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INTERVIEW/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Sowohl als auch (SB)


Horizonte der Sozialen Arbeit in Europa

Gespräch mit Franz Hamburger am 14. September 2012 in Hamburg



Dr. Franz Hamburger, emeritierter Professor für Erziehungswissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, widmete sich auf dem 8. Bundeskongress Soziale Arbeit in Hamburg mit dem Angebot des Workshops "Soziale Arbeit im Schatten des 'Schirms'. Abbau des Sozialstaats, der Widerstand sozialer Bewegungen und die Diskurse der Sozialarbeit" einem seiner thematischen Schwerpunkte, der Erforschung der Sozialen Arbeit in Europa. Im Anschluß beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen nach den Entwicklungsperspektiven der Sozialen Arbeit über die Bundesrepublik hinaus.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Franz Hamburger
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Die Workshops auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit werden auf Initiative derjenigen angeboten, die sie organisieren und leiten. Wie ist es zu diesem Workshop gekommen?

Franz Hamburger: Ich war mitverantwortlich für den Bundeskongress 2001, in dem Europa das Schwerpunktthema bildete. Das geschah nicht zufällig, denn ich war über längere Zeit in die Kooperation mit Kollegen aus Europa involviert, und das hatte ich fortgesetzt. Ich habe dabei erkannt, daß die Einsichten, die man gewinnt, indem man in andere Länder geht und dort diskutiert, tatsächlich die Einsichten aus dem nationalen Rahmen übersteigen. Diesen Erkenntnis- und Erfahrungszuwachs sollte man unbedingt nutzen. Deswegen habe ich diese Arbeitsgruppe gemeinsam mit Gunther Graßhoff angeboten.

Es ist im Moment auch wichtig, die spezifisch deutsche Wahrnehmung der europäischen Entwicklung zu verändern, zu beeinflussen und zu kritisieren, weil diese Wahrnehmung aus dem Blickwinkel des dominanten Landes in Europa resultiert. Die Problemstellungen, die hierzulande diskutiert werden, nehmen wenig Rücksicht auf die Entwicklungen in anderen Ländern. Deswegen muß man diesen Punkt bei einem solchen Kongreß auch explizit hervorheben.

SB: Haben Sie, bezogen auf Europa, Vergleiche angestellt, wie sich die Situation in anderen Ländern ausnimmt? Sind die Verhältnisse ähnlich, oder kann man eher sagen, daß die Sozialarbeit in Deutschland vergleichsweise privilegiert ist?

FH: Sie ist auch in anderen Ländern privilegiert. In Norwegen und Schweden steht sie sicher auf einem höheren Niveau als in anderen Ländern. Diese Differenzen gehen quer durch Europa und, was besonders interessant ist, auch quer durch die Regionen. Der Blick auf die Territorien, vor allem in Hinsicht auf Entwicklungen, die gleichsinnig sind, ist sehr wichtig. Der Neoliberalismus hat Europa erobert, und die entsprechenden Finanzströme diktieren die politischen Entscheidungen, die dafür sorgen werden, daß Europa entdemokratisiert wird. Die Schwierigkeit, die sich daraus ergibt, hat ein Kollege heute in seinem Vortrag aufgezeigt, daß nämlich auch die Identifikation mit Europa oder mit dem Nationalstaat gleichermaßen einer kritischen Betrachtung nicht mehr standhalten.

Natürlich fragt sich dann jeder, womit kann ich mich heute noch identifizieren, wenn nicht nur mit mir selber. Dieser Individualismus ist ziemlich vorangeschritten, er hat aber auch eine produktive Seite. Es fehlt jedoch eine Kollektivität, auf die hin ich mich verstehen kann. Da wird der Nationalstaat zu Recht kritisiert. Europa ist nicht haltbar, und die Welt ist zu abstrakt, um sich mit ihr zu identifizieren, aber in Form der Menschenrechte ist es möglich. Auf sie kann man sich als eine Universalität durchaus beziehen.

SB: Sie haben im Ankündigungstext sehr schön gesagt, daß die Argumentation gegen das Auseinanderdividieren der Armen gestärkt werden muß. Sehen Sie so etwas wie ein kollektives Subjekt in der europäischen Armut?

FH: Ja, aber natürlich nur abstrakt. In den Armen sehe ich dieses kollektive Subjekt noch sehr viel stärker als in der Sozialarbeit. Denn die Sozialarbeit kann sich nicht als Akteur verstehen, der nur das Gute will. Ich registriere hier bei dem Kongreß einen großen Mangel an Selbstkritik. Sozialarbeit bedeutet vielfach nur Kontrolle. Sie ist vielfach etabliert, abgestumpft und routiniert, und dann muß man sich, wenn man schon hohe Ansprüche vertritt, auch selber kritisieren. Daß man diese Ansprüche im Namen der Armen oder seiner Klienten vertritt, ist die eine Seite, aber man darf sich nicht mit diesen Ansprüchen identifizieren, sondern muß die Sozialarbeit auch als Teil des unterdrückerischen, herrschaftlichen, gouvernementalen Systems begreifen. Das gilt es in meinen Augen wachzuhalten.

SB: Schon in den 60er und 70er Jahren war man sich darüber im klaren, daß die Sozialarbeit einen Reparaturbetrieb des Kapitalismus darstellt. Dieser Gedanke ist heute nicht mehr so präsent, aber gleichzeitig ist das Selbstverständnis der Sozialarbeit als Profession gewachsen. Wächst damit auch die Gefahr, daß sich eine Professionalisierung herausbildet, die sozialtechnokratische Züge annehmen könnte?

FH: Natürlich. Die Professionalisierung ist in sich ambivalent. Hans Kirsch hat immer darauf hingewiesen, daß die Wissenschaft in ihrer Anwendung sehr schnell eine Technologie wird, ohne daß man es merkt. Ich denke, nur wenn man sich in die Risiken offener Situationen begibt, kommt man nicht darin um. Das ist ein Ausspruch aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung, der wirklich zentrale Bedeutung hat. Man muß in der Alltagspraxis immer auch die Risiken einer offenen Situation wagen, weil man den Klienten sonst abgeschlossene Handlungsweisen auferlegt. Diese Selbstkritik, natürlich mit methodischer Kompetenz kombiniert, stellt die Art von Profession dar, die Sozialarbeit stark macht.

SB: Wir haben im Workshop Vorträge zum Thema Sozialarbeit von Wissenschaftlern gehört, aber nicht von Sozialarbeitern. Wie würden Sie das Verhältnis von Wissenschaft und Sozialer Arbeit bewerten, zumal die Praxis ganz andere Kriterien vorgibt als die Evaluation vor dem Computer?

FH: Ja, diese Art von Evaluation ist auch keine Wissenschaft. Das Erlebnis und die Erfahrung, daß Wissenschaft für die eigene Tätigkeit erhellend ist, markiert natürlich den Anspruch, unter den sich auch die Wissenschaftler stellen müssen in der Art, wie sie ihre Wissenschaft betreiben und darstellen. Daß das nicht immer gelingt, ist Teil der Realität, und das müssen die Wissenschaftler in ihrer Selbstkritik immer beachten, wenn sie zum Beispiel überflüssigerweise komplizieren. Es gibt eine Komplikation, die in der Sache liegt und die man nicht vereinfachen kann. Andererseits gibt es aber auch viele Unsicherheiten, aus denen heraus man überkomplex formuliert. Das ist die Differenz, und da, denke ich, kann man mehr machen, als wir bisher geleistet haben.

Allerdings wurden diese Beiträge, die wirklich schwierig sind, von jüngeren Wissenschaftlern gehalten, die eben noch nicht die Souveränität besitzen, ihre Erkenntnisse in einer klareren Form darzustellen, obwohl sie sehr präzise argumentieren können. Das wäre der Weg, aber ich muß für mich persönlich sagen, daß es auch mir nur ab und zu gelingt, wirklich präzise und trotzdem sehr klar zu sprechen und zu formulieren.

SB: Gestern hat Michael Winkler ein Impuls-Referat gehalten, in dem er die Idee des Sozialen ambivalent auch als möglichen Ausgangspunkt für ein Verfügungs- oder Administrationsinteresse dargestellt hat. Das würde genau das Gegenteil dessen bedeuten, was ein ethisch anspruchsvoller Sozialarbeiter damit verbindet. Wie haben Sie seine Ausführungen persönlich aufgenommen?

FH: Das war Teil des selbstkritischen Blicks und auch eine Kritik daran, wie wir eine Kongreßrhetorik entwickeln, die wiederum mit dem alltäglichen Leben nichts zu tun hat und auch nur an ein Segment der Sozialarbeit anknüpft. Die Sozialarbeit ist ja durchaus aus sozialen Bewegungen hervorgegangen. Sie muß sich dieser Wurzel stets vergewissern und begreifen, daß sie selbst keine soziale Bewegung ist. Wenn man nur in die Sprache der sozialen Bewegungen oder der Parteien - der erste Vortrag war ja rhetorisch nichts anderes - einsteigt, dann besteht die Gefahr, daß man sehr pauschal Zusammenhänge skandalisiert, die bei näherer Betrachtung differenzierter zu bewerten sind. Diese Arbeit muß man leisten. In der Praxis einer guten Sozialarbeit bezieht man sich immer sehr angemessen auf den Einzelfall und schafft Freiräume, damit sich Individuen entwickeln können, ohne dabei das System, in dem jedes Individuum steht, zu vergessen. Ich beobachte oft gute Sozialarbeit, die dazu in der Lage ist. Beim Kongreß besteht die Gefahr, daß man das nur deklamatorisch macht. Indem Herr Winkler fragte: Was ist das Soziale? schuf er ein Gegengewicht dazu. Die Gesellschaft wird vor allem durch das Geld zusammengehalten. Wir dürfen da keine Dämonisierungen betreiben, wir müssen Kritik üben.

SB: Abschließend noch einmal zum Thema EU. Sie haben angemerkt, daß dieses Thema mit einem einzigen Workshop doch unterrepräsentiert war. Was wären sinnvolle Ergänzungen zu diesem Themenfeld gewesen?

FH: Zunächst müssen wir beobachten, was in Europa insbesondere mit den öffentlichen Haushalten passiert und welche Teile der sozialstaatlichen Aktivitäten sich verändern. Wir sprechen global von einer Reduktion. Diesen Prozeß müssen wir auch in seinen verschiedenen Etappen genauer fassen. Agenda 2010 war in Deutschland so eine Etappe. Gleichzeitig gibt es Verschiebungen von Geldern in andere Bereiche, in denen die Sozialarbeit eher ein Krisengewinner ist. So haben wir mehr Schulsozialarbeiter und Erzieherinnen im Vorschulbereich denn je. Wir müssen diese Entwicklungen in den verschiedenen Ländern sorgfältig und differenziert beobachten.

Das ist das eine, das zweite ist, daß wir die europäische Kooperation der Wissenschaftler und Organisationen stärken müssen. Zum Beispiel habe ich ein Projekt über die transnationalen Netze der Sozialen Arbeit in Europa angestoßen. Es gibt sehr gute Zusammenschlüsse von Fachverbänden im Bereich Migration, Drogenabhängigkeit und Genderentwicklung, die sich in Brüssel organisiert haben. Allerdings gibt es auch die Tendenz, daß sich einzelne Verbände nach einer euphorischen Aufbauphase wieder auf die nationale Ebene zurückziehen oder sich einzelne Akteure wie Caritas und Diakonie zum Teil aus der Vernetzung lösen. Daher ist es wichtig, diese Vernetzung und gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit zu intensivieren. Auch wenn der Kapitalismus noch schlimmer wird, werden wir trotzdem in Europa arbeiten und leben. Wir müssen dann aber Organisationformen finden, die effektiv sind. Und dazu ist eine europaweite Vernetzung sehr wichtig.

SB: Wäre die deutsche Sozialarbeit in diesem Sinne nicht geradezu verpflichtet, in Hinsicht auf die hegemoniale Stellung der Bundesrepublik ein Gegengewicht aufzubauen und etwa in Griechenland und Portugal, wo die Menschen zum Teil nicht einmal Sozialhilfe oder Grundsicherung erhalten, initiativ zu werden?

FH: Das ist die Frage, an der sich die Geister scheiden, oder anders ausgedrückt, ob die deutsche Sozialarbeit ihre Interessen in Brüssel vertritt, was sie teilweise mit den Wohlfahrtsverbänden auch getan hat. Sie wollte ihre Form der Sozialarbeit in Brüssel retten. Das ist vielleicht legitim, aber die andere Frage ist, ob sie die Gelder, die sie hat - sie ist nämlich nach wie vor reich - dazu benutzt, die Fahrtkosten der Leute aus Ungarn oder Polen zu übernehmen. Das scheint mir wichtig zu sein, denn da wird das Teilen konkret.

SB: Herr Hamburger, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:
Bisherige Beiträge zum 8. Bundeskongreß "Soziale Arbeit" im Schattenblick unter INFOPOOL → -> SOZIALWISSENSCHAFTEN ->→ REPORT:

BERICHT/013: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Profession und Fragen (SB)
BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)
BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)
BERICHT/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Verlierer, Profitierer (SB)
BERICHT/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Nach der Decke strecken... (SB)
BERICHT/018: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Widerspruch und Praxis (SB)
BERICHT/020: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 1 (SB)
BERICHT/021: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 2 (SB)
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)
INTERVIEW/006: Quo vadis Sozialarbeit? - Zeitgemäß human? (SB)
INTERVIEW/007: Quo vadis Sozialarbeit? - Ohne Netz mit doppeltem Boden (SB)
INTERVIEW/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aber zusammen (SB)
INTERVIEW/009: Quo vadis Sozialarbeit? - Kontrollvorwände (SB)
INTERVIEW/010: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aufs Erbe verlassen? (SB)
INTERVIEW/011: Quo vadis Sozialarbeit? - Der Abstand wächst (SB)
INTERVIEW/012: Quo vadis Sozialarbeit? - Auf der Rutschbahn (SB)

30. November 2012