012 by Schattenblick

Klar gegliederter Vortrag zu hochbrisanter Thematik
Foto: © 2012 by Schattenblick

Auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit in Hamburg wurde dem Befähigungsansatz ein eigener Workshop gewidmet. Unter dem Titel "Menschenrechte und Verwirklichungschancen - zwischen Paternalismus, Empowerment und Demokratie" stellten die Sozialwissenschaftler Eric Mührel [3] und Dieter Röh [4] dieses Konzept kontrovers zur Diskussion. Ausgehend von der These, daß normative Grundlagen in Form des Menschenrechtsdiskurses nach Silvia Straub-Bernasconi [5] und des Capabilities Approach in der Disziplin der Sozialen Arbeit seit einiger Zeit verstärkt diskutiert werden, stellten die beiden Referenten in einer Art Rollenspiel die für und gegen diesen Capabilities-Ansatz sprechenden Argumente vor.

So erklärte Mührel eingangs, daß mit beiden Ansätzen die Vorstellung von Rechten und Pflichten verbunden sei, was die Gefahr der Bevormundung und des Paternalismus in sich trüge. Die anschließende Frage, wie die Früchte der Menschenrechts- und Capabilities-Forderungen geerntet werden könnten, ohne die paternalistischen Gefahren gleich mitzuernten, kommt einem rhetorischen Kunstgriff gleich. Sie läßt außer acht, daß Forderungen nach welchen Rechten auch immer noch nie zu Brot für Hungernde geführt haben, weshalb auch die Idee eines guten und gelingenden Lebens oder die lange Kriterienliste Martha Nussbaums als Modifikation eines schon so oft gegebenen Versprechens bewertet werden könnten. Ein solches Versprechen könnte sich als schmückendes Beiwerk eines verschärften Kontroll- und Verfügungszugriffs erweisen, zumal in Zeiten unabwendbar anwachsender Mangellagen eine soziale Befriedung wie noch in den 1970er und 1980er Jahre, nämlich durch ein hohes Lohnniveau und ein soziales Sicherungssystem, nicht mehr zu realisieren sein dürfte.

Prof. Dr. Eric Mührel in Großaufnahme - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Eric Mührel
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Frage, wie denn das Wohlergehen von Menschen gemessen werden könne, wurde in dem Workshop mit dem Verweis auf den Capabilities Approach beantwortet. Allein das Durchschnittseinkommen eines Landes heranzuziehen sei, wie Röh ausführte, dem aus Indien stammenden US-Philosophen Amartya Sen zu wenig gewesen. Sen habe gesagt:

Wir müssen eigentlich noch einmal genauer hinschauen und auf die tatsächlichen Chancen kommen, und die messen sich nicht nur am Einkommen oder an anderen Ressourcen.

Der Chancen-Begriff scheint hier eine zentrale Funktion einzunehmen und eine Argumentationskette einzuläuten, an deren zumeist im Unausgesprochenen belassenen Ende die Bezichtigung Betroffener steht, ihre Chancen aus eigenem Versagen oder Fehlverhalten zum eigenen Nachteil nicht wahrgenommen zu haben mit der Folge direkter Sanktionen oder der Verweigerung sozialer Leistungen. Wozu sollte es zweckdienlich sein, wenn es darum ginge, Hunger und Armut in Angriff zu nehmen, von "tatsächlichen Chancen" zu sprechen? Was hat das eine mit dem anderen überhaupt zu tun? Eine Frage übrigens, die sich in diesem Workshop noch bei vielen weiteren Gelegenheiten hätte stellen lassen, so etwa dem aus der Philosophie (Aristoteles) hergeleiteten Begriff des "guten Lebens", der in die Soziale Arbeit implementiert wird in Verknüpfung mit der Behauptung, die Profession habe sich lange genug davor gedrückt, dies genau zu definieren und sei nun aufgerufen, die konkrete Definition dessen nicht länger anderen, beispielsweise Juristen, zu überlassen.

Prof. Röh während seines Vortrags - Foto: © 2012 by Schattenblick

Hunger, Menschenrechte und Befähigungen - wie paßt das zusammen?
Foto: © 2012 by Schattenblick

Röh stellte diese Thematik in ein sozusagen philosophisches Spannungsverhältnis zwischen Universalismus und Relativismus: Sollen die im Capabilities Approach postulierten und angeblich über die Menschenrechte hinausgreifenden Ansprüche an ein gutes Leben universell, das heißt für alle Menschen gelten oder nicht? Den Philosophen und Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls zitierend erklärte der Referent, daß mit Vorstellungen über ein "gutes Leben" nicht die Rechte von Menschen verletzt werden dürften. Zu den Menschenrechten führte er aus, daß sie negative Rechte umfaßten, also den Schutz vor staatlicher Gewalt, aber auch positive Rechte, die sich darauf bezögen, wie die staatliche Gemeinschaft die in ihr lebenden Menschen zu unterstützen habe. Um plausibel zu machen, wozu denn neben den Menschenrechten der Capabilities Approach mit seiner Idee vom guten Leben nützlich sein könnte, griff Röh auf den Philosophen Immanuel Kant zurück, der in seinem Kategorischen Imperativ von vollkommenen Pflichten, aber auch unvollkommenen gesprochen habe. Da gäbe es Verbindungen. Die Menschen hätten Rechte, die gewahrt werden müssen. Wenn wir ihnen darüberhinaus etwas schulden, sagen wir es nicht ihnen, sondern uns, was sehr gut, so Röh, dem Capabilities Approach entspräche.

Hier deutet sich schon an, daß in diesem Gewand womöglich doch eine kontrollierende und strafende Hand lauert, die ihre soziale Intervention, moralphilosophisch aufgewertet, als Selbstverpflichtung des Staates gegenüber einer Klientel verstanden wissen will, die es eben nicht besser weiß und nicht so gut wie die Sozialexperten versteht, was für sie ein "gutes Leben" sei. Mührel übernahm den Part desjenigen, der die Einwände vorbringt, und fragte, was denn eigentlich mit denen sei, "die wir nicht befähigen können oder die sich nicht befähigen lassen wollen", oder die, wie Röh ergänzte, "unsere Idee vom guten Leben nicht teilen und dann sagten: Das verletzt meine Menschenwürde, wenn ich gezwungen werde, ein bestimmtes Leben zu führen". Darauf sei die Antwort des Capabilities Approach, daß es selbstverständlich darum ginge, daß jeder Mensch seine persönliche Freiheit auslebe, aber daß diese Freiheit doch ganz wesentlich von der Unterstützung anderer abhinge. Röh wörtlich:

Das ist keine individuelle Geschichte. Das mache ich nicht für mich alleine, sondern ich bin ganz zentral angewiesen auf äußere Faktoren, auf soziale Beziehungen beispielsweise oder auch auf bestimmte Beteiligungs- und Aktivierungsstrukturen in der Welt.

Wer glaubt, auf äußere Faktoren wie Aktivisierungsstrukturen angewiesen zu sein, würde entsprechende Angebote der Sozialen Arbeit sicherlich gern in Anspruch nehmen. Wer sich aber nicht in einer solche Notlage wähnt und eine eigene und vielleicht sogar eigenwillige Vorstellung eines "guten Lebens" ausleben möchte, dürfte nach herrschender Rechts- und Verfassungslage daran nicht gehindert werden. Mührel fragte, ob nicht das fundamentale Recht einer Befähigung als Kehrseite der Medaille auch eine Pflicht zur Befähigung mit einschließe? Befähigung sei der zentrale Begriff im Capabilities Approach, dessen Bedeutung Röh folgendermaßen erläuterte:

Wir müssen sie tatsächlich befähigen, ihre Lage zu verbessern und ein gutes Leben zu führen. Das heißt nicht, ihnen Chancen zu geben, das wäre ein klassisch liberaler Ansatz.
Prof. Mührel steht vor angehefteten Zetteln zum Thema 'Capabilities' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Der Befähigungsansatz - Prof. Mührel präsentiert das zentrale Thema des Workshops
Foto: © 2012 by Schattenblick

In einer Zeit, in der der Sozialstaat mehr und mehr ausgehöhlt wird und vielfach schon als endgültig begraben angesehen wird, scheint sich eine dem Sozialen vom Anspruch her verpflichtete Profession, je mehr sie sich auf den Capabilities Approach einläßt, zur Fürsprecherin und Vollstreckerin sozialinterventorischer Maßnahmen zu machen. Mührel stellte als nächsten Einwand eine Frage, die insofern ans Eingemachte ging:

Wer die Chancen zur Befähigung nicht wahrnimmt oder nicht wahrzunehmen vermag, was ist denn mit dem? Darf dieser dann überhaupt noch auf solidarische Unterstützung, also Grundsicherung seiner Menschenwürde hoffen oder diese gar einklagen? Der Capabilities Approach setzt eine Freiheit "zu" voraus und mißachtet eventuell eine Freiheit "von". Das öffnet das Tor zu einer verpflichtenden Teilnahme an einer ökonomischen und politischen Verwertungslogik menschlichen Lebens.

Und Röh setzte nach:

Wir kommen von der Frage weg, die Freiheit zu etwas oder etwas tun zu können, sei nur ein positiver Gestaltungsraum, den ich Menschen geben muß. Wir kommen mehr zu der Frage hin: Okay, sie sollen diesen Gestaltungsraum haben. Jeder braucht diesen Gestaltungsraum für sein Menschsein, aber er muß eben auch dazu befähigt werden, diesen Raum gestalten zu können.

Mit "wir" ist in diesem Rahmen, zumal auch die rund 50 interessierten Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus der praktischen wie wissenschaftlichen Zunft der Sozialen Arbeit kamen, sicherlich der Berufsstand gemeint. In dem Workshop machten die beiden Referenten in der anschließenden Diskussion deutlich, daß es in der Sozialen Arbeit heute wieder sehr stark um Kontrollimperative gehe und daß "wir jetzt eine gemeinsame Vorstellung vom guten Leben entwickeln müssen, um dann alle möglichst zu befähigen, dieses gute Leben zu wählen" (Röh). Den Workshop-Referenten ist zu verdanken, diese Problematik sehr deutlich gemacht zu haben. Wohl dem, der sich zu den Freien zählen kann, und wehe dem, der durch diese Raster fällt... Unverkennbar ist es die Soziale Arbeit als Profession, die sich hier mit ihrer Fachkompetenz ins Gespräch bringen will. Noch einmal Röh:

Wenn ich freudig-frei bin von staatlicher Bevormundung und kultureller Hegemonie, dann heißt es noch lange nicht, daß ich mit dieser Freiheit umgehen kann und daß ich wirklich ein gutes Leben führe. Da sind wir in der Sozialen Arbeit in einem Dilemma, weil wir gerade die haben, die wir identifizieren als diejenigen, die in ihrem Leben Probleme haben.

Also doch staatliche Bevormundung? Die beiden Referenten gaben sich alle Mühe, nicht als Befürworter eines repressiven Sozialmanagements in Erscheinung zu treten, indem sie sozialinterventorische Zugriffe als Maßnahmen zu begründen suchten, die die Betroffenen erst dazu befähigten, ihre Freiheitsrechte in Anspruch zu nehmen. Den Menschenrechtsdiskurs flochten sie in diese Argumentation ein. Wie Röh erläuterte, umfaßten die Menschenrechte die Freiheits- bzw. Abwehrrechte gegenüber dem Staat und die Sozialrechte, die, wären sie verwirklicht, den Capabilities Approach überflüssig machen würden. Dieser Ansatz würde uns helfen, auf dieser Seite aufzuholen, da er mehr noch als die Menschenrechte den Standpunkt verträte, daß es die Pflicht des Staates sei, tatsächliche Chancen, nicht nur mögliche, zu gewährleisten. Auf die Frage, bis zu welcher Grenze es mit der Menschenwürde und den Menschenrechten vertretbar sei, Menschen befähigen zu wollen, antwortete er, das sei ambivalent. Damit zeichnet sich ein Denken ab, in dem die Pflicht des Staates so hoch angesiedelt wird, daß die Rechte des einzelnen dahinter mehr noch als bisher zurückzustehen hätten. Noch einmal Röh:

Es ist seit langer Zeit wieder eine Philosophie, die den Staat in Anspruch nimmt und sagt: Verdammt noch mal, neoliberal, das ist passé, das hat nicht funktioniert. Funktionieren tut eine gemeinsam geteilte Idee des guten Lebens, und da ist verdammt noch mal die staatliche Gemeinschaft auch verpflichtet, Menschen tatsächlich die Chancen zu bieten.

Das Soziale, einst großgeschrieben in der staatlichen Sozialarbeit, um die unter kapitalistisch strukturierten Verwertungsbedingungen anfallenden sozialen Extremfälle wie Obdachlosigkeit, Verwahrlosung von Kindern und Jugendlichen, häusliche Gewalt und armutsbegründete Notlagen aufzufangen und abzufedern, ist demzufolge von einer Entwicklung adaptiert und innovativ neugedeutet worden, die sich anschickt, den in die Kritik geratenen Neoliberalismus abzulösen. Vielleicht wäre "neosozial" ein markantes Wort für diesen Qualitätssprung, der sich durch die gesamte Profession Soziale Arbeit zu ziehen scheint, gibt es doch immer noch namhafte Stimmen, um an dieser Stelle an die Impulsreferate des Kongresses zu erinnern, die die alte Fahne hochhalten und den Berufsstand auffordern, sich dem gegenwärtigen Gang der Dinge - Stichwort: Ökonomisierung der Sozialen Arbeit - entgegenzustellen.

Prof. Mührel während seines Vortrages - Foto: © 2012 by Schattenblick

Einwände vorgebracht - Prof. Mührel leiht den Kritikern seine Stimme
Foto: © 2012 by Schattenblick

In dem Workshop ließen die beiden Referenten die Argumente möglicher Kritiker keineswegs unerwähnt. So formulierte Mührel als Einwand, uns sei die Vorstellung eines guten Lebens "politisch, medial und ökonomisch einsozialisiert und anerzogen" worden. Bedenke man die Werbung in Fernsehen, Radio und Internet, sei zu fragen, ob wir nicht nur scheinbaren Selbstbestimmungsangeboten unterliegen, die tatsächlich jedoch der ökonomischen Verwertungslogik dienten. Gelte ein Lebensentwurf womöglich nur dann als ein gutes oder gelingendes Leben, wenn er sich auf Lohnarbeit oder Unternehmertum gründe? Oder, um mit Aristoteles zu fragen: Machen wir uns nicht zu Sklaven einer Nützlichkeitskultur und sollen uns dabei auch noch gut fühlen? Und ist nicht das Ende der Demokratie eingeläutet, wenn wir nur vorgegebene Rollenmuster bedienten und uns um der gesellschaftlichen Anerkennung willen in eine Nützlichkeitskultur einbinden ließen?

Fragen dieser Art, die der weiteren Erörterung wert gewesen wären, stellte Röh in der Rolle des CA-Befürworters die Behauptung entgegen, daß die Vorstellung eines guten Lebens, so wie Martha Nussbaum sie in ihrer Liste formuliert hätte, gerade der Schutz vor diesen Einflüsterungen sei. Wer sich die Liste anschaute, würde sehen, daß es dabei um eine andere Idee des guten Lebens ginge und gerade nicht um Vermarktung und Nützlichkeitsprinzip. Allein, wer vermag auszuschließen, daß der Kern der Illusion gerade darin besteht, sie nicht zu durchschauen, daß der versprochene Schutz vor Einflüsterungen nicht seinerseits eine Einflüsterung sein könnte?

Viele Menschen stehen vor dem Eingang der HAW - Foto: © 2012 by Schattenblick

Bundeskongreß Soziale Arbeit - reges Interesse und gutbesuchte Veranstaltungen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Der Capabilities Approach sei, so Röh weiter, an einem globalen Konsens darüber interessiert, was eigentlich ein gutes Leben sei. Zu einer solch komplizierten philosophischen und weltanschaulichen Frage eine vereinheitlichte Definition mit weltweiter Gültigkeit durchsetzen zu wollen, würde wohl eine mit globalen Zugriffsfunktionen ausgerüstete Administration voraussetzen, und so hat es ganz den Anschein, als wollten die Protagonisten dieses Konzeptes für so etwas wie eine menschenrechts- und sozialrechtsbegründete Weltregierung werben. Wenn es Menschen gibt, die nach Maßgabe einer Profession wie der Sozialen Arbeit "befähigt" werden müssen, muß es auch die dazugehörigen "Befähiger" geben. Der Gedanke, daß Menschen in eigener Sache für ihre Belange eintreten und sich, wie die Geschichte der Befreiungsbewegungen und -kämpfe belegt, zusammenschließen und organisieren, weil sie zwischen der Frage persönlicher, politischer, sozialer oder ökonomischer Freiheiten keine Unterschiede zu machen gewillt sind, wäre demnach völlig abwegig. Die Referenten allerdings würden sich und ihren Berufsstand sicherlich in vorderster Front im Freiheitskampf stehend definieren:

Wäre es nicht ein moralischer Impuls, der aus dem Capabilities Approach käme - ich finde deutlicher als aus der Menschenrechtsdebatte -, daß wir eben noch viel mehr Menschen zu Freien machen müßten und nicht zu Sklaven oder nicht im Sklavendasein stehen lassen dürfen? Wir müssen sie doch befähigen, auch ihre Freiheit leben zu können, und da brauchen sie sehr stark materielle Voraussetzungen. Und sie brauchen partizipatorische Voraussetzungen, also die Teilhabe an der Bestimmung dessen, was das gute Leben ist, und auch die Fähigkeit, das für sich selbst im Sinne des guten Lebens zu reflektieren.

Der Kontrollauftrag, den die in der Sozialen Arbeit tätigen Menschen zu erfüllen haben und unter dem, so Röh, "wir alle leiden", darf dabei keineswegs außer acht gelassen werden. Es gäbe nun einmal diesen Auftrag, und da könnten wir, so die Argumentation des Referenten, die Definition der dahinterstehenden moralischen Normen anderen überlassen oder eigene Ideen dazu entwickeln. Natürlich könne man totalitaristisch denken und sagen: Wir zwingen jetzt alle zum guten Leben. Doch weil wir so nicht denken können und wollen, haben wir ein Problem, so Röh. Dieses Problem würde wohl kaum bestehen, stünde die Perforierung, wenn nicht Durchbrechung bisheriger rechtlicher Schranken nicht insgeheim auf der Tagesordnung. Steht uns also eine schöne neue Welt bevor, in der uns Sozialtechnokraten nach ihrem Ermessen für befähigt erklären oder uns Befähigungsmaßnahmen und -programmen unterziehen, bis wir ebenfalls unsere Freiheiten in Anspruch nehmen dürfen? 1984 jedenfalls ist lange vorbei.

Gebäudefrontansicht mit Schriftzug und Emblem der HAW Hamburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Futuristisches Design - Architektur spricht Bände
Foto: © 2012 by Schattenblick

Fußnoten:
[1] http://www.capabilityapproach.com/About.php?aboutsub=about0&sid=7c6c76b6d00c818baabced6f9e028b93&language=german

[2] Lebenslagen in Deutschland - Der 2. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Stand: April 2005. Als PDF verfügbar, zu finden unter:
http://www.bmas.de/DE/Service/Publikationen/forschungsprojekt-a332-zweiter-armuts-und-reichtumsbericht.html

[3] Eric Mührel ist Professor für Sozialpädagogik an der Philosophisch-Pädagogischen Fakultät der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt.

[4] Dieter Röh ist Professor für Sozialarbeitswissenschaften an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg, die den 8. Bundeskongress Soziale Arbeit organisiert hat.

[5] Silvia Staub-Bernasconi ist eine Schweizer Sozialarbeiterin und Sozialarbeitswissenschaftlerin. Sie ist emeritierte Professorin an der TU Berlin und stellvertretende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Sozialarbeit.


Bisherige Beiträge zum 8. Bundeskongreß "Soziale Arbeit" im Schattenblick unter INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/013: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Profession und Fragen (SB)
BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)
BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)
BERICHT/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Verlierer, Profitierer (SB)
BERICHT/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Nach der Decke strecken... (SB)
BERICHT/018: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Widerspruch und Praxis (SB)
BERICHT/020: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 1 (SB)
BERICHT/021: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 2 (SB)
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)
INTERVIEW/006: Quo vadis Sozialarbeit? - Zeitgemäß human? (SB)
INTERVIEW/007: Quo vadis Sozialarbeit? - Ohne Netz mit doppeltem Boden (SB)
INTERVIEW/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aber zusammen (SB)
INTERVIEW/009: Quo vadis Sozialarbeit? - Kontrollvorwände (SB)
INTERVIEW/010: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aufs Erbe verlassen? (SB)
INTERVIEW/011: Quo vadis Sozialarbeit? - Der Abstand wächst (SB)
INTERVIEW/012: Quo vadis Sozialarbeit? - Auf der Rutschbahn (SB)
INTERVIEW/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Sowohl als auch (SB)
INTERVIEW/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Flicken, halten und verlieren (SB)

7. Dezember 2012