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BERICHT/024: Quo vadis Sozialarbeit? - Vorbild Freiheit (SB)


"Soziale Arbeit in gesellschaftliche Konflikten und Kämpfen"

Workshop auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit 2012



Mit den Bismarckschen Sozialgesetzen konstituierte sich ein etatistischer Entwurf langfristiger Bestandssicherung der Herrschaftsverhältnisse, welcher die kapitalistische Klassengesellschaft dauerhaft zu konsolidieren trachtete. Er sicherte die Reproduktion der Arbeitskraft auf einem Niveau, das mit den Erfordernissen ihrer Verwertung im Zuge der Produktivkraftentwicklung Schritt halten konnte. Vor allem aber konterkarierte er den Klassenkampf des Proletariats mit der Befriedung und Einbindung widerständiger Impulse mittels einer in Aussicht gestellten Wohlfahrt, deren Preis die Aufgabe eigenständiger Kämpfe um bessere Lebensverhältnisse und damit die Überantwortung an ein Regime gewährter oder entzogener Rechte und Unterstützungsleistungen war. Dem Unterworfenen alles zu nehmen, um ihm dann einen gewissen Bruchteil des zuvor Geraubten befristet und unter dem Vorbehalt aufgezwungener Fügsamkeit zu seinem Lebensunterhalt wiederzugewähren, sollte sich als wirkmächtigstes Instrument der Verfügung in den hochindustrialisierten Metropolengesellschaften erweisen.

Als unabdingbarer Gegenpart, das Proletariat auf diesen fiktiven Klassenkompromiß einzuschwören, übernahm die Sozialdemokratie die Vorreiterschaft bei der Zügelung und Zähmung ihrer Klientel. Mit dem Versprechen auf Zugehörigkeit zu der sich herausbildenden Arbeiteraristokratie und der Drohung einer Ausgrenzung ins Lumpenproletariat schwor sie das Millionenheer der Lohnabhängigen auf Arbeitsethos, staatsbürgerliche Tugenden und Nationalismus bis hin zum Kanonenfutter in imperialistischen Kriegen ein. Stets galt es die fundamentale Einsicht zu leugnen, daß längst alles verloren hat, wer als Verkäufer von Arbeitskraft und Empfänger von Sozialleistungen zum Spielball fremdnütziger Interessen degradiert worden ist, könnte dies doch eine Widerständigkeit auf den Plan rufen, welche die Fessel vorteilsgestützter Beteiligung sprengt.

Sozialer Arbeit, wie ernsthaft und ehrenwert ihre Absicht auch sein mag, den ihr anvertrauten Menschen zu besseren Lebensverhältnissen zu verhelfen, ist als gesellschaftlicher Auftrag die Wiederherstellung der Arbeitskraft respektive die Verwahrung der Ausgegrenzten auf niedrigem Niveau zugewiesen. Wer das bestreitet, und schon vorab von einer Janusköpfigkeit dieser Profession ausgeht, ihr per se emanzipatorische Potentiale attestiert und Freiräume der Intervention auszumachen glaubt, geht der Ideologie auf den Leim, er bestreite seinen Lebensunterhalt mit der Schaffung einer besseren Welt. Bescheidet man sich damit, in der gesellschaftlichen Widerspruchslage die miteinander unvereinbaren Seiten lediglich zu betrachten, ohne entschieden und ausschließlich für die unterworfene Position zu beziehen, erschöpft sich die vorbehaltene Ambivalenz in einem berufsständischen Beitrag zur Perpetuierung der herrschenden Verhältnisse.

In welchem Maße die Marxsche Analyse der kapitalistischen Gesellschaft im Zuge ihrer poststrukturalistischen Aufweichung und Auflösung in Denken und Sprache entsorgt zu werden droht, deutete sich auch in einem Workshop auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit 2012 zum Thema "Soziale Arbeit in gesellschaftliche Konflikten und Kämpfen" an. Schon der von der Vorbereitungsgruppe erhobene Anspruch, mittels historischer und systematischer Analysen, Positionsbestimmungen und Perspektiven für eine widerständig orientierte Soziale Arbeit, die an der Etablierung einer demokratischen Gesellschaft mitarbeitet, vorzunehmen und zu entwickeln, regt zum Widerspruch an. Daß aus den konstatierten Widersprüchen der kapitalistischen Vergesellschaftungsweise nicht im dialektischen Sinne deren Überwindung und Umwälzung postuliert, sondern die Chimäre Demokratie zum vorgeblichen Gegenpart und Königsweg erklärt wird, ruft die Frage auf den Plan, ob hier tatsächlich noch eine dezidiert antikapitalistische Diskussion geführt wird. Zudem konnte man sich im Verlauf der Vorträge im Workshop des Eindrucks nicht erwehren, daß im Übergang von einer älteren Generation der Lehrenden zur jüngeren ein beträchtliches Maß an Klarheit und Entschiedenheit auf der Strecke geblieben ist.

Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Heinz Sünker
Foto: © 2012 by Schattenblick

Moderiert wurde der Workshop von Prof. Dr. Heinz Sünker, der an der Bergischen Universität Wuppertal lehrt. Wie er von der Arbeit der Vorbereitungsgruppe berichtete, habe man sich dafür entschieden, facettenreich ein Mosaikbild zu präsentieren, in dem die Thematik aus einem überraschenden Blickwinkel behandelt wird, wobei der Bogen von der Überwindung des Kapitalismus bis hin zur Frage der Emotionen in professionellen Interaktionen reiche. Zentraler Ansatz sei dabei, Soziale Arbeit in den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu positionieren. In welchem Verhältnis steht Soziale Arbeit zur Demokratie und was bedeutet das für eine antikapitalistische Stoßrichtung? Die Ausgangsthese stütze sich auf die Studie von Samuel Bowles und Herbert Gintis "Democracy and Capitalism", wonach Demokratie und Kapitalismus nicht zusammenpassen. Entgegen zahlreichen anderen Ansätzen bis hin zu jenem von Jürgen Habermas, die von einer Zähmung des Kapitalismus sprechen, solle die kapitalistische Formbestimmtheit des Lebens durch die Forderung nach einer Demokratisierung aller Lebensbereiche ersetzt werden - ein traditionsreiches Programm, das angesichts der Krisenhaftigkeit des Kapitalismus deutlicher denn je auf die Tagesordnung gehöre.

Einen Ausgangspunkt habe Barrington Moore vor rund 30 Jahren in seiner Studie "Ungerechtigkeit" über die sozialen Ursachen von Unterdrückung und Widerstand geliefert. Demnach haben wir in der bisherigen Geschichte beim Versuch, real existierende Klassengesellschaften zusammenzuhalten und soziale Kohäsion herzustellen, durchweg Zwang, Gewalt und Betrug erlebt. Moore entwirft am Ende seiner Studie die Perspektive, zur Überwindung sozialer Ungleichheit und Privilegierungen als Beitrag zu einer notwendigen Bewußtseinsbildung die Frage aufzuwerfen, "ob eine bestimmte soziale Funktion überhaupt ausgeübt werden muß, ob die menschliche Gemeinschaft nicht ohne Könige, Priester, Kapitalisten oder selbst revolutionäre Bürokraten auskommen könnte".

Als zweites Zitat führte der Referent eine Aussage George Dubys an, der zu den wichtigsten Historikern der französischen Annales-Schule zählt, die sich durch gesellschafts- und mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen auszeichnet. Duby schrieb vor etwa 40 Jahren mit Bezug auf die Häretikerbewegungen zwischen 800 und 1100 n. Chr.:

"Indem sie die Frauen uneingeschränkt in ihre Gemeinschaft aufnahmen, hoben sie die im ursprünglichen gesellschaftlichen Raum errichtete Schranke auf. Das blieb nicht ungestraft. Die Aufhebung des Unterschieds zwischen Weiblichem und Männlichem erlaubte die schlimmsten Verleumdungen und war meiner Ansicht nach der Hauptgrund für das Scheitern. Die Ketzer setzten sich über eine weitere wichtige Kluft hinweg. Da sie die Privilegien des priesterlichen Berufs ablehnten, vermischten sie Klerus und Populus, also das Volk. Sie luden alle Christen ein, auf die gleiche Art zu fasten und zu beten. Da sie andererseits dazu ermahnten, alle Angriffe zu verzeihen, nicht mehr zu rächen und auch nicht mehr zu strafen, proklamierten sie die Nutzlosigkeit der Spezialisten der Repression, des Staates und des Militärs. Und schließlich arbeitete innerhalb der Sekte jeder mit seinen eigenen Händen, niemand erwartete, von einem anderen ernährt zu werden, niemand plagte sich im Dienste eines Herrn, die Trennungslinie zwischen den Arbeitern und den anderen, den Grundherren, Gerichtsherren, Schutzherren, Inhabern der Strafgewalt wurde ausgelöscht."

Mit diesen beiden Zitaten wollte Sünker zur Systematik der Fragestellung beitragen, was man an Stelle kapitalistischer Formbestimmtheit von Produktion und Reproduktion setzen, welche Möglichkeiten einer anderen Form von Vergesellschaftung, gesellschaftlichen Zusammenlebens es geben könnte. Das Verhältnis von Sozialer Arbeit und Demokratie sei nach wie vor die Herausforderung bei der Frage nach der politischen Produktivität Sozialer Arbeit, weil es die Demokratisierung aller Lebensverhältnisse und -bereiche einschließe.

Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Dr. Andreas Schaarschuch
Foto: © 2012 by Schattenblick

Als zweiter Referent ging Prof. Dr. Andreas Schaarschuch auf den Staatsbegriff ein. Wie er ausführte, sei Soziale Arbeit in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften keine private philanthropische Angelegenheit, sondern eine genuin sozialstaatliche Aktivität. Vor rund 90 Jahren habe Antonio Gramsci deutlichgemacht, daß der Staat der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften kein monolithischer Block, sondern hochintegral mit zivilen, privaten Organisationen und Verbänden auf der einen und Parteien wie auch politischen Organisationen auf der anderen Seite sei. Gramsci spricht vom integralen Staat, den er als eine fragile Einheit beschreibt, die angesichts der vielen darin verwobenen Interessen immer wieder stabilisiert werden müsse. Diesen Zusammenhalt faßt er unter den Begriff Hegemonie, worunter er die Übereinstimmung oder den Konsens der subaltern Gehaltenen und der Herrschenden versteht und zwar nicht nur auf der ideologischen, sondern auch der materiellen Ebene. Nach seiner Vorstellung muß der Staat auch etwas für die subaltern Gehaltenen tun und als Wohlfahrtsstaat in Erscheinung treten.

Nicos Poulantzas habe auf die Schwierigkeit hingewiesen, daß der Staat weder ein Subjekt sei, das die Ökonomie steuern kann, noch ein Instrument der herrschenden Klasse, das man nur erobern müsse. Er definiert den Staat als Kampfplatz, als eine Arena, ein Verhältnis von herrschenden und beherrschten Klassen, die miteinander konfligieren. Wenn etwas erreicht werde, geschehe das meist in Form eines Kompromisses. Diese Kompromisse materialisierten sich in Strukturen, Institutionen, konkreten Formen wie etwa dem deutschen Sozialstaat. Das erinnere, so der Referent, an die Marxsche Dialektik von Verhalten und Verhältnissen. Die Verhaltensweisen der einzelnen Menschen produzieren die Verhältnisse und diese wirken wiederum auf das Verhalten zurück. Im deutschen Sozialstaat sei dieser hegemoniale Kompromiß das sogenannte Normalarbeitsverhältnis mit seinen Transferleistungen, also gewissermaßen der entscheidende Kompromiß der Bismarckschen Sozialpolitik von oben und der Sozialdemokratie mit ihrer Klientelpolitik für die Kernarbeiterschaft auf der anderen Seite.

Dieser Sozialstaat sei funktional für die Folgekosten der kapitalistischen Entwicklung und zugleich eine Vorbedingung für die Bereitschaft der Menschen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, weil sie Ausfallbürgschaften für die Risiken des Lebens vorfinden. In der Folge dieser Dynamik wurde der Sozialstaat stark ausgebaut, was man historisch anhand der verschiedenen Versicherungsformen verfolgen könne, aber auch hinsichtlich personenbezogener Dienstleistungen, und Soziale Arbeit profitierte von dieser Entwicklung. Sie weitete sich stark aus, sie wurde professionalisiert und akademisiert und trägt zur Aufrechterhaltung der hegemonialen Verhältnisse bei, so der Referent.

Staaten stünden zugleich in einem weltweiten Rahmen, in dem sie einem Formwandel unterlägen. Im Zuge der Globalisierung werde der Nationalstaat zu einem nationalen Wettbewerbsstaat, der mit anderen konkurriert, um möglichst viel Kapital anzuziehen. Lohnkosten und Lohnnebenkosten werden gesenkt, um die Verwertungsmöglichkeiten des Kapitals zu verbessern. Nach innen hin könne man von einem workfare state sprechen, da die Rekommodifizierung von Arbeit von zentraler Bedeutung seit. Für die Soziale Arbeit bringe workfare-Politik eine neue Rolle mit sich, bei der es im wesentlichen darum geht, zwischen würdigen und unwürdigen Menschen zu unterscheiden. Sind sie willens und in der Lage, sich in den ökonomischen Prozeß wiedereinzugliedern?

Was könne Soziale Arbeit demgegenüber tun, um politisch handlungsfähig zu werden, fragte Schaarschuch abschließend. Als Wissenschaft könne sie eine schonungslose Analyse und Kritik ihrer selbst betreiben. Sie könne in ihren Arbeitsfeldern gesellschaftliche Widersprüche aufspüren und mit Initiativen des Widerstands zusammenarbeiten. Es gelte nicht zuletzt, Orte der Artikulation zu schaffen, an denen Menschen, die nicht mit den hegemonialen Vorstellungen übereinstimmen, ihre Position darlegen können.

Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Dr. Rita Braches-Chyrek
Foto: © 2012 by Schattenblick

Aus einem anderen Vektor ging Dr. Rita Braches-Chyrek an das Thema des Workshops heran. Sie präsentierte einen Blick in die Geschichte Sozialer Arbeit, indem sie Jane Addams vorstellte, eine der zentralen Mitbegründerinnen dieser Disziplin und Profession, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den USA gewirkt hat. Jane Addams, die aus wohlhabenden und politisch einflußreichen Verhältnissen stammte, gründete zusammen mit ihrer Freundin Ellen Gates Starr 1889 eines der ersten Settlements in den USA, was man als Nachbarschaftsheim übersetzen könnte, obgleich es sehr viel mehr war. Es handelte sich um ein Zentrum der sozialen Bewegung nicht nur im Bereich der Arbeiterschaft, sondern auch der Frauenbewegung. Ihr Settlement "Hull House" wurde in einem Stadtviertel Chicagos gegründet, das von europäischen Migranten geprägt war, und beherbergte überwiegend Frauen. Die Residents initiierten vielfältige sozialreformerische, humanitäre und politische Projekte, die sich an den örtlichen Bedürfnissen ausrichteten: Kindergärten, Schulen, Literaturzirkel und politische Diskussionsforen, aber auch Gewerkschaften und später Parteien sowie Nichtregierungsorganisationen, wie man es heute nennen würde.

Sie entwickelten eine der zentralen Methoden in der sozialen Arbeit, die wir heute mit Gemeinwesenarbeit bezeichnen. Es fand eine stadtteilbezogene Kultur- und Begegnungsarbeit statt und zeigte, daß eine Verbesserung der kommunalen Verhältnisse nur im Kontext von öffentlichen Aktionen und Protesten möglich war. Es ging auf der einen Seite um ethische Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, auf der anderen aber auch um Einfluß in neu entstehenden politischen und wissenschaftlichen Feldern. In der rekonstruktiven Betrachtung werden die Residents deshalb als radical social worker betrachtet, deren Hauptziel es war, die Zuschreibung zu sozialen Klassen aufzuheben.

Jane Addams setzte sich gezielt für die gewerkschaftliche Arbeit ein und vertrat die Auffassung, daß die Organisierung eine moralische Sozialpflicht sei. Der Einzelne blieb andernfalls isoliert und Hunger, Krankheit und Verzweiflung ausgeliefert. Zugleich ging es ihr um die Effekte dieser politischen Aktion. Kurzfristig galt es beispielsweise Streiks zu organisieren, auf lange Sicht die Solidarität mit den armen Leuten zu stärken. Sie lehnte jedoch den sozialistischen Klassenkampf entschieden ab, da der Sieg einer Klasse mit der Ausgrenzung einer anderen verbunden sei, was sie für unvereinbar mit ihrer Vorstellung von Demokratie hielt. So unterstützte sie Streiks, kritisierte aber Gewaltanwendung bei solchen Kampfformen.

1892 gründete sich die Gewerkschaft der Clockmakers im Settlement mit dem Ziel, die Sweatshops abzuschaffen. Es wurden Tarifverträge ausgearbeitet, die sich insbesondere gegen die langen Arbeitszeiten richteten und Kündigungsschutz vorsahen. 1891 folgte die Gewerkschaft der Shirtmakers und 1903 die Chicago Women's Trade Union League. Letztere forderte den Achtstundentag, gerechtere Entlohnung und ein sicheres Zuhause, also Forderungen, die bis heute insbesondere in der Textilindustrie nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Frauen aus der Arbeiterklasse mit Gewerschaftserfahrung schlossen sich mit Frauen aus der Oberschicht zusammen und kämpften gemeinsam für die Schutzgesetze und unterstützten die Streikenden mit Suppenküchen und Streikkassen. Allerdings wurden sie angesichts der Beteiligung von Frauen aus der Oberschicht als "Nerzbrigade" kritisiert.

Insbesondere war Jane Addams und ihren Mitstreiterinnen daran gelegen, gesellschaftliche Probleme auch theoretisch zu thematisieren. Es ging ihnen darum, die Macht der Herrschenden zu begrenzen und die bestehende Ordnung zu verändern, was bekanntlich bis heute nicht tiefgreifend gelungen ist, so die Referentin. An dieser Stelle hätte man sich einen Verweis auf den spezifischen Charakter der Sozialkämpfe, Gewerkschaftsbewegung und privat organisierten Wohlfahrt in den USA gewünscht wie auch nicht zuletzt eine dezidiertere Stellungnahme zur letztendlichen Zielsetzung und Rolle einer Jane Addams, die in vielerlei Hinsicht Bahnbrechendes angestoßen hat, doch zugleich einem integrativen Klassenkompromiß das Wort redete. Statt dessen machte die Referentin einen Sprung zur heutigen Schwäche der Gewerkschaften, die im Gegensatz zu den Konzernen nicht international wirksam seien und keine langfristige sozialreformerische Perspektive mehr verfolgten.

Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Thomas Wagner
Foto: © 2012 by Schattenblick

Thomas Wagner sprach in seinem Vortrag über das gesellschaftsanalytische Potential des Bürgers und verortete Soziale Arbeit im Spannungsverhältnis von Ver- und Entbürgerlichung. Wie er eingangs voraussetzte, bleibe der Begriff des Bürgers im deutschsprachigen Raum doppeldeutig: Im Sinne des Citoyen bezeichne er einen politischen Subjektstatus, ausgestattet mit zivilen, politischen und sozialen Rechten, der sich über seine politische Praxis konstituiert. Im Sinne des Bourgeois bezeichne er andererseits die Verortung in einer kapitalistischen Ordnung und Sozialstruktur, die von Ungleichheiten geprägt ist, und im engeren Sinn die Zugehörigkeit zu einer Klassenfraktion. Das Doppelleben des Bürgers schaffe einen Bezugspunkt, an dem sich sowohl demokratietheoretische als auch ungleichheitstheoretische Fragestellungen kreuzen und miteinander in Verbindung bringen ließen und somit ein zentraler Widerspruch bürgerlich-kapitalistischer Vergesellschaftung verdeutlicht werden könne. Die Institution von Bürgerrechten manifestiere sich in einem von sozialer Ungleichheit durchzogenen und daraus resultierenden Konflikten gestalteten sozialen Raum und werde durch diesen wiederum teilweise geformt und konterkariert.

Den Bürger als Citoyen auf der einen und Bourgeois auf der anderen zu spalten und seinen Doppelcharakter als bloße Bipolarität stehenzulassen, blieb die Analyse des Zusammenhangs zwischen beiden schuldig. Dies sollte Folgen für den weitere Verlauf des Vortrags haben, der den Bourgeois unterschlug und den Bürgerstatus fortan unhinterfragt als Positivum voraussetzte. Wie der Referent fortfuhr, habe Thomas H. Marshall bereits vor 60 Jahren die Frage aufgeworfen, inwieweit sich unter der Bedingung sozialer Ungleichheit Gleichheit und Bürgerstatus für alle herstellen ließen. Zwar stellten Bürgerrechte einen unmittelbaren Bezugspunkt für bürgerliche Gleichheit dar, doch reiche ihre formale Statuierung nicht aus. Um diese Rechte auszuüben, bedürfe es habitueller Dispositionen und materieller wie symbolischer Kapitalien, um im politischen Raum effektiv in Erscheinung zu treten, so Wagner. An diesem Widerspruch könnten soziale Schließungsprozesse ansetzen, die er als Entbürgerlichung bezeichne. Unter Aufrechterhaltung formaler Gleichheit würden den Menschen Mittel vorenthalten und damit auch die Rechte entwertet, die sie nicht ausüben können.

Soziale Arbeit sei Teil des wohlfahrtstaatlichen Kompromisses, einen Waffenstillstand zwischen Demokratie und Kapitalismus auszuhandeln und dabei Entbürgerlichungsprozessen entgegenzuwirken, indem über soziale Rechte und dementsprechend soziale Dienste Voraussetzungen der Ausübung von Bürgerrechten geschaffen würden. Sie bewege sich dabei in einem Spannungsverhältnis von Ver- und Entbürgerlichung: Einerseits besitze sie ein Verbürgerlichungspotential, da sie Menschen helfen könne, die benötigten Ressourcen zu erschließen, um Bürgerrechte auszuüben. Sie besitze andererseits aber auch das gegenläufige Potential zu entbürgerlichen. Für eine an der Demokratisierung der Gesellschaft orientierte Soziale Arbeit ergebe sich daraus eine doppelte Aufgabenstellung: Sie sollte stets ausloten, inwiefern sie in diesem Widerspruchsverhältnis für ihre Nutzerinnen und Nutzer zu einer Ressource werden kann, für sich selbst Bürgerrechte zu reklamieren, zu erstreiten oder zu verteidigen, also acts of citicenship zu praktizieren.

Andererseits sei Soziale Arbeit selbst eine sozialstaatliche Institution und bedürfe der Demokratisierung sowohl hinsichtlich der Nutzerinnen und Nutzer als auch der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter. Da man politisch abgebaute Rechte nicht auf dem Rechtsweg einklagen könne und das politische Moment den zentralen Bezugspunkt des Bürgerstatus bilde, müsse man auch das politische Feld im engeren Sinn als einen Ort für acts of citicenship in Betracht ziehen. Wenngleich Protestbewegungen deutlich zugenommen hätten, sei unterprivilegierten Gruppen der Zugang zum politischen Feld in zugespitzter Form versperrt. Angesichts einer um sich greifenden sozialen Verunsicherung sei die bürgerliche Mitte um so stärker bemüht, ihren Abstiegsängsten Respekatabilitätsgrenzen nach unten entgegenzusetzen.

Zugleich dürfe man das entbürgerlichende Potential Sozialer Arbeit nicht aus dem Blick verlieren. So belegten sozialhistorische Untersuchungen, daß Soziale Arbeit auch ein Feld bilde, auf dem die Positionen von Sozialarbeiter und Klient zu Ankerpunkten des Austarierens von sozialem Status und damit auch zum Ziehen von Distinktionslinien werden könnten. Auf diesem Terrain gestalte sich das ver- und entbürgerlichende Potential für Nutzerinnen und Nutzer wie Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in einer komplementären Art und Weise. Während die Nutzung Sozialer Arbeit nicht selten mit Stigmatisierungsklassifikationen einhergehe, sei Soziale Arbeit seit den Pioniertagen einer Jane Addams eine Tätigkeit, die mit Bürgerlichkeit verbunden ist und über die Menschen für sich Zugehörigkeit zum Bürgertum reklamieren können. Diese Frage stelle sich heute angesichts der zunehmenden Präkarisierung in der Sozialen Arbeit selbst ganz neu, da die Zugehörigkeit vieler dort Tätiger zur bürgerlichen Mitte in Frage gestellt wird.

Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Carsten Schröder
Foto: © 2012 by Schattenblick

Da der abschließende Vortrag Carsten Schröders über Emotionen zwischen professionellem Anspruch und institutioneller Wirklichkeit den eingangs angekündigten Facettenreichtum insofern überstrapazierte, als er thematisch doch allzu sehr aus dem Rahmen der vorangegangenen Beiträge fiel, sei er an dieser Stelle nur beiläufig erwähnt.


Von welchem Raum ist hier die Rede?

Daß sich im Laufe der Vorträge ein gewisses Unbehagen unter den Zuhörern ausgebreitet hatte, brachte in der anschließenden Diskussion schon die erste Frage aus dem Publikum zum Ausdruck, von welchem sozialen Raum denn nun eigentlich die Rede sei: Von jenem Jane Addams' oder dem heutigen, vielleicht gar von unserem oder einem Raum im Raum? Wie Thomas Wagner erwiderte, verwende er den Begriff in Anschluß an Pierre Bourdieu als Chiffre für Gesellschaft als eines Kräftefeldes, auf dem Menschen aufgrund ihres unterschiedlichen Zugangs zu Kapitalfraktionen und ihres Lebensstils eingeordnet werden. Daß jeder Raum durch seine Grenzen definiert wird, den im entufernden poststrukturalistischen Diskurs so beliebten Räumen also nichts anderes abzugewinnen ist als Beschränkung und Gefangenschaft, die man besser gleich beim Namen nennen sollte, war kein Gegenstand der Debatte.

Wie Rita Braches-Chyrek ergänzte, sei es den Frauen um Jane Addams nur deshalb möglich gewesen, an die Öffentlichkeit zu treten, weil sie in mehreren sozialen Bewegungen national und international vernetzt gewesen seien. Ob das kontemporäre Konstrukt der Vernetzung in seiner Ungeklärtheit und Beliebigkeit tatsächlich erklären kann, was den damaligen Erfolg einer Jane Addams ausmachte, muß doch mit einem Fragezeichen versehen werden. Naheliegender war da schon der noch einmal hervorgehobene Hinweis der Referentin, daß das Settlement in Chicago von reichen Frauen mit hohen Summen unterstützt wurde. Die Resultate seien letztlich von der herrschenden Klasse benutzt worden, um Veränderungen zu verhindern. So bleibe Soziale Arbeit ein Projekt der bürgerlichen Klasse, ihre Vorstellungen durchzusetzen.

Als Thomas Wagner unterstrich, daß man nicht einen, sondern mehrere Standpunkte brauche, von denen aus man Kritik betreiben könne, war dies gewissermaßen die zusammengefaßte aktuelle Standortbestimmung einer Disziplin, die sich nicht mehr dabei erwischen lassen mag, Position zu beziehen, sondern mit dem Für und Wider jongliert. Vielleicht war es das, was Andreas Schaarschuch fast den Kragen platzen ließ: Man dürfe Kollegen nicht gewähren lassen, die in der neuen Steuerung den Tiger reiten wollten und ihre persönlichen Karrieren angekoppelt hätten. Denen müsse man auf die Finger klopfen.

Das war denn doch ein offenes Wort, dem Heinz Sünker nur noch zum Abschluß hinzufügen konnte, daß schon Hegel die gesellschaftliche Existenz vieler Armer und weniger Reicher als systemisch herausgearbeitet habe. Im übrigen brauche man nicht bis zu Jane Addams zurückzugehen, da in der 68er-Bewegung Soziale Arbeit auf eine Weise diskutiert worden sei, auf die man heute durchaus zurückkommen könnte. Sein Wort in wessen Ohr?

Kongreßtransparent am Eingang der HAW - Foto: © 2012 by Schattenblick

Nur ein winziger Bruchteil der 1400 Kongreßteilnehmer ... Foto: © 2012 by Schattenblick

Bisherige Beiträge zum 8. Bundeskongreß "Soziale Arbeit" im Schattenblick unter INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/013: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Profession und Fragen (SB)
BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)
BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)
BERICHT/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Verlierer, Profitierer (SB)
BERICHT/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Nach der Decke strecken... (SB)
BERICHT/018: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Widerspruch und Praxis (SB)
BERICHT/020: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 1 (SB)
BERICHT/021: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 2 (SB)
BERICHT/022: Quo vadis Sozialarbeit? - Für die Starken (SB)
BERICHT/023: Quo vadis Sozialarbeit? - Kopflast (SB)
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)
INTERVIEW/006: Quo vadis Sozialarbeit? - Zeitgemäß human? (SB)
INTERVIEW/007: Quo vadis Sozialarbeit? - Ohne Netz mit doppeltem Boden (SB)
INTERVIEW/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aber zusammen (SB)
INTERVIEW/009: Quo vadis Sozialarbeit? - Kontrollvorwände (SB)
INTERVIEW/010: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aufs Erbe verlassen? (SB)
INTERVIEW/011: Quo vadis Sozialarbeit? - Der Abstand wächst (SB)
INTERVIEW/012: Quo vadis Sozialarbeit? - Auf der Rutschbahn (SB)
INTERVIEW/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Sowohl als auch (SB)
INTERVIEW/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Flicken, halten und verlieren (SB)
INTERVIEW/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Heimkehr der Theorie (SB)

21. Dezember 2012