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BERICHT/045: Digitaldilemma - Laptopzeiten ... (SB)


Das Motto des Landestags der Psychologie 2017 (*) am 8. Juli in Stuttgart lautete "Beziehung 4.0 - Macht Digitalisierung alles besser?". Im Workshop "Führung in reduzierter Arbeitszeit (FIRA) - Frauensache oder ein Zukunftsmodell für alle?" widmete sich Dipl. -Psych. Dr. Thomas Moldzio zum einen den Chancen, die Digitalisierung und höhere Produktivität für neue Arbeitszeitmodelle wie "Führung in reduzierter Arbeitszeit" (FIRA) eröffnen, zum anderen den Arbeits- und Lebensbedingungen, die Modelle wie dieses geradezu erfordern.



Gesunde Skepsis oder fehlende Phantasie?

Zögerlicher Einsatz von Führung in reduzierter Arbeitszeit (FIRA) bedeutet verschenkte Chancen

Eileen Schönhardt(**) ist eine hervorragend ausgebildete Mathematikerin mit starker sozialer Kompetenz. Ihr Sprung in eine leitende Position der Firma (namhaftes Unternehmen der Finanzdienstleistung) stand in absehbarer Zeit bevor. Doch dann wurde sie schwanger. Grübeln in der Führungsetage: Sollte man sich jetzt nach einem geeigneten Kandidaten auf dem Arbeitsmarkt umsehen, der das Unternehmen jedoch nicht kannte? Und das, obwohl die ideale Kandidatin sich in Sichtweite befand? Man suchte eine andere Lösung und fand sie in dem noch relativ jungen Arbeitszeitmodell "Führung in reduzierter Arbeitszeit (FIRA)". Eileen Schönhardt stieg kurze Zeit nach der Geburt ihres Kindes mit 70 Prozent Arbeitszeit in die Führungsposition ein. Es wäre gelogen zu behaupten, dass es gar keine Probleme gab, aber die hätte es in anderer Form mit einem Einsteiger von außen auch gegeben. Inzwischen funktioniert dieser FIRA-Fall hervorragend; das Unternehmen und die Angestellte haben profitiert.

Dr. Thomas Moldzio, Diplompsychologe und Geschäftsführender Partner des Instituts für Personalauswahl - Moldzio & Partner, ist ein glühender Verfechter des Modells, das er allein in diesem Jahr auf vier Konferenzen in Lübeck, Stuttgart, Dresden und München vorstellt. Es ist eine von vielen Optionen, Digitalisierung kreativ zu gestalten und sie nicht wie ein über die Menschheit kommendes Naturereignis hinzunehmen. Die Gründe für das Interesse an FIRA liegen auf der Hand. Auf der Arbeitgeberseite ist es das Interesse an hochqualifizierten, ins Unternehmen passenden Fach- und Führungskräften. Hinzu kommt der Wunsch, älteren Führungskräften den allmählichen Ausstieg leichter zu machen und dadurch Jüngeren in "Warteposition" früher mehr Verantwortung übertragen zu können. FIRA ermöglicht das.

Auf der Arbeitnehmerseite kommen noch weitere Interessen hinzu. Dort sind es schon längst nicht mehr nur Mütter, die mehr Zeit für Kinder und Familie wollen. Auch jenseits der Elternzeit existiert Bedarf nach mehr zeitlichen Spielräumen im Privatleben. Dieser kann auch durch dauerhaft pflegebedürftige Angehörige entstehen. Muss man deshalb seine Führungsposition aufgeben? Soll die Firma auf sehr gut geeignete Fachkräfte verzichten und andere, weniger sozial engagierte oder familiär eingebundene einstellen? Eher nicht, zumal jüngere Forschungen den stimulierenden Effekt für Führungskräfte durch Familie bestätigen.

Bisher haben schätzungsweise nur 10 bis 20 Prozent der Arbeitgeber die Führungsebene mit Teilzeitkräften besetzt, und definitiv noch weniger Unternehmen wenden FIRA im Rahmen eines systematischen Konzepts der Managemententwicklung an. In systematischen Untersuchungen, die von Moldzios Beratungsunternehmen gemeinsam mit Prof. Dr. Thomas Ellwart von der Universität Trier durchgeführt wurden, artikulieren Führungskräfte und Mitarbeiter Gründe für ihre mit FIRA verbundene Skepsis. Sie befürchten,

  • dass Teilzeitführungskräfte von den Mitarbeitern nicht ernst genommen würden
  • ihr Einsatz zu Chaos führen würde
  • mehr Stress und Belastungen sowohl bei Mitarbeitern als den Führungskräften selbst entstünde.

Interessant ist, dass diese Befürchtungen bei Befragten, die bereits Erfahrung mit FIRA sammeln konnten, deutlich geringer ausgeprägt sind als bei denen, die das Modell nur aus der Theorie kennen. Während technische Neuentwicklungen in Deutschland relativ rasch aufgegriffen werden, verändert sich die Unternehmenskultur nur sehr langsam. Die Phantasie der Ingenieure eilt der der Manager offenbar voraus. "Noch erwarten höhere Führungsebenen von Führungskräften vor allem Präsenz. Morgens als erster da, abends als Letzter raus. Statt Leistung an Ergebnissen zu messen, beurteilt man sie an der Anwesenheit. Mit der Wirklichkeit passt das schon lange nicht mehr zusammen, aber die Geisteshaltung ist geblieben," sagt Thomas Moldzio. Er plädiert für eine Ergebniskultur, die man auch Vertrauenskultur nennen könnte. Mitarbeiter in vielen Bereichen der Wirtschaft müssten nicht Tag für Tag und Stunde für Stunde permanent geführt werden.

Die Skepsis gegenüber Führung in reduzierter Arbeitszeit wird von Arbeitgebern zum Teil auch mit Branchenspezifik begründet. Moldzio leugnet unterschiedliche Anforderungen nicht; sie seien allerdings weniger branchen- als positionsabhängig. Nicht immer werde die Antwort nur in einer für eine begrenzte Dauer reduzierten Arbeitszeit bestehen. "Manchmal ist ein Co-Leitungsmodell die Lösung. Dabei teilen sich zwei Führungskräfte die Arbeit. Das bietet zudem die Chance, noch zögernde obschon geeignete Kandidaten mit Führungsaufgaben zu betrauen. Erfahrungen im Gesundheitswesen untermauern das Potenzial dieses Modells."

Wie flexibel FIRA verstanden und eingesetzt werden kann, bestätigt auch der Fall von Lorenz Meier. Er war eigentlich der perfekte Manager für ein neues Firmenprojekt, aber neben seiner Arbeit als Abteilungsleiter kam das nicht in Frage. Informationen über FIRA brachten seinen Arbeitgeber auf die Idee, die Führungsaufgaben im Bereich anders zu ordnen (Delegationsmodell) und Lorenz Meiers Arbeitszeit auf dieser Position dadurch stark zu reduzieren. Der Weg zum "Zweitjob"-Projektmanager war damit für Meier frei, seine Führungstätigkeit im Bereich verlor er nicht aus den Augen.

Noch stark unterschätzt wird der Bedarf an Weiterbildung im Kontext mit Arbeit 4.0. Wo bisher der Bachelor noch reichte, wird in Zukunft oft ein Master oder eine andere Zusatzqualifikation erforderlich sein. Führungskräfte davon auszuschließen wäre irrational. Ihnen das als Privatsache zu überlassen, die sie mal eben in ihrer Freizeit erledigen, birgt gesundheitliche Risiken. FIRA verspricht Thomas Moldzio zufolge auch in diesen künftig zunehmenden Fällen Lösungsmöglichkeiten.


Fußnoten:

(*) Veranstalter der Tagung "Beziehung 4.0 - macht Digitalisierung alles besser?" ist die Landesgruppe Baden-Württemberg des Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP)
http://www.bdp-bw.de/aktuell/2017/2017_ltp_ueberblick_wsinfos.html

(**) Alle Namen im Text von der Redaktion geändert.


Weitere Beiträge zum Landestag der Psychologie 2017 "Beziehung 4.0 - macht Digitalisierung alles besser?" am 8. Juli in Stuttgart im Schattenblick unter:
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8. Juli 2017


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