Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT


INTERVIEW/031: Krieg um die Köpfe - Renaissance der Gewaltpsychiatrie ...    Dr. Almuth Bruder-Bezzel im Gespräch (SB)


Ärzte und Therapeuten - Maschinengewehre hinter der Front

Interview am 7. März 2015 an der Freien Universität Berlin


Dr. Almuth Bruder-Bezzel ist Diplom-Psychologin und Psychoanalytikerin in eigener Praxis sowie Dozentin, Lehranalytikerin und Supervisorin am Alfred-Adler-Institut in Berlin. Sie hat zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten, Vorträge und Buchveröffentlichungen vor allem zur Geschichte und Theorie der Individualpsychologie Alfred Adlers vorgelegt, daneben zusammen mit Klaus-Jürgen Bruder Publikationen zur Jugendkultur. Zudem hat sie Aufsätze und Vorträge zum Themenbereich Psychoanalyse und Arbeitslosigkeit sowie Prekariat veröffentlicht. Auf dem diesjährigen Kongreß der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) hielt sie einen Vortrag zum Thema "Traumatherapie als Kriegsdienst. Zur Geschichte der Militärpsychiatrie und Psychotherapie."

Wie die Referentin eingangs ausführte, trat im September 2013 eine Vereinbarung zwischen der Psychotherapeutenkammer und der Bundeswehr in Kraft, die eine Psychotherapie für Soldaten in privaten Praxen im Erstattungsverfahren ermöglicht. Dies ist mit Fortbildungen verbunden, die eine positive Einstellung zur Bundeswehr vermitteln sollen. Solche Veranstaltungen finden innerhalb der Kaserne statt und sind gut besucht. Dagegen haben die Teilnehmenden am NGfP-Kongreß im März 2014 protestiert, weil sie darin eine kritiklose Unterstützung der Kriegspolitik sahen. Der Kammerpräsident, Prof. Richter, habe versprochen, daß Posttraumatische Belastungsstörungen heilbar seien und die Soldaten durch eine Psychotherapie wieder einsatzfähig würden.

Wie die Geschichte der deutschen Militärpsychiatrie und -psychotherapie seit dem Ersten Weltkrieg belegt, war die Indienstnahme der Medizin für den Krieg unzweifelhaft. Diese Geschichte müsse erzählt werden, da sie sich wiederholt hat und in Zukunft wiederholen könne, so die Referentin. Die Vertreter der genannten Berufsstände hätten sich in allen Kriegen stets staatstreu, nationalistisch, antirevolutionär und antidemokratisch den herrschenden Interessen unterworfen. Die Behörden und Militärs stellten nicht die Ärzteorganisationen unter Befehl, es waren vielmehr diese selbst, die ihre Dienste von sich aus anboten und zu größerer Schärfe gegen Patienten und sogenannte Simulanten drängten.

Dabei standen die wissenschaftlichen Debatten und Theorien von Traumen und Kriegsbeschädigungen wie auch die Ziele und Methoden der Traumabehandlung ganz im Dienst der Kriegsführung. Je länger, verlustreicher und aussichtsloser der Krieg wurde, desto mehr stieg der Druck auf die Soldaten, an die Front zurückzukehren, und desto weniger wurden sie entschädigt. Der Krieg wurde zum Lehrmeister der Psychiatrie und bot ihr die Chance, als Wissenschaft und Profession anerkannt zu werden. Sie trug entscheidend zur Pathologisierung sozialer Probleme und Umdeutung struktureller Krisenphänomene in medizinische Krankheitsbilder bei. Die Medizinpsychiatrie orientierte sich stets an den Vorgaben des Staates, nicht jedoch an den Erfordernissen der Patienten.

Der Erste Weltkrieg wurde häufig als das traumatische Erlebnis des Frontsoldaten geschildert, analysiert, dokumentiert und künstlerisch verarbeitet. Schwere traumatische Reaktionen traten bereits ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn auf und wuchsen rasant an. Schätzungen gehen von 200.000 deutschen Kriegsneurotikern aus. Der organische Ansatz des Traumas ging von einer Verletzung des Zentralnervensystems als "Granatschock" oder "Schreckneurose" aus und behandelte diese mit Erholung und Bäderkuren, schrieb Soldaten dienstunfähig und befürwortete Entschädigungen.

Das massenhaften Auftreten von Kriegsneurosen beförderte jedoch eine andere Erklärung, die an die Erfordernisse der Kriegsführung angepaßt war. So wurde die organische Theorie ab 1916 zugunsten der psychologischen und soziologischen Erklärung zurückgedrängt, die Wiedereinsatzfähigkeit durch Behandlung versprach. Die sogenannten Psychogeniker diagnostizierten Hysterie, die Ausdruck einer schlechten psychischen Disposition oder Willensschwäche sei. Das äußere Trauma wurde entweder geleugnet oder nur als Auslöser mit geringer Bedeutung angesehen. Das galt jedoch nur für einfache Soldaten, denn bei Offizieren sprach man von Neurasthenie oder Erschöpfungssyndrom und erklärte dies mit erhöhter Verantwortung.

Die soziologische Erklärung fügte das Begehren von Entschädigung und Rente hinzu und sprach von Flucht in die Krankheit oder Kriegsunlust. So dämmten die Ärzte Rentenansprüche ein und versuchten, die Geschädigten haftbar zu machen. Bei der Musterung hatte man anfangs die sogenannten Psychopathen zurückgewiesen, später verfuhr man umgekehrt: Sie wurden als Kanonenfutter an die Front geschickt, um die sogenannten wertvollsten Mitglieder der Gesellschaft nicht weiter zu verheizen. Dennoch klagten die Psychiater zu Ende des Krieges, daß dieser eine negative Auslese hervorgebracht habe.

Die Behandlung der Kriegsneurosen war brutal, was sich noch steigerte, je aussichtsloser der Krieg wurde. Den Ärzten war alles erlaubt, sie trieben die Soldaten mit Angst und Schrecken an die Front zurück. Folterbehandlungen wie Isolation, Deprivation, Elektroschocks, Erstickungsangst, Erniedrigung, Zwangssuggestion und Zwangsexerzieren waren gang und gäbe. Der Arzt sollte den Willen zur Gesundheit erzwingen, Heilung möglichst in einer Sitzung herbeiführen. Die Ärzte waren die Maschinengewehre hinter der Front, wie Adler (1919) und Freud (1920) es ausdrückten. Die Erfolge waren jedoch äußerst beschränkt, da nur eine verschwindende Anzahl behandelter Soldaten 1918 noch die Frontdiensttauglichkeit erreichte.

Angesichts dieses Mißerfolgs bot sich die Psychoanalyse als Retterin in der Not an. Wie sich zu Ende des Krieges zeigte, unterschieden sich die Psychoanalytiker in den Diagnosestellungen und Zielen nicht von den Psychiatern, wenngleich ihre Behandlungen milder waren. Auch sie leugneten den Kausalzusammenhang und eine direkte Pathogenese durch das Trauma und griffen statt dessen auf eine persönliche Disposition in der Kindheit zurück, die der Krieg nun aktiviert habe, und auch sie sparten nicht mit der Bezichtigung von Kriegsneurotikern. Als Ende September 1918 alle Zeichen auf ein Ende des Krieges und einen pazifistischen Umsturz hinwiesen, fand in Budapest eine internationale psychoanalytische Konferenz unter Anwesenheit hoher militärischer Gäste statt. Alle führenden Analytiker waren dienstverpflichtet und hatten leitende Positionen in Speziallazaretten eingenommen. Sie stuften Kriegsneurosen als Angst- oder Konversionshysterie auf Grundlage narzistischer Selbstliebe ein, die in einen infantilen Narzismus ausarte. Dabei sei das primäre Krankheitsmotiv das Vergnügen, im sicheren Hort der kindlichen Situation zu verbleiben, was eine bedingungslose Hingabe zugunsten der Gesamtheit verhindere und die Bereitschaft zum Töten und Sterben ausschließe.

Im NS-Staat standen die Militärpsychiater bald wieder stramm, um den kommenden Krieg vorzubereiten. Ab 1934 wurde die Militärärztliche Akademie mit Wehrpsychiatrie und -psychotherapie aufgebaut, ab 1937 folgten die beratenden Militärpsychiater, die meistens prominente Ordinarien waren. Auf Tagungen wurden Maßnahmen gegen Psychopathen, Asoziale, Gemeinschaftsschädlinge diskutiert. Zu diesen Maßnahmen gehörten Meldepflicht, Arbeitsdienst, Sterilisation und Vernichtung im KZ. Zwischen 1933 und 1939 wurde ein Großteil dieser Repression unter maßgeblicher Hilfe der Psychiater praktisch umgesetzt.

Im Zweiten Weltkrieg traten die Kriegsneurosen zuerst langsam und weniger heftig auf. Erst ab 1940 gab es die klassischen Symptome wie Kriegszitterer oder psychogene Überlagerungen von realen Verwundungen, was allerdings auch die Folge leistungssteigernder Aufputschmittel wie Pervitin und Preludin war, die man den Soldaten verabreicht hatte. Ab Frühjahr 1941 löste die Vorbereitung des Angriffs auf die Sowjetunion große Furcht aus. Im russischen Winter 1941 und 1942, dann in Stalingrad 1942/43, stiegen die Zahlen der schweren Symptome wie auch der Verweigerungen, Selbstverstümmelungen und Selbsttötungen. Dies steigerte sich noch in den letzten Kriegsjahren. Bis 1944 waren es schätzungsweise 20.000 Kriegsneurotiker, um die Jahreswende 1944/1945 über 100.000.

Aufgrund des Mißerfolgs der harten Methoden und aus Angst vor Revolten waren die NS-Behörden zunächst vorsichtiger als die Psychiater selbst. Zudem sorgte die biologische Ausrichtung der Medizin für eine gewisse Abgrenzung von den Neuropsychiatern. Mit den Rückschlägen an der Ostfront und der Barbarisierung des Krieges endete diese Zurückhaltung. Nun wurden wieder aggressive Methoden wie Insulinschock, Krampfbehandlung und Elektroschock eingesetzt. Ab 1942 wurde die Meldepflicht für psychogene Reaktionen eingeführt, 1945 eine Politik der Furcht durchgesetzt: Speziallazarette, Strafbataillone, KZ, Todesurteil, woran Kriegspsychiater maßgeblich beteiligt waren. Zwischen Januar 1944 und April 1945 wurden schätzungsweise 13.000 Todesurteile wegen Wehrkraftzersetzung ausgesprochen. Die hohe Zunahme der affektiven Störungen, die Häufung der Therapieresistenzen und die der Selbstverstümmelungen zeigt, daß die Neuropsychiater mit ihren brutalen Methoden erneut versagten: Der Schrecken der Therapie konnte den Schrecken der Front nicht übertreffen, so Bruder-Bezzel.

In der Zwischenkriegszeit organisierten sich ab 1933 die vorwiegend tiefenpsychologisch ausgerichteten Therapeuten als Deutsche Seelenheilkunde, und 1936 wurde das sogenannte Göring-Institut gegründet. Dieses kümmerte sich im Krieg vornehmlich um die Offiziere der Luftwaffe, für die die Aversionstherapie nicht in Frage kam. Man behandelte mit Tiefenpsychologie, Hypnose, Gesprächstherapie und autogenem Training, das dort entwickelt wurde. Im Laufe des Krieges schwenkten auch die Psychotherapeuten um und griffen zu Abschreckung, Aufputschmitteln und Unterbringung in KZ-ähnlichen Lagern.

Aus den Kriegen der Gegenwart kehren traumatisierte Soldaten zurück, deren Symptome sich mit der Häufigkeit der Einsätze verschlimmern. Bei sogenannten friedensstiftenden Einsätzen geht man nach offiziellen Angaben von 3 bis 8 Prozent Traumatisierten, bei Kriegseinsätzen von 10 bis 18 Prozent aus, wobei die Angaben beträchtlich schwanken. Zur Prävention gehören Auslese, Umgang mit Streß und realitätsnahe Ausbildung wie etwa im Gefechtsübungszentrum (GÜZ). Im Einsatz erfolgt die Betreuung durch Gespräche mit dem Ziel des Verbleibs im Einsatzland. Zur Nachbereitung werden dreitägige Seminare durchgeführt. Hinzu kommen Schnelltherapien und vermutlich wie schon während des Einsatzes Psychopharmaka.

In der US-Universität Harvard werden neue Wirkstoffe getestet, die Erinnerungen auslöschen sollen. Soldaten unterliegen bei zivilen Therapeuten strikter Geheimhaltungspflicht, dürfen also über keine Details ihres Einsatzes sprechen. Das von Militärpsychiatern vorgehaltene neue Konzept, den kurativen Zielen gegenüber der Wiederherstellung der Einsatzfähigkeit den Vorrang einzuräumen, ist zweifelhaft und allenfalls solange ein Thema, bis eskalierende Kriege unter Beteiligung der Bundeswehr einen forcierten Nachschub an Soldaten erzwingen.

Im Anschluß an ihren Vortrag beantwortete Frau Dr. Bruder-Bezzel dem Schattenblick einige Fragen zu diesem Themenkomplex wie auch ihren Erfahrungen und Einschätzungen im Umgang mit der berufsständischen Problematik.


Beim Vortrag am Stehpult - Foto: © 2015 by Schattenblick

Almuth Bruder-Bezzel
Foto: © 2015 by Schattenblick

Schattenblick (SB): Sie erwähnten in Ihrem Vortrag, daß Sie in Ihrer eigenen Ausbildung mit Walter Ritter von Baeyer, einem ehemaligen Kriegspsychiater des NS-Staats aus Heidelberg, als Hochschullehrer konfrontiert waren. Hat das dazu beigetragen, Ihre Kritik am traditionellen Verständnis und Handeln dieses Berufsstands zu schärfen?

Almuth Bruder-Bezzel (ABB): Ich habe Psychologie in einer Zeit studiert, als die Psychiatrie noch generell in der Kritik stand. Von der Vergangenheit des betreffenden Hochschullehrers wußten wir damals nicht viel, nur daß er in der Kriegszeit in irgendwelche Projekte involviert war. Außerdem war er CDU-Mitglied, und auch seine Frau trat sehr kämpferisch in dieser Partei in Erscheinung. Viel habe ich von ihm nicht gelernt. Zuletzt hat er meine Prüfung abgenommen, aber sein Einfluß auf meine Entwicklung war insgesamt nur gering.

SB: Nicht wenige Menschen haben nach dem Krieg mehr oder minder große Teile ihrer Geschichte verheimlicht und dieselben Ämter bekleidet, wie schon während des NS-Staats. Drang die Vergangenheit dieses Hochschullehrers im Unterricht in keiner Weise durch?

ABB: Es verhielt sich offenbar so, daß er in seiner früheren Tätigkeit unter anderem auch Umgang mit KZ-Häftlingen hatte. Während meiner Studienzeit hat er jedoch den Traumabegriff im positiven Sinn verwendet und sich in der Wiedergutmachungsfrage engagiert. Über seine Vergangenheit habe ich erst neuerdings ausführlicher gelesen.

SB: Wie sind Sie Adlerianerin geworden? Geschah es umständebedingt oder stand eine absichtliche Entscheidung dahinter?

ABB: Ich habe meine Diplomarbeit über die sozialdemokratische Erziehung in Wien geschrieben, und darin kam auch Adler vor. So gesehen besaß ich eine gewisse Vorkenntnis. Danach habe ich mich weiter für Geschichte wie auch Pädagogik interessiert, und in der Frage der Pädagogik schien mir Adler praktikabler zu sein als Freud. Ich habe die Ausbildung unter anderem deswegen sehr spät absolviert, weil ich einerseits zu der Zeit arbeitslos war und andererseits die Freudsche Ausbildung nicht machen wollte.

SB: Ihrem Vortrag zufolge war die Psychoanalyse im Umgang mit Kriegsneurosen zunächst etwas weniger aggressiv als die Psychiatrie. Später schloß sie jedoch auf und übernahm deren Funktion. Läßt sich die Psychoanalyse vom psychiatrischen Standpunkt, den Sie scharf kritisiert haben, überhaupt abgrenzen? Gibt es strukturelle Unterschiede oder ist es eine Frage der Persönlichkeit der Therapeutin oder des Therapeuten?

ABB: Meine Kritik an der damaligen Psychoanalyse besteht erstens darin, daß sie den Kausalzusammenhang mit dem Trauma nicht mehr thematisiert, ja geleugnet hat, und daß man nach ihrer Lesart durch die Kindheit und nie durch spätere Ereignisse krank wird. Sie verfolgte zudem das gleiche Ziel wie die Psychiatrie, nämlich die Kriegstauglichkeit wieder herzustellen. Das finde ich sehr erschütternd. Als ich mich mit dem Thema beschäftigte, fiel mir ein, daß ich den psychoanalytisch orientierten Ernst Federn einmal kennengelernt hatte. Er war der Sohn des gleichnamigen herausragenden Psychoanalytikers, der acht Jahre im KZ Buchenwald verbracht hatte. Von dem Sohn erfuhr ich, daß sich sein Vater später selbst einer Psychoanalyse unterzogen hat. Dabei sagte sein Psychoanalytiker zu ihm, uns interessiert Ihre KZ-Erfahrung überhaupt nicht. Darüber wurde nie gesprochen, sondern nur über seine Kindheit. Das ist doch absurd!

SB: Ihren Worten entnehme ich, daß die lebensgeschichtliche Erfahrung des Patienten oder Klienten eine tragende Rolle in der Therapie spielen müßte.

ABB: Ja, auch die Erfahrungen als Jugendlicher und Erwachsener sind nicht minder bedeutsam. Ich beschäftige mich auch mit Arbeitslosigkeit und Prekariat, und da ist es ganz wichtig, dies einzubeziehen. Natürlich arbeite ich auch psychoanalytisch und lege Gewicht auf die Kindheit, aber dennoch muß die jetzige Situation dringend in die Therapie einbezogen werden.

SB: Nach Ihrem Vortrag kam die klassisch zu nennende Diskussion auf, inwieweit die Psychotherapie nur eine Anpassung an und Eingliederung in die Gesellschaft bewerkstelligt oder ob sie auch eine emanzipatorische Entwicklung einleiten kann.

ABB: Aus meiner Arbeit sind mir durchaus Beispiele von Patienten bekannt, von denen ich sagen kann, daß sie nach der Therapie so gekräftigt waren, daß sie sich auch wehren konnten. Freud hat es als eines der Ziele formuliert, dem Patienten zu helfen, sich gegen bedrückende Lebensverhältnisse zur Wehr setzen zu können. Ich will jetzt nicht sagen, daß es nur darum geht, aber es kann ein wichtiger Punkt sein. Ich erlebe auch immer wieder, daß mir Patienten sagen, ich hatte eine gute Kindheit, meine Mutter war wunderbar. Dann kann es sehr sinnvoll sein, wenn sie doch an diesem Bild zu zweifeln beginnen, ohne daß ich es ihnen suggeriere, und anfangen, über bestimmte Situationen in der Kindheit, die sie auch in der Gegenwart erleben, immer wieder neu nachzudenken.

SB: In der Diskussion wurde vorhin der Einwand vorgebracht, daß Soldaten, die therapeutisch behandelt werden, möglicherweise den Kriegsdienst hinterher verweigern. Dies stelle jedoch eine inakzeptable Form der Beeinflussung dar. Was halten Sie von diesem Argument?

ABB: Das ist eine sehr einseitige Sicht und stellt im Grunde eine Form repressiver Toleranz dar. Bei unserer Arbeit sind wir sehr vorsichtig mit Beeinflussung, weil es für uns selber wie auch für den Betroffenen schädlich sein kann. Wenn man allerdings beispielsweise einen Sexualstraftäter in Therapie hat, ist es klar, daß wir unseren Standpunkt, daß so etwas nicht gut, sondern fehlgeleitet ist, nicht verheimlichen. Auf dieser Basis kann man dann mit dem Klienten arbeiten.

SB: Im Rahmen der Konferenz wird auch über Posttraumatische Belastungsstörungen bei Soldaten diskutiert. In diesem Zusammenhang sprachen Sie von einer Inflation des Traumabegriffs. Inwieweit läßt er sich auf bestimmte Krankheitsbilder anwenden, und wo fängt für Sie der inflationäre Gebrauch des Begriffs an?

ABB: Der Begriff Trauma war in der Psychoanalyse im Zusammenhang mit sexuellem Mißbrauch in der Kindheit gängig. Auch wenn Naturkatastrophen über die Menschen hereinbrachen, wurde von einem Trauma gesprochen. Daß Posttraumatische Belastungsstörungen bei Soldaten mit dem Krieg zusammenhängen, ist ja lange bekannt, auch wenn das heute mitunter wie eine neue Erkenntnis erörtert wird. In der aktuellen Diskussion ist jedoch eine regelrechte Inflation des Traumabegriffs zu beobachten. Ich habe mich gefragt, warum jetzt alle eine Traumatherapieausbildung machen, obgleich der Begriff in der Psychoanalyse lange Zeit nicht mehr verwendet wurde.

SB: Wäre das so etwas wie ein neues Label, das möglicherweise mit dem konkreten Menschen und dessen Leiden gar nicht viel zu tun hat?

ABB: Ja, zumal es in der Psychoanalyse üblich ist, alles mögliche als Trauma zu betrachten. In dem Sinne ist auch eine böse Mutter ein Trauma, aber der Begriff selbst verfließt und ist wenig griffig. Von Krieg ist jedoch in den Reihen der Psychoanalytiker bezeichnenderweise nie die Rede, er wird schlichtweg geleugnet.

SB: Sie vertreten demnach die Ansicht, daß eine soziale Problematik von den Therapeuten in gewissem Ausmaß zu einer psychischen Störung umgedeutet wird?

ABB: Ja, die Umdeutung findet durch die Pathologisierung des Individuums statt, während die kausalen Zusammenhänge mit seinem früheren oder aktuellen Umfeld nicht benannt und einbezogen werden. In einem etwas anderen, aber durchaus vergleichbaren Zusammenhang sprach Thomas Gebauer vorhin in seinem Vortrag über Resilienz im neoliberalen Diskurs der Eigenverantwortung davon, daß Reparaturalmosen gegeben werden, statt die Selbsthilfekräfte zu stärken.

SB: In der historischen Rückschau hatten Sie erläutert, daß die zunehmende Eskalation des Krieges unter anderem auch dazu führt, daß die Therapeuten immer stärker in die Kriegsideologie eingebunden werden. Mit dem Slogan "Wir. Dienen. Deutschland." versucht sich die Bundeswehr seit einigen Jahren ein neues Image zu geben. So wird der Eindruck erweckt, deutsche Soldaten würden unsere Interessen im Ausland vertreten. Steigen dadurch auch die Anforderungen an die Therapeuten seitens der Bundeswehr?

ABB: Die Aufgabe von Therapeuten bei der Behandlung von Soldaten ist aus meiner Sicht die gleiche wie eh und je: Sie müssen wieder einsatzfähig oder im Vorfeld wehrtüchtig gemacht werden. Im letzteren Sinne wird davon gesprochen, die Resilienz zu steigern.

SB: Sie hatten bereits angedeutet, daß Sie eine Zusammenarbeit innerhalb der Strukturen der Bundeswehr auf jeden Fall ablehnen, aber im Falle, daß ein Soldat an Ihre Tür klopft, sich nicht verweigern würden. Was macht den großen Unterschied für Sie aus?

ABB: Der Unterschied ist natürlich, daß der Arbeitgeber wie auch der Geldgeber die Bundeswehr wäre. Das impliziert, daß die Soldaten unter Geheimhaltungspflicht stehen und nicht über alles sprechen dürfen, selbst wenn sie nicht mehr im Dienst sind. Ich unterliege natürlich auch der Schweigepflicht, müßte aber den Truppenarzt über mein Gutachten informieren. Von einer Anonymität meines Patienten könnte also keine Rede sein. Wenn mich ein Soldat um eine Therapie bäte, würde ich mich im Einzelfall nicht verweigern, aber ganz sicher auch nicht vordrängen. Allerdings würde ich keinen Soldaten therapieren wollen, der wieder zurück in den Auslandseinsatz gehen möchte. Man kann sich jedoch nicht von vornherein vornehmen, ihn davon abzubringen, zumal ein solches Maß an Einwirkungsmöglichkeiten ohnehin illusorisch wäre.

SB: Würde für Sie diese Grenze auch dann gelten, wenn jemand den Anspruch erhebt, Sie müßten eine Behandlung aus moralischen oder berufsethischen Gründen durchführen?

ABB: Das ist für mich eine absolute Grenze. Anders als die Ärzte müssen Therapeuten keine Patienten annehmen. Wir sind sogar angehalten, nur solche zu nehmen, mit denen wir auch arbeiten können. Wenn ich bei jemandem das Gefühl habe, das geht nicht, dann arbeite ich auch nicht mit ihm. Von daher haben wir die Freiheit der Wahl.

SB: Sie hatten in Ihrem Vortrag auch geschildert, daß Psychiater und Psychotherapeuten an im Grunde genommen nur als Folter zu bezeichnenden Formen der Behandlung beteiligt waren oder sie vielfach sogar selbst entwickelt haben. Können Sie sich vorstellen, daß eine derartige Entwicklung erneut zum Tragen kommt?

ABB: Ja, davon bin ich überzeugt. Auch wenn die Bedingungen jetzt noch nicht so extrem sind, ist die Grundhaltung der Ärzte doch so, daß sie alles mitmachen würden, zumal ihr Handeln gerechtfertigt wird. So gibt es in der Psychiatrie wieder die Behandlung mit Elektroschocks, und man setzt Psychopharmaka von gravierender Wirkung ein. Ich hatte bereits angedeutet, daß die psychologischen Psychotherapeuten darauf drängen, krankschreiben, Psychopharmaka verschreiben und in Kliniken einweisen zu dürfen, was bisher nur Ärzten vorbehalten war. Daher bin ich der festen Überzeugung, daß ein gewisses kritisches Potential, das die Psychotherapeuten noch haben, dabei verlorengehen wird. Ich mache da nicht mit. Irgendwann muß man eine Grenze ziehen.

SB: Sie haben Ihre akademische Ausbildung in einer Zeit absolviert, als eine kritische Diskussion sehr verbreitet war, sowohl innerhalb der Fachdisziplin als auch gesellschaftlich. Wenn Sie jetzt den Blick auf die heutige Generation von Studierenden werfen, ist da von diesem kritischen Geist noch etwas zu spüren oder hat sich die Situation grundlegend geändert?

ABB: Sie hat sich tatsächlich grundlegend verändert. Mein Mann hat das an der Universität erlebt, und ich war bis vor einiger Zeit auch an der Ausbildung von Psychotherapeuten an unserem Institut beteiligt. Die Medizinalisierung der Psychotherapie hat so zugenommen, daß sich darüber die gesamte Haltung deutlich verändert hat. Natürlich gibt es hin und wieder schöne Erlebnisse mit einzelnen Studentinnen und Studenten, die nachfragen und begierig sind, etwas zu erfahren, weil sie wenig wissen, aber die meisten wollen nur noch konsumieren.

SB: Frau Bruder-Bezzel, vielen Dank für dieses Gespräch.


Fußnote:


Zum Umgang mit psychischen Problemen von Soldaten gestern und heute ihm Schattenblick siehe auch:
Im Namen des Krieges - Selektion traumatisierter Soldaten
http://www.schattenblick.de/infopool/pannwitz/report/pprb0015.html


Bisherige Beiträge zur NGfP-Konferenz in Berlin im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/029: Krieg um die Köpfe - auf die Füße stellen ... (SB)
BERICHT/030: Krieg um die Köpfe - Miles legalitus ... (SB)
INTERVIEW/024: Krieg um die Köpfe - teile und kriege ...    Dr. Moshe Zuckermann im Gespräch (SB)
INTERVIEW/025: Krieg um die Köpfe - Angriff ausgeschlossen ...    Prof. Dr. Klaus-Jürgen Bruder im Gespräch (SB)
INTERVIEW/027: Krieg um die Köpfe - Rückwärts voran ...    Dr. Peer Heinelt im Gespräch (SB)
INTERVIEW/028: Krieg um die Köpfe - Rückwärtsgang, nur schneller ...    Dr. Friedrich Voßkühler im Gespräch (SB)
INTERVIEW/029: Krieg um die Köpfe - Nibelungentreue ...    Jürgen Rose im Gespräch (SB)
INTERVIEW/030: Krieg um die Köpfe - Zum Menschen zurück ...    Christiane Reymann im Gespräch (SB)

18. April 2015


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang