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INTERVIEW/019: Ungleichheit sozial - Primat der Politik? Prof. Dr. Anja Weiß im Gespräch (SB)


"Im Begriff der Gleichheit ist schon Normatives enthalten."

Gespräch mit der Soziologin Prof. Dr. Anja Weiß am 20. März 2014 in Hamburg



In der Ungleichheitsforschung, einem der klassischen Themenfelder der Soziologie, werden neue Wege beschritten. Der forschende Blick richtet sich weg vom Nationalen auf eine als "Weltgesellschaft" gedachte internationale Staatengemeinschaft. Über "Die Zukunft globaler Ungleichheit" diskutierten in einer Veranstaltung am Hamburger Institut für Sozialforschung am 20. März 2014 Prof. Dr. Heinz Bude und Prof. Dr. Anja Weiß. [1]

Frau Prof. Anja Weiß, Makrosoziologin an der Universität Duisburg-Essen mit dem Schwerpunkt Transnationale Prozesse und Analyse sozialer Lagen in der Weltgesellschaft plädiert seit Jahren für einen methodologischen Kosmopolitismus in der Soziologie.

Im Anschluß an die Podiumsdiskussion beantwortete sie dem Schattenblick einige Fragen.

Prof. Dr. Anja Weiß im Porträt - Foto: © 2014 by Schattenblick

Prof. Dr. Anja Weiß
Foto: © 2014 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Ungleichheitsforschung als Teilbereich der Soziologie - wann und in welchem Kontext ist das entstanden?

Anja Weiß (AW): Das ist ein klassisches Thema der Soziologie. Ungleichheitsforschung geht auch auf Karl Marx und Max Weber zurück, die gab es sozusagen schon, bevor es die Soziologie gab. Die frühesten soziologischen Klassiker haben sich immer mit Ungleichheit beschäftigt.

SB: Das heißt, das Thema ist nicht neu, höchstens die Benennung oder der Fokus darauf?

AW: Ja, daß man das Ungleichheitsforschung und nicht Klassenanalyse nennt, ist vielleicht etwas, was in den 1950er Jahren entstanden ist.

SB: Wem nützt Ungleichheitsforschung und wer profitiert davon?

AW: Das ist immer die Frage, wem nützt Forschung? Da braucht man nicht auf das Thema Ungleichheit abzuheben.

SB: In der ganzen Debatte heute klang auch die Unterscheidung zwischen dem deskriptiven bzw. analytischen Aspekt von Ungleichheitsforschung oder Forschung überhaupt an und dem normativen. Ich hatte den Eindruck, daß gerade auch in Ihrer Argumentation der normative Aspekt zum Tragen kommt?

AW: Eigentlich erhebt die Soziologie den Anspruch, deskriptiv und nicht oder zumindest von normativen Betrachtungen getrennt zu argumentieren. Im Begriff der Gleichheit ist ja schon Normatives enthalten, es geht also nicht darum, Normatives zu verbannen, sondern es reflektiert zu verwenden. In der Ungleichheitsforschung gibt es intensive Debatten darüber, daß Fragestellungen eben auch damit zu tun haben, welche Position man im sozialen Raum einnimmt und inwiefern eine Mittelschichtssoziologie es methodisch überhaupt hinbekommen kann, Ungleichheitsforschung zu betreiben.

SB: Marx formuliert in seiner Kritik am Gothaer Programm den Satz: "Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen." Beschäftigt sich die Soziologie auch mit diesem Verhältnis von Ungleichheit und Unvergleichbarkeit, die ja in dem Zitat anklingt?

AW: Damit beschäftigt sich die Philosophie. Die soziologische Ungleichheitsforschung beschäftigt sich mit sozial verursachten Ungleichheiten, in dem Wissen, daß es natürlich auch andere Ungleichheiten und auch Heterogenitäten geben kann. So würden wir ja verschiedene Berufskulturen nicht als ungleich sehen, sondern als sozial differenziert. Und es gibt eine große konkurrierende Theorie, die für viele Gegenstände auch sehr sinnvoll ist, die Differenzierungstheorie, die die Ausbildung von - vereinfacht gesagt - inhaltlich ungleichen Sphären des Sozialen anschaut.

SB: Der Workshop kontrastiert in seinem Titel zunehmende nationale Ungleichheit mit einem Zuwachs von globaler Gleichheit. Ich hatte in der Diskussion das Gefühl, daß Sie dieser Argumentation nicht folgen.

AW: Ja, das ist meiner Ansicht nach nicht gedeckt. Man muß ja immer auch jenseits der Beschreibung einmal fragen, hängt das überhaupt miteinander zusammen und werden auf nationaler Ebene nicht häufig Artefakte gemessen? Was bedeutet es, wenn ich den Mittelwert eines Staates finde, der nur auf dem Papier existiert? Was bedeutet es, wenn ich sage, in Burundi ist die Lebenserwartung gesunken? Das hat gar nichts mit Burundi zu tun, sondern mit der AIDS-Pandemie. Da werden Sachen künstlich nationalstaatlich zugerechnet, die sehr wenig mit den Staaten zu tun haben. Und dann bildet man noch einen Mittelwert. Das ist eigentlich total absurd.

SB: Die Veranstaltung hätte statt 'Die Zukunft globaler Ungleichheit' auch 'Zukunft der Gleichheit' heißen können. Bedeutet die Wahl des Titels aus Ihrer Sicht - Sie haben ihn ja nicht gemacht und auch sicherlich nicht zu verantworten - vielleicht auch einen Paradigmenwechsel weg vom Gedanken an eine - allerdings noch zu schaffende - Chancengleichheit hin zur Akzeptanz oder bloßen Verwaltung und Verwaltbarkeit von Ungleichheit?

AW: Nein. In der Soziologie verwendet man seit langem den Begriff der Ungleichheit, weil man eigentlich normativ offenhält, was jetzt gut oder schlecht ist und man eben schlicht ein Stück weit beschreibt, was sozial verursachte Ungleichheiten sind. Das heißt, für den Workshop wurde ein Begriff verwendet, den wir in der Soziologie oder den Sozialwissenschaften so verwenden. Wenn man einen umfassenderen Begriff wählen wollte, würde man wahrscheinlich von 'Zukunft der Gerechtigkeit' sprechen. Dann bewegt man sich aber auf der Ebene der philosophischen Diskussion.

SB: Frau Prof. Weiß, wir bedanken uns für das Gespräch.


Fußnote:
[1] Siehe den Bericht zur Podiumsdiskussion im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
http://schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0028.html

6. April 2014