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BERICHT/044: Digitaldilemma - die Smartphone Verfügbarkeit ... (SB)


Das Motto des Landestags der Psychologie 2017 (*) am 8. Juli in Stuttgart lautete "Beziehung 4.0 - Macht Digitalisierung alles besser?". Im Workshop "Arbeitswelt 4.0 - gute Beziehungen zu sich selbst erhalten" von Dipl.-Psych. Julia Scharnhorst ging es u.a. um das Thema, wie Digitalisierung den Umgang vieler Menschen mit sich selbst insbesondere in Bezug auf das Arbeitsleben verändert hat und immer noch verändert.



Entgrenzung der Arbeit gefährdet Gesundheit

Detachment statt permanenter Selbstoptimierung und -ausbeutung ist gefragt

Folgt man der Berichterstattung in den wichtigsten deutschen Printmedien steht mit dem Umbau der Wirtschaft infolge der Digitalisierung ein radikaler Umbruch bevor. Auch von einer Revolution ist manchmal die Rede. Diese wird als unaufhaltsamer technischer Prozess beschrieben, als sei hier eine Naturgewalt am Werke. Ganz selbstverständlich wird dabei davon ausgegangen, dass die Technik zuallererst im wirtschaftlichen Gewinninteresse eingesetzt wird. Einer Studie der Otto-Brenner-Stiftung zufolge werden in den meisten Medien weder Alternativen noch weiterführende Aspekte, wie die zukünftige Arbeit zu gestalten ist, sichtbar. Die Untersuchung bezog u.a. die Frankfurter Allgemeine Zeitung, die Süddeutsche Zeitung, das Handelsblatt, die taz, den Spiegel und Die Zeit mit ein.

Wie eine Entwicklung aussehen könnte, vor der die Mehrheit der Beschäftigten sich nicht fürchten muss, sondern die Millionen Erwerbstätigen große Vorteile bringen kann, scheint Medien aber auch Gewerkschaften und Wissenschaftler bisher kaum zu beschäftigen. Wann wird schon mal über eine generelle Verkürzung der Normalarbeitszeit oder das unter Bedingungen von Arbeit 4.0 nicht nur finanzierbare, sondern vielleicht sogar notwendige bedingungslose Grundeinkommen nachgedacht? Die Gesundheitspsychologin Julia Scharnhorst sieht das ähnlich, setzt aber aufgrund ihrer Spezialisierung in Ihrer Arbeit einen anderen Schwerpunkt. Sie berät Unternehmen und Organisationen zu den Themen Gesundheitsförderung und Gesundheitsmanagement und entwickelt Programme und Maßnahmen zum Abbau psychischer Belastungen im Arbeitsleben, von denen der jüngste Arbeitszeitreport der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) genauso zeugt wie die zuletzt veröffentlichen Berichte der Techniker Krankenkasse (TK).

Scharnhorst leugnet die Vorteile der Computerisierung in vielen Bereichen nicht. Die gesellschaftlichen und zivilisatorischen Effekte des Einsatzes der IT-Technologie lassen bei der Gesundheitspsychologin jedoch die Alarmglocken läuten. "Die Konsequenzen der neuen Dynamik von Arbeitsprozessen verlangen beschleunigte Reaktionen und ein multifunktionales Verhalten. Immer mehr Dinge müssen gleichzeitig im Blick behalten oder erledigt werden. Computer dienen dabei nicht nur der Produktivitätssteigerung, sondern sind auch ein Instrument effektiver Kontrolle sowie entgrenzter Leistungsstimulanz, und das nicht nur bei den Lagerarbeitern, die Computer am Körper tragen, die jeden Handschlag registrieren, den Leistungsumfang überwachen und jeden Arbeitsschritt vorschreiben." Führungskräfte hätten oft kein Problembewusstsein dafür, dass es auch für Kontrolle gesetzliche und ethische Grenzen geben müsse. Wenn die Selbstausbeutung unter Freiberuflern und Selbstständigen schon kaum einzudämmen sei, so sollten wenigstens für abhängig Beschäftigte Regeln festgeschrieben werden. Bis der Gesetzgeber die diesbezüglichen Lücken fülle, sollten innerbetriebliche Lösungen gefunden werden. Einige Unternehmen haben das Scharnhorst zufolge bereits getan und z.B. untersagt, E-Mails nach 18 Uhr noch an Mitarbeiter zu versenden.

Im Gespräch verweist die Vorsitzende der Sektion "Gesundheits-, Umwelt- und Schriftpsychologie" im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen auch auf die steigende Zahl von Beschäftigten, die permanent abrufbereit sein müssen (zwischen vier und acht Prozent je nach Wirtschaftsbereich) oder deren Arbeitszeiten sich häufig ändern (zwischen elf und 16 Prozent je nach Wirtschaftsbereich). Laut Arbeitszeitreport der BAuA wird von den Letzteren jeder Zweite erst am selben Tag oder am Vortag über die geänderte Arbeitszeit informiert. Als belastend empfinden dies vor allem Frauen (63 Prozent) sowie Beschäftigte im mittleren Alter (57 Prozent).

In Seminaren versucht die Psychologin, sowohl Führungskräfte als auch andere Beschäftigte für die Entgrenzung von Arbeits- und Freizeit zu sensibilisieren. "Viele merken gar nicht, wie schon jetzt die ständige Erreichbarkeit durch Smartphones in ihr Leben eingreift. Und selbst die, die es als störend empfinden, wenn der Chef am Sonntagmorgen oder mitten in einer Fortbildung den dringenden Wunsch zur Kommunikation verspürt, wagen oft nicht sich dagegen zu wehren. Negative gesundheitliche Folgen für viele sind absehbar." Deshalb konfrontiert Julia Scharnhorst Führungskräfte in Seminaren und Gesprächen mit deren gedankenlosem Überschreiten der Grenze zur Privatsphäre. Sie schärft auf Mitarbeiterseite das Bewusstsein für diese technologisch stimulierte Unterwerfungsbereitschaft. "Es geht nicht an, dass manche Arbeitskräfte auch noch die Schuld bei sich suchen, wenn sie nicht mit den Übergriffen ihrer Führungsebene umgehen können. Detachment - die regelmäßige sowohl physische als auch mentale Distanzierung von der Arbeit - ist ein Bedingungsfaktor für Gesundheit, Wohlbefinden und Leistung." Scharnhorst geht damit einen Schritt weiter als der Vorstandsvorsitzende der TK, Dr. Jens Baas, der im Vorwort zur TK-Job- und Gesundheitsstudie an Beschäftigte appelliert, sich eigenverantwortlich um ihre Gesundheit zu kümmern.

Mehr als 50 Prozent der für die Studie Befragten geben eine hohe bis sehr hohe Arbeitsintensität an; zwei von drei aus dieser Gruppe fühlen sich dadurch belastet. Die TK registriert einen Anstieg dieser Personengruppe um 15 Prozent in relativ kurzer Zeit. Diese Entwicklung als zwingende Folge der Digitalisierung zu betrachten, hieße zu kapitulieren. "Gestaltung von Arbeit 4.0 ist stattdessen gefragt", betont Scharnhorst.


(*) Veranstalter der Tagung "Beziehung 4.0 - macht Digitalisierung alles besser?" ist die Landesgruppe Baden-Württemberg des Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP)
http://www.bdp-bw.de/aktuell/2017/2017_ltp_ueberblick_wsinfos.html


Weitere Beiträge zum Landestag der Psychologie 2017 "Beziehung 4.0 - macht Digitalisierung alles besser?" am 8. Juli in Stuttgart im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT

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8. Juli 2017


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